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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 42 - Dezember 1989


Denk ich an Deutschland

von Herbert Erchinger

Auch ich habe die "Erklärung" unterschrieben,weil sie Punkte enthält,die auch ich wichtig finde.
Zuerst also ,wo wir uns einig sind:
Ein Ausverkauf der DDR-Wirtschaft muß verhindert werden. Es darf keinen abhängig machenden "Anschluß" der DDR an die Bundesrepublik geben. Auch die Befürchtungen unserer europäischen Nachbarn müssen ernstgenommen werden. Auch das Stirnrunzeln der 4 Mächte. Ein 4.Reich darf es nicht geben. Daccord, mit diesem plumpen Reizwort ist wohl ein egoistischer Nationalstaat gegen den Rest der Wlt gemeint. Die Zeit der Nationalstaaten ist vorbei und Deutschland hat diese Rolle ausgespielt.

Doch nun die Punkte,wo ich nach längerem Nachdenken Unterschiede sehe. Meine Meinungsbildung ist da noch nicht abgeschlossen. Es ist ja alles im Fluß. Und ich bin mir bewußt, daß es auch ein Konflikt zwischen Kopf und Bauch ist.

Bei mir und vielen anderen hüben wie drüben ist eine elementare Sehnsucht nach Einheit vorhanden. Ich möchte diese Emotionen bei mir und anderen nicht unterdrücken. Auch Emotionen sind ein politischer Faktor. Und ich bin strikt dagegen, das Engagement für die Einheit den Rechten zu überlassen.
Und es ist auch schon erkennbar,daß Dietrich Küssners Erklärung ungewollt Wahlhilfe für die CDU leistet. Auch in den Demonstrationen in Leipzig ist heute (Montag,11.12..) eine ungute Polarisierung erkennbar zwischen denen, die "Deutschland, einig Vaterland" rufen und denen,die "DDR, DDR" skandieren.

Beide Anliegen sind richtig und wichtig.Eigentlich müßten wir als Christen seit Chalzedon (451) gelernt haben, Einheit und Unterschiedenheit zusammenzudenken. Insgesamt habe ich den Eindruck, daß die "Erklärung" eine DDR verteidigt,die es noch gar nicht gibt.
Denn der dornenvolle Weg einer Staatswerdung beginnt dort erst jetzt. Der Verwesungsgeruch des bisherigen Staates ist unüberriechbar. Die DDR war bisher bis in die Fundamente ein Gewaltkonstrukt der SED. Ich habe weiter den Eindruck, daß die Erklärung eine Teilung verteidigt, die von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung abgelehnt wird. Diese Einschätzung verstärkt sich, je mehr Schweinereien ans Licht kommen.

Der schwächste Punkt der Erklärung ist aber der Zweitletzte, "daß Wirtschaftshilfe nur dann angebracht ist,wenn sie von der Regierung der DDR gewünscht wird." Die Regierung der DDR hat für mich bisher kaum eine Legitimation, höchstens die eines Konkursverwalters. Die Menschen in der DDR sind meine Bezugsebene. Sie sollen bestimmen und niemand anders. Deren Organisations- und Institutionsformen sind noch ziemlich ungeklärt und in statu nascendi. Sie könnten uns aber recht ähnlich werden.

Und so verstehe ich auch den moralisch tief begründeten Einheitsvorbehalt unseres Grundgesetzes: Wir im Westen dürfen uns nicht von uns aus endgültig abnabeln und die DDR-Bevölkerung ihrem Schicksal überlassen. Wir haben gemeinsam den Krieg verloren und tragen gemeinsam das Kainsmal des Faschismus.
Die Menschen in der DDR haben noch ihre Option offen und müssen dazu gehört werden,ob sie mit uns unter einem Dach leben wollen oder nicht. Die DDR hat ihre Lebensfähigkeit als demokratischer Staat bisher noch nicht bewiesen.

Ich vergesse auch nicht,daß die Teilung Deutschlands außenpolitisch und besatzungsrechtlich erzwungen und durch Adenauers Westpolitik verfestigt wurde. Wird die Blockteilung Europas überwunden,wird ganz natürlich die Teilung Deutschlands auch überwunden.Und täglich werden in diesen Tagen lange durchtrennte Adern wieder mit Leben gefüllt.

Ich finde daher,die Erklärung bevormundet die Bevölkerung der DDR. Gerade erst beginnt sie sich zu artikulieren, da sagt Dietrich Küssner schon, wos lang geht, zwei Tage nach Öffnung der Grenzen. Aber die DDR-Bevölkerung allein bestimmt, ob es eine deutsche Einheit geben wird und in welcher Form. Wenn sie den eisernen Vorhang zerreißt, dürfen wir keinen neuen knüpfen, auch keinen aus Papier.

Ich selbst bin skeptisch,was die Lebensfähigkeit einer demokratischen DDR ohne gemeinsames Dach mit der Bundesrepublik betrifft. Die Grenze zwischen Lauenburg und Hof mag ja noch angehen. Sie könnte eine Grenze wie bei Bregenz werden, (wenn es gelingt,den Lebensstandard anzugleichen und so den Abwanderungsdruck zu beenden). Aber Berlin? Dort will nun wirklich alles zusammenwachsen vom Wedding bis Rudow.Eine Staatsgrenze am Potsdamer Platz und am Brandenburger Tor wird immer eine eiternde Wunde sein. Die DDR wäre daher als getrennter Staat nur lebensfähig, wenn wir ihr West—Berlin schenken. Die perverse Situation Berlins mit seiner Grenze mitten durchs Herz macht die Einheit zwingend und hat ja auch immer die deutsche Frage offengehalten.Ich jedenfalls stemme mich da nicht einem natürlichen Heilungsprozeß entgegen.

Ein Motiv,das ich in der Erklärung gut verstehen kann,ist die Trauer um den Bankrott des Sozialismus, der ja leider weltweit zu beklagen ist.Aber das ist unser Problem und der Schmerz der Linken in unserem Land. Die Idee des Sozialismus ist tatsächlich ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Die DDR ist da ein denkbar schlechter Brückenkopf. Sie ist Symptom der Krise des Sozialismus und nicht Hoffnungsträger. Und demokratische Sozialisten haben auch selten ihre Hoffnungen an der DDR festgemacht.°
Vielleicht kann ein demokratischer Sozialismus erst wieder entwickelt werden, wenn dieser SED—Staat überwunden ist.

Wachsamkeit ist natürlich angebracht,damit nicht "Wirtschaftsoffensive", sondern Wirtschaftshilfe stattfindet. Das kann nur geschehen, wenn die DDR—Bevölkerung völkerung weiter Subjekt wird und nicht Objekt bleibt. Gemeinsame Kommissionen müssen paritätisch besetzt sein, damit die Bundesrepublik die neu zu schaffenden Institutionen der DDR-Bevölkerung nicht majorisiert.

Übrigens könnte die Überwindung der Teilung auch linke Mehrheiten in Deutschland schaffen und Kohl samt Dregger in Rente schicken. Die Teilung Deutschlands und Europas stimulierte außerdem ständig die rechtsradikale Szene. Damit wäre dann vielleicht auch Schluß. Ich habe keine Angst vor der Einheit.

Ich habe auch nicht vergessen,daß im 19.Sh die Einheit Deutschlands eine Grundforderung oppositioneller Demokraten war. Duodezfürsten,Despoten und Gegenaufklärung speisten sich immer aus Kleinstaaterei und Teilung, vom Wiener Kongreß bis zu Konrad Adenauer. Die Teilung kam immer von rechts, auch 1948.

Schließlich besteht auch ein Zusammenhang zwischen der Teilung Deutschlands und dem Fortbestehen zweier feindlicher Militärblöcke. In der Friedensbewegung haben wir immer das Ziel der Überwindung dieser Militärblöcke gehabt. Das Zusammenwachsen Deutschlands und Europas macht nun ein neues europäisches Sicherheitssystem nötig und möglich, das Nato und Warschauer Pakt überwinden kann. Und da sind wir plötzlich nicht dafür?

Abschließend gebe ich zu,daß meine Sehnsucht nach Einheit auch biogrfisch begründet ist.
Als Sechsjähriger schon stolperte ich als Grenzgänger über den Stacheldraht zwischen Elend und Braun lage, eine der ersten Angsterfahrunqen meines Lebens.
Als 16jähriger maß ich mich auf einer Klassenfahrt im noch ungeteilten Berlin in langen Diskussionen mit FDJ—Funktionären. Als Theologiestudent schmuggelte ich Bücher von der KiHo West durch die Mauer zum Sprachenkonvikt Ost. Und in Begegnungen mit bisher vier Partnergemeinden in Rötha, Leipzig, Magdeburg und Calvörde habe ich das ganze Elend der Teilung miterlebt von A wie Angst bis Z wie Zensur. Vieles erfüllt mich noch heute mit Heiligem Zorn. Und aus den Lebensgeschichten, die mir ständig bei Trauerfällen erzählt werden, weiß ich, wieviel materielles und seelisches Leid Menschen durch die Teilung zugefügt wurde.
Selbstmitleid ist sicher nicht am Platze. Der Faschismus war hausgemacht. Die Folgen werden wir noch lange tragen. Aber vielleicht wird der Faschismus auch nur gemeinsam überwunden. Die Teilung hat auch dessen Aufarbeitung erschwert.

Wenn die Karten in ganz Deutschland neu gemischt werden, habe ich auch die Hoffnung, daß der Bonner Mief verschwindet. Ich bin für die Einheit, weil ich auch unter unserem neureichen Teilstaat leide. Und eine Mittellage statt einer Randlage wird unserer Braunschweiger Landeskirche auch guttun und uns vielleicht von diesem schrecklichen Provinzialismus befreien.




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