Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 42 - Dezember 1989


STREIFLICHTER zur Kehrseite des deutsch-deutschen Jubels

von Klaus Pieper

"Egon mach die Grenze zu,
wir wollen endlich unsre Ruh!"

Ein Aufruf in der Innenstadt Bad Harzburgs: Schlimm, Schlimmer aber noch: Alles was kritische Fragen aufwirft oder Stimmungen wiedergibt, wird in der lokalen Presse nicht veröffentlicht.

Als ich dies Zitat in einer Predigt im Rahmen eines musikalischen Abendgottesdienstes mit dem Ilsenburger (DDR) Marienchor brachte, lachten die Ilsenburger laut und erheitert, die Bundesbürger reagieten betroffen oder ungläubig.

Eine junge Frau sagte nach dem Gottesienst: Ich harbe erstmals begriffen, wieso der Weg vom Hosianna zum "Kreuzige ihn!" so kurz ist.

Meine ehrenamtliche Organistin sagte mir kurzfristig zu den Abendmahlsfeiern im Krankenhaus am Bußtag ab; ihr Bruder habe sie in den Taunus eingeladen; sie müsse sich dringend vom Trabilärm und - gestank erholen.

Meine schriftliche Anfrage(per Trabi-Boten) an die Ilsenburger Organistin, ob sie einspringen könne, sie bekäme auch die übliche Entlohnung, löste eine überraschende Reaktion aus: Ein Kollege stand drei Stunden nach Absendung des Briefes vor der Tür: Diese Abwerbung stört die gutnachbarliche Beziehung erheblich. Unsere Leute arbeiten dann hauptsächlich für Euch. Beim augenblicklichen Kurs (1:20) könnte sie an einem Nachmittag 2-3 Monatsgehälter verdien; Tu uns das bitte nicht an! Unsere Leute sind doch sowieso alle im Westen. Die Gottesdienste und Gruppen werden nur noch von der HÄlfte der Menschen besucht. Ich war sehr dankbar für die prompte Reaktion, die eine langfristigen Verstimmung zuvorkam.

Ca. 3-4.000 Trabfis und andere Fahrzeuge fahren jetzt täglich in 1 1/2 m Entfernung am Pfarrhaus vorbei (vor der Öffnung der Grenze waren es vielleicht 300 Pkws). Zusammen mit 50 anderen Anliegern machte ich beim Landrat und Bürgermeister eine Eingabe, die Verkehrsbehörden möchten bitte überprüfen, ob die einsehbare Entlastung der Stadt Bad Harzburg ausschließlich zulasten Bettingerodes gehen müsse, ob nicht die Lasten auf mehrere Schultern verteilt werden könnte, Bettingerode also nur in einer Richtung betroffen sei.

Am Montagmittag gab ich den Brief im Rathaus ab. Abends wurde mir bereits berichtet, in der SPD Fraktionssitzung sei mächtig gelästert worden: Erst sahnt der Pieper als erster Grenzgänger und Ehrenstapelburger ab und dann will er die Grenze wieder dicht machen." Niemand kannte das Schreiben außer der Fraktionsvorsitzenden, dem es sein Schwager und Mitunterzeichner genau erklärt hatte. Der hielt die Klappe.

Mein Rathaus ist nicht mehr mein Rathaus: Unter den hundert Menschen, an denen ich mich vorbeidrängen muß, bis ich im richtigen Zimmer bin, sind.vielleicht 5 Bundesbürger. Mein Einkaufsmarkt ist nicht mehr mein Einkaufsmarkt, denn es ist sehr schwer, einen Parkplatz oder Einkaufswagen zu bekommen; darum fahren wir nicht mehr nach Bad Harzburg, sondern nach Vienenburg. Die Geschäftsleute klagen, daß viele Stammkunden nicht mehr kommen.

ABER ich freue mich auch darüber, daß ich den Einkaufsmarkt mit den benachbarten DDR-Bürgern teilen kann und viele menschliche Gespräche laufen, was ich sonst kaum kannte daß das bisher von - oft mißmutigen - Senioren geprägte Straßenbild mit wenigen Menschen ein ganz anderes geworden ist: Kinder, Jugendliche, junge Familien bringen Vielfalt und Lebendigkeit in die Stadt und bummeln macht mir hier erstmals Spaß.

Hunderte vielleicht sogar tausende von Menschen haben in den ersten Wochen oft wildfremde Menschen aufgenommen und spontan Freundschaften geschlossen: Wer hätte das für möglich gehalten, daß es so viel Herzlichkeit, Spontaneität, Gastfreundschaft unter uns gibt! Daß Wärme und Offenheit auch unter der oft so harten Kruste unseres "bösen Nachbarn" vorhanden und ansprechbar ist, sollten wir nie vergessen! Das läßt mich hoffen.

ABER die Zahl derer wächst hier rapide, die klagen: Mein Zuhause ist nicht mehr mein Zuhause: Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, wartet schon DDR-Besuch. Ich kann nicht mehr ins Bett, wann ich will. Ich kann nicht mehr fernsehen, wenn und was ich will. Ich schaffs einfach nicht mehr - physisch, psychisch und langsam auch finanziell. Es werden immer mehr: die eigenen immer entfernteren Verwandten, die Freunde und Kollegen der neuen Freunde.!"

Wenn wir es nicht lernen uns auch hier klar abzugrenzen und Nein zu sagen, lernen, unsere DDR-Nachbarn wie auch andere Verwandte oder Freunde zu behandeln, zen und Nein zu sagen, lernen,unsere DDR-Nachbarn wie auch andere Verwandte oder Freunde zu behandeln, auch andere Verwandte oder Freunde zu behandeln, wird dem Hosianna der offenen Grenze das Kreuzige ihn folgen. Aber nur als Leute, die Ja und Nein sagen -persönlich wie inhaltlich - nehmen wir sie ja als Partner ernst. Und nur in einem selchen partnerschaftlichen Miteinander, in Nähe und Distanz kann es zu einem Gewinn an Lebensqualität führen - für beide Seiten.

Vor 3 1/2 Jahren war ich auf meine alten Tage ans Ende der Welt gezogen, um in Ruhe leben und arbeite zu können. Über Nacht sind wir am 11. November zum Berlin unserer Landeskirche geworden. Bisher Bewohner einer hermetisch dichten Grenze, können wir nun zu Grenzgängern werden. Darin sehe ich eine faszinirende Herausforderung und Chance.

Aber die Ambivalenz bleibt.




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu042/streiflichter.htm, Stand: Dezember 1989, dk