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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 45 - Mai/Juni 1990


Das "andere Gesicht" des Thomas Müntzer

von Chr. Eisenberg

Daß Thomas Müntzer als Revolutionär und Bauernführer mit dem Schwert hingerichtet wurde, ist weithin bekannt. Kaum ins Bewußtsein gerückt ist, daß Müntzer als geweihter Priester im Zuge der Reformation eine Reform des Gottesdienstes angestrebt und selbst liturgische Schriften verfaßt hat. Daß dabei die Texte in deutscher Sprache gesungen und gebetet wurden, war Müntzer eine Bedingung. Den obligaten Gebrauch des Lateinischen im christlichen Gottesdienst machte er für eine ins Magische abgleitende Anschauung verantwortlich, wonach schon das bloße unverstandene Mitanhören der im Gottesdienst vorgetragenen heiligen Worte heiligende Wirkung auf den Hörer ausübe: "Es wirt sich nicht lenger leiden, das man den Lateinischen Worten wil eine Kraft zuschreiben, wie die Zaubrer thun, und das arme volgk vil ungelarter lassen aus der Kirchen gehen den hyneyn." In dieser Weise hat Müntzer mit Antritt seines pfarramtlichen Dienstes in Allstedt im März 1523 die Reform des.Gottesdienstes in Angriff genommen, eine große und durchaus eigenständige Leistung.

Sein Hauptanliegen dabei war, daß die Gemeinde nicht nur durch eine Predigt erbaut wird, sondern im täglichen Gottesdienst, bei jeder gottesdienstlichen Feier, "wan die leuthe zusammenkomen, selten sie sich ergetzen mit loboesengen und psalmen, auf das alle, die hineynoehen zu yhn, mügen gebessert werden." Müntzer selbst verstand sich als der "Knecht gottis", der der Christenheit den rechten Weg zu weisen hat, "wie man sich kegen Gott halten sol und zur ankunfft des rechten christlichen glaubens kummen. Ja auch wie der glaub sol bewert sein mit viel anfechtung." Aber er ließ sich primär nicht von seinem Interesse an Liturgie leiten, sondern von der Funktion der Liturgie für die Gemeinde: Die Gemeinde sollte in den Gottes - dienst hineingenommen werden.

In Allstedt, wohl Müntzers glücklichste Zeit - hier heiratete er Ottilie von Gersen, 1524 wurde ein Sohn geboren - entstanden seine liturgischen Ordnungen in zwei Werken: "Deutzsch Kirchenampt" und "Deutsch Evangelisch Messze..." Beide Bücher enthalten die "Ämter" (Texte und Noten) für die fünf großen Feste der Kirche. Vor mir habe ich das Exemplar des Predigerseminars, Allstedt 1524, eines der ganz wenigen noch existierenden Originalexemplare aus der Allstedter Zeit. Selbst die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel besitzt diesen Band nicht. - Auch an den Titeln der Kirchenämter" 120t sich Müntzers konsequent beschrittener Weg vom Fremdsprachlichen zum Deutschen verfolgen, wie ein Vergleich zwischen dem "Kirchenampt" und der danach entstandenen "Deutschen Messe" zeigt:

Kirchenampt

Deutsche Messe

advent

menschwerdung

geburt

geburt

leiden (im Text: passio)

leyden

osterfest

ersteung

pfingstfest

vom heylgen Geist


Die Texte übernahm Müntzer nur zu einem Teil aus Veröffentlichungen Martin Luthers, ein Zeichen der Verehrung für den Wittenberger Reformator. Für viele Psalmen und Perikopen des Neuen Testaments fertigte er eigene Übertragungen an, ohne immer auf philologische Worttreue Wert zu legen. Der Sinn eines Textes erschien ihm wichtiger als der Wortlaut.

An zwei Stellen ist im Exemplar des Predigerseminars, gewissermaßen als Kontrapunkt zur Aufforderung an die Gemeinde "kumpt last uns ihm ehr erbieten" handschriftlich dagegen gehalten: "Christus - kumpt". Das würde genau der Theologie Müntzers entsprechen, wonach Christus seine Herrschaft in dieser Welt aufrichten möge, eine nie aufgegebene Hoffnung Müntzers.

Die Noten der liturgischen Werke zeigen gotische Formen, also nicht die damals moderneren eckigen Mensuralnoten der frühesten Lieddrucke Luthers (römische oralnotation). Sehr wahrscheinlich hat Müntzer aus Zeitmangel die damals im germanischen Bereich noch gebräuchlichen gotischen Typen benutzt, oder aber in voller Überzeugung die altdeutsche Schreibweise gewählt. Eine Gegenüberstellung mag verdeutlichen, wie sich die gotische Schreibweise aus den alten Neumen entwickelt hat:

[Mensuralnoten]

Trotz vermuteter Eile ist Müntzers Arbeit sorgfältig gedruckt worden, wie ein Vergleich mit Luthers Deutscher Messe und den vielen Druckfehlern dort zeigt. Wirkt das gotische Notenbild auch veraltet, so ist die Anzahl der Notenlinien - fünf statt vier - durchaus modern.

Nach Müntzers gewaltsamem Tod kamen seine Schriften mehr und mehr außer Gebrauch. Eine Beschäftigung mit ihnen schien nach der radikalen Ablehnung durch Luther nicht mehr geboten. Luther selbst hatte zudem für den Gemeindegottesdienst erfolgreichere Formulare geschaffen. Erst E. Sehling druckte 19o2 die Texte ab, ebenso einen größeren Teil der Noten. Doch die Beurteilung, die Müntzer erfuhr, war mehr als schlecht. Ich zitiere Fr. Gebhardt: "Müntzers Arbeit ist tatsächlich in musikalischer beziehungnicht viel mehr als ein 'Nachahmen, wie die Affen tun`".

Demgegenüber ist festzuhalten, daß sich die Eigenständigkeit der Müntzerschen Arbeit nur dem erschließt, der sich in die Lektüre der damals neuen Gottesdienstordnung begibt. Durchaus der "Schwachen" wegen auf dem Boden der Tradition war Müntzers Irrtum zugleich, daß er glaubte, die alten Schläuche der römischen Messe mit dem neuen Wein des reformatorischen Schrift- und Gemeindeverständnisses füllen zu können. Darin aber wollte man Thomas Müntzer nicht folgen. Reformatorisches Lied und Gesang nahmen eine andere Entwicklung.

Literatur:
- Günther Franz (Hrsg.): Thomas Müntzer - Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe. In: Quellen und Forschungen zur Re - formationsgeschichte, Bd. 33, Gütersloh 1968
- Walter Eiliger: Thomas Müntzer. Leben und Werk, Göttingen 1975

[Notenblatt Thomas Müntzer]

[Notenblatt Thomas Müntzer]




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