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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 50 - Januar/Februar 1991


Der Fall Erna Wazinski

von Johannes Unger

Horst Magnus hat ein Hobby, das Fingerspitzengefühl erfordert. Er modelliert kleine Figuren, bemalt sie bunt und stellt sie in einer Glasvitrine seines Arbeitszimmers zu Grüppchen zusammen. Nicht irgendwie, sondern streng nach historischem Vorbild. Die Figurengruppen sollen berühmte Gerichtsprozesse der Weltgeschichte darstellen. In einem Fach der Vitrine wird Jeanne d Arc auf dem Scheiterhaufen verbrannt; in einem anderen Fach läßt die griechische Hetäre Phryne ihre Hülle fallen, um die Richter von ihrer Unschuld zu überzeugen. Alles en miniature. Die Gerichtsverhandlungen in den Fächern der Vitrine haben eines gemeinsam: angeklagt sind immer Frauen.
In gewisser Weise hat Horst Magnus seinen Beruf zum Hobby gemacht. Horst Magnus ist nämlich Jurist. Rechtsanwalt in Ruhestand. Bis vor wenigen Jahren hat der fast 8oJährige noch den einen oder anderen Fall übernommen. Jetzt fühlt er sich doch schon ein bißchen zu alt. Das Arbeitszimmer mit der Glasvitrine ist aber noch so, wie er es die ganzen Jahre über benutzt hat.
Horst Magnus hat unzählige Gerichtsverhandlungen miterlebt. An eine möchte er nur ungern erinnert werden. Sie fand am 21. Oktober 1944 in der Untersuchungshaftanstalt Braunschweig statt. Angeklagt war ein junges Mädchen mit Namen Erna Wazinski. Horst Magnus war der Vertreter der Staatsanwaltschaft. Die Verhandlung vor dem Sondergericht endete mit einem Todesurteil. Erna Wazinski wurde am 23. November 1944 gerade 19 Jahre alt im Strafgefängnis Wolfenbüttel hingerichtet.
Daß die Geschichte Erna Wazinskis 45 Jahre nach ihrem Tod dokumentiert werden kann, hat mit Zufällen zu tun und mit der Sorgfalt und dem bürokratischen Eifer von deutschen Beamten, die mit dem Fall Erna Wazinski befaßt waren. Obwohl das junge Mädchen bis auf die kranke Mutter keine Verwandten hinterließ und sich auch sonst niemand für ihr Schicksal interessierte, hat Erna Wazinski Spuren hinterlassen, fast verwischt, aber noch auffindbar.
Die Akten des Falles lagern im Niedersächsischen Staatarchiv in Wolfenbüttel nahezu vollständig erhalten. Auf einem der brüchig gewordenen Papierbögen steht zu lesen "Im Namen des Deutschen Volkes! In der Strafsache gegen die ledige Rüstungsarbeiterin Erna Wazinski hat das Sondergericht Braunschweig in der Sitzung vom 21. Oktober 1944 für Recht erkannt: die Angeklagte hat nach einem Terrorangriff geplündert und wird deshalb zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt."
Die Richter hatten mit Erna Wazinski kurzen Prozeß gemacht ganz so, wie es der Reichsjustizminister in seinen Anweisungen immer wieder gefordert hat: Die Bevölkerung soll im Sondergericht das schnellste und schwerste Werkzeug sehen, um Gangsternaturen blitzartig aus der Volksgemeinschaft für immer oder auf Zeit auszumerzen!" Die Sondergerichte gaben der NS- Justiz die Möglichkeit, angebliche Kriminelle im Schnellverfahren abzuurteilen. Im nationalsozialistischen Sprachgebrauch trugen sie die Bezeichnung " Standgerichte der inneren Front."
"Es war unsere Pflicht, die Ordnung aufrechtzuerhalten", sagt Horst Magnus, der Ankläger von damals, heute. Eine Ordnung, die im Herbst 1944 im Bombenhagel unterzugehen drohte. Erna Wazinski hatte gegen diese Ordnung verstoßen, sie hatte aus den Trümmern eines zerstörten Gebäudes einer Nachbarin Wäsche und Schmuck im Wert von 240 Reichsmark gestohlen - so steht es zumindest im Urteil des Sondergericht. Und weiter:" Wer derart eigennützig die schwerste Notlage seines Volksgenossen ausnutzt, handelt so verwerflich und gemein, daß ihn die für Volksschädlinge dieser Art nach § 1 der Volksschädlingverordnung ausschließlich vorgesehene Todesstrafe treffen muß."
Die Verurteilte hatte in der Verhandlung zwar den Eindruck eines "harmlosen, ordentlichen jungen Mädchens" gemacht, doch an der Schuld Erna Wazinskis und an der Rechtmäßigkeit des Todesurteils kamen anscheinend niemandem Zweifel. Für Zweifel war nicht die Zeit.
"Sie war ein sehr fröhlicher Mensch. Ich habe sie immer nur lachen gesehen", erinnert sich Johanna Patzelt, die die Bombennächte gemeinsam mit Erna Wazinski im Luftschutzkeller verbracht hatte. "Ich habe oft an das arme Mädchen gedacht und alle haben immer gesagt 'vergangen, vergessen, und vorbei'. Aber ich konnte nicht vergessen", gesteht Johanna Patzelt. Sie ist heute 65 Jahre alt, so alt, wie auch Erna Wazinski jetzt wäre.
Durch Zufall findet sich bei einem alten Braunschweiger in einem ausgebeulten Schuhkarton der Abschiedsbrief, den Erna Wazinski kurz vor der Hinrichtung an ihre Mutter geschrieben hat: "Geliebte Mutti! Bitte erschrick nicht! Wenn du diesen Brief erhältst, bin ich tot. Sei tapfer! Wir werden uns ja einmal wiedersehen."
Über viele Umwege ist der Brief in die kleinste Kiste geraten. "Ich habe ihn eigentlich immer schon mal wegwerfen wollen", sagt Rudolf Holz, während er in dem Papierstapel kramt. Er hat Erna Wazinskis nicht gekannt. Ganz unten in dem Karton liegen zwei alte Fotografien, auf denen ein hübsches Mädchen in die Kamera lacht. Die Fotografien helfen, sich ein Bild von Erna Wazinski zu machen, und sie helfen, Erinnerungen wachzurufen. Zum Beispiel bei einem anderen Zeitzeugen, Gerhard Meyer, der noch heute in Braunschweig lebt. Er erkennt das Mädchen, dem er auf der Straße immer nachgeschaut hat , sofort wieder: "Mir fiel sie so in Augenschein, weil sie so Jurtenstiefel anhatte, so rote Lederstiefel. Das war erst mal was fürs Auge für junge Leute, und dann die schwarzen Haare, die rehbraunen Augen. Das war ein Mädchen, die hatte bei allen 'nen Schlag. Ich habe mir gedacht, so'ne Frau, das wäre mal die richtige für dich." Doch es blieb bei ein paar verstohlenen Blicken.
Erna Wazinski lebte mit ihrer Mutter allein in bescheidenen Verhältnissen, ihr Vater war früh gestorben. Daß sich das junge Mädchen "in dieser schweren Zeit" hübsch zurecht-machte, und sogar schminkte, zeugte in den Augen der Richter von "charakterlichen Anfälligkeiten". In einem Gutachten des Jugendamtes für den Staatsanwalt hieß es: "Es handelt sich bei Erna Wazinski um ein willensschwaches , lebloses und leichtfertiges Mädchen, das auch die jetzige Notzeit zu keinem stärkeren Verantwortungsgefühl gebracht zu haben scheint."
Ende November 1944 erfuhr Gerhard Meyer, der junge Verehrer, was aus dem Mädchen mit den Jurtenstiefeln geworden war.
Auf den Litfaßsäulen in den Straßen der Stadt klebte ein rotes Plakat, eine Bekanntmachung der Staatsanwaltschaft. Der Braunschweiger Bevölkerung wurde kundgetan" dass die Arbeiterin Erna Wazinski wegen Plünderung zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war.

Bekanntmachung Hinrichtung Erna Wazinski


Der Abschiedsbrief, den die Gefangene Nr. 1323 am Morgen des 23. November 1944 in der Todeszelle des Wolfenbütteler Strafgefängnisses an ihre Mutter schrieb, endete mit einer Bitte." Günter soll erfahren, wie ich gestorben bin!" Günter erfährt erst 45 Jahre später, wie Erna Wazinski zu Tode gekommen ist. Er erfährt es beim Anblick ihres Fotos. Günter Wiederhöft, hat über die Suche nach den Spuren Erna Wazinskis etwas in der Lokalpresse gelesen und sich daraufhin gemeldet. Der pensionierte Ingenieur, der in einem Braunschweiger Vorort wohnt, hat die Ereignisse von damals noch gut in Erinnerung. Der junge Soldat hatte das hübsche Mädchen während des Fronturlaubes kennengelernt. "Obwohl das damals verboten war, haben wir heimlich gefeiert und viel getanzt", erzählt der 66jährige. "Erna war ein ganz liebes, anhängliches Mädchen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, sie war vielleicht ein bißchen naiv."
Günter Wiedehöft ist aufgebracht, als er hört, daß das Sondergericht Erna Wazinski der Plünderung für schuldig befunden hatte: "Das war doch alles ganz anders~,_, ruft er. "Ich bin doch dabeigewesen! Wir beide zusammen, Erna und ich, haben die Sachen da aus dem Schutt herausgeholt. Sie hat geglaubt, daß die Sachen ihrer Mutter gehören!" Nach seiner Erinnerung habe sich in Wahrheit alles ganz anders abgespielt. Dann berichtet Günter Wiedehöft, Erna habe ihm einige Tage vor dem Ende seines Fronturlaubes .einen Ring schenken wollen, "unsern Verlobungsring", habe sie gesagt. "Laß uns warten, bis ich wieder da bin, wer weiß, was passiert, vielleicht komme ich gar nicht zurück", habe er ihr entgegnet, und das Geschenk zurückgewiesen. "Das war mein Glück", sagt Wiedehöft heute. "Wahrscheinlich stammte der Ring auch aus den Trümmern. Die hätten mich doch sofort mit hingerichtet."
Die Verhaftung Erna Wazinskis hat Günter Wiedehöft miterlebt.
Er erinnert sich an die Beschimpfungen und die Schläge der Polizeibeamten und an die letzte Umarmung seiner Freundin zum Abschied: "Sie ist mir um den Hals gefallen und hat gesagt 'Vergiß mich nicht'." Vermutlich um ihren Freund nicht mit hineinzuziehen, verschwieg Erna seinen Namen in den Vernehmungen.
Günter konnte den möglichen Irrtum vor dem Sondergericht nicht aufklären. Einen Tag vor der Verhandlung mußte er wieder an die Front. "Irgendwie mache ich mir Vorwürfe", sagt Günter Wiedehöft rückblickend. "Vielleicht hätte ich ihr das Leben retten können."
Der Zufall hat Günter Wiedehöft, Ernas Freund, und Horst Magnus, ihren Ankläger vor vielen Jahren einmal zusammen-geführt. Wiedehöft ließ sich von Magnus juristisch vertreten, als er ein Kind adoptieren wollte. Beide ahnten damals nicht, daß ihre Schicksale durch den Tod eines jungen Mädchens im Jahr 1944 miteinander verknüpft worden waren.
Auch in etlichen Verfahren nach dem Krieg , in denen die Mutter Erna Wazinskis versuchte, für die Verurteilung ihrer Tochter entschädigt zu werden, ist Günter Wiedehöft nie zum Fall Erna Wazinskis befragt worden. Noch zwanzig Jahre später bestätigten bundesdeutsche Richter die Rechtmäßigkeit des vom NS- Sondergericht gefällten Todesurteils. Ein rechtwidriges Fehlurteil, so heißt es in einer Entscheidung des Braunschweiger Landgerichtes aus dem Jahr 1965, sei in dem Spruch der Sonderrichter nicht zu erkennen.
Das Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der nationalsozialistischen Kollegen war anscheinend ungebrochen. Die Mitglieder des Braunschweiger Sondergerichts blieben nach dem Krieg im Staatsdienst, der Vorsitzende Richter Dr. Lerche, wurde sogar Oberlandeskirchenrat der Ev.-luth. Landeskirche Braunschweigs.
Nun, 45 Jahre nach dem Tod Erna Wazinskis, soll Günter Wiedehöft doch als Zeuge vor Gericht aussagen. Der Wolfenbüttler Jurist Dr. Helmut Kramer, der sich seit Jahren mit der unbewältigten Geschichte .der , deutschen Justiz befaßt, hat sich des Falles angenommen und die Braunschweiger Staatsanwalt aufgefordert, eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Erna Wazinski einzuleiten. Mit Erfolg. Der zuständige Staatsanwalt wertet die Schilderungen Günter Wiedehöfts als neues Beweismittel, das einen nachträglichen Freispruch der Verurteilten ermöglichen könnte.
Doch der engagierte Jurist Kramer, der sich für das Wieder-aufnahmeverfahren eingesetzt hat, will nicht nur einen Freispruch für Erna Wazinski erreichen. Er will darüber hinaus, daß die nationalsozialistische Unrechtsjustiz insgesamt verurteilt wird. In den NS- Sondergerichten sieht Kramer "keine Gerichte im rechtsstaatlichen Sinne, sondern Terrorinstrumente zur Durchsetzung der Willkürherrschaft des Hitlerregimes."
Roland Freisler, der berüchtigte Präsident des Berliner Volksgerichtshofes, hatte seine Kollegen an den Sondergerichten des Reiches "Panzertruppe der Justiz" genannt. Die Härte und Brutalität, mit der viele Sonderrichter besonders in den Kriegsjahren (Un-)Recht sprachen, entsprach der militärischen Ausdrucksweise des obersten Nazi-Richters Freisler.
Horst Magnus, der Ankläger im Fall Wazinski, gehörte zu dieser "Panzertruppe der Justiz". Nur ungern habe er diese Aufgabe erfüllt, sagte der alte Mann mit dem müden Blick heute. Horst Magnus war in den ersten Kriegsjahren zur Anklagebehörde dienstverpflichtet worden. "Die Zeit damals kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Es war Krieg, und da mußte man auf die Ehrlichkeit der Leute bauen."
Erna Wazinski erweckte anscheinend nicht den Eindruck eines ehrlichen Mädchens. Ihr Gnadengesuch wurde vom Reichsjustizministerium abgelehnt, nachdem die Braunschweiger Staatsanwaltschaft in einer Stellungnahme Erna Wazinski als eine " Persönlichkeit " bezeichnet hatte, "die trotz ihrer Jugend keine Nachsicht verdiene."
" Ich habe versucht, entlastendes Material zu finden, aber da gab es nichts zu finden, was das Mädchen hätte entlasten können", erinnert sich Magnus. Der junge Staatsanwalt war nach der Verhandlung mit den Gnadenermittlungen betraut worden. Nicht einmal die Mutter, so beteuert er heute, nicht einmal sie habe etwas zu Gunsten ihrer Tochter aussagen können. Die Aussage der Mutter findet sich in den Gerichtsakten. Sie ist ein Zeugnis der Angst. Statt Erna zu helfen, spricht Wilhelmine Wazinski von ihrer Tochter als von einem "frechen Mädchen". So hat es Staatsanwalt Magnus zumindest niedergeschrieben.
" In Ermächtigung des Führers" ordnete Reichsjustizminister Thierack am 3. November 1944 die Vollstreckung des Todesurteils an. In einem Begleitschreiben wurde die Braunschweiger Staatsanwaltschaft angewiesen, "mit größter Beschleunigung das weitere zu veranlassen". Diese Aufgabe fiel dem jungen Staatsanwalt Magnus zu. Die Hinrichtung wurde für den 23. November 12 Uhr festgesetzt. Ob er bei der Vollstreckung des Todesurteils dabeigewesen sei, wird Horst Magnus gefragt. "Ja", sagt er. "Aber darüber will ich nicht sprechen!"
Den Verlauf der Hinrichtung dokumentieren einige Vordrucke, die der Vertreter der Staatsanwaltschaft mit den nötigen Eintragungen versehen hat: "Um 12.07 wurde die Verurteilte gefesselt vorgeführt. Durch den Vollstreckungsleiter wurde hierauf nach Feststellung der Persönlichkeit der verurteilten Wazinski dem Scharfrichter der Auftrag zur Vollstreckung des Urteils des Sondergerichts in Braunschweig erteilt. Hierauf wurde der Kopf der Verurteilten mittels Fallbeil vom Rumpf getrennt.
Horst Magnus steht vor seiner Vitrine im Arbeitszimmer und betrachtet die kleinen "Schauprozesse". "Ich habe noch oft an die Geschichte gedacht", sagte er. Dann sagte er eine ganze Weile gar nichts. Und schließlich, fast etwas trotzig: " Ich finde es überflüssig, daß jetzt noch mal so viel über den Fall gesprochen wird."




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