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[Kirche von unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

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Geistliche Gemeindeerneuerung? Von wegen!

von Dietrich Kuessner

Eine Frau ruft mich an. Ihre Tochter spiele verrückt. Sie zerstöre alle CDs, die sie besitze, habe sich völlig von ihr abgekapselt dafür aber merkwürdige Freunde, vor den Schularbeiten bete sie um gute Zensuren und siehe da, es funktioniert. Es sei auch schon vorgekommen, daß sie aufs Lernen ganz verzichtet habe, um den rechten Geist gebetet habe statt sich auf den Hintern zu setzen und wiederum: die Dame habe eine ganz gute Arbeit geschrieben. Der Geist ersetzt das Vokabellernen. Fabelhaft. Die Tochter sei um die fünfzehn, nähme an Freizeiten teil, da bekomme sie einen älteren Jugendlichen, dem sie sich "ganz öffne", es werde lange zu zweit gebetet, auch die Hand aufgelegt. es gebe sichtliche psychische Veränderungen, die Mutter fühle sich von der Tochter als Ungläubige "verdammt".

Die Mutter wohnt in Wolfenbüttel, die Rede ist von der Kirchengemeinde in Linden.. Das war vor etwa zwei Jahren. Es ist nicht nur eine Mutter, sondern es sind mehrere. Sie kommen, wir tauschen uns aus, die zeigen Leserbriefe aus der Wolfenbüttler Lokalpresse, in der sie diese für sie merkwürdige Art von Frömmigkeit schildern, auch mit dem Landesjugendpfarrer hätten Gespräche stattgefunden, auch mit dem Propst, auch im Landeskirchenamt wüßten alle Beseheid. Man werde hingehalten: sie sollten ganz präzise Tag und Stunde angeben, wann was wo passiert sei. Die Mütter schreiben alles auf von der Entfremdung zu ihren religionsmündigen Kindern, von dem aus ihrer Sicht schrecklichen Gottesbild, von den psychischen Abhängigkeiten, die entstünden, sie hätten die Gottesdienste besucht. Die seien "voll", man anerkenne, daß ein Pastor "was für die Jugend tue", das sei wirklich nicht überaus der Fall, aber den Verlust ihrer Kinder wollten sie auch nicht hinnehmen.

Jener geistbewegte Amtsbruder aus Linden sitzt bei mir in der Küche und will mich von meinem Schwulsein erlösen. Zwei Frauen, die mir in Haus und Gemeinde zuarbeiten, nehmen an dem Gespräch teil, was ihm anfangs peinlich war. Ihm dünkte wohl, ich hätte was zu verheimlichen. Wir tauschen die bekannten Argumente aus, trinken Kaffee, die Frauen schenken nach, am Ende des Gespräches ruft mir der Gute mit Stentorstimme zu "Bruder Kuessner, Christus liebt Sie." Ich dachte bei mir, das weißt du eigentlich schon seit deiner Konfirmation. Ich kam mir bißchen als Missionsobjekt vor, der irrende Bruder, der auf den rechen Weg gebracht werden müßte. Da saß ja nicht etwa einer vor mir, der über eine kontroverse Frage im fröhlichen Austausch eines streitbaren Gespräches mit mir fechten wollte, sondern: der bereits von allen Übeln dieser Welt, vor allem von dem besagten häßlichen, erlöst war. Es sprach der Erlöste zum Unerlösten, der Bekehrte zum Verstockten. Das war mir nicht neu. Da war ja jener andere aus unserer Propstei, der mich öffentlich mit dem titulas "Antichristus" geschmückt hatte. Mich persönlich hatte das nicht sonderlich aufgeregt. Für die Gemeinschaft der Ordinierten fand ich das nicht so toll. Mit einer "Ehrenerklärung", als ob wir in der Braunschweiger Pfarrerschaft mit den Gepflogenheiten einer studentischen Verbindung lebten, hatte derselbe sich im März 99 schriftlich "entschuldigt". jedoch so, daß er alle Vorwürfe inhaltlich aufgewärmt hat. Jener andere, ebenfalls so sichtlich erlöste Bruder, der mich und natürlich seine von mir befteckte Landeskirche erlösen wollte, ging nach unserm Küchengespräch heim. So wird der auch mit den Müttern gesprochen haben, dachte ich bei mir, als ich denen ge-

 

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genüber saß: der Erlöste zu den unerlösten, noch immer nicht recht betenden, nicht ganz auf den Geist vertrauenden Müttern.

Linden ist auch anderswo: zum Beispiel in Hordorf. Sehr gut besuchte Gottesdienste, viele Gebetskreise, neue frische Kirchenlieder, ein Anziehungspunkt. Ich habe einen aus Neugier besucht. Und der Geist weht ja nun wirklich, wo er will, und in Gottes Paradiesgärtlein, lies: in seiner lieben Braunschweiger Landeskirche soll auf vielfältige Weise geglaubt werden dürfen, also warum nicht auch so? Auch jener Amtsbruder sitzt bei mir im Garten, wir tauschen uns über die Auferstehung aus. Allen Ernstes erklärt er mir, erst kürzlich seien in Indien zwei Leute, die mausetot gewesen seien, "wieder auferstanden". Na also, sowas gibt's doch. Ich hatte schon früher in einem in der BZ abgedruckten Wort zum Sonntag verlauten lassen, daß ich mir meinen Auferstehungsglauben nicht von einem möglicherweise noch nicht gemachten archäologischen Ausgrabungsbefund, der sich als die Knochen Jesu herausstellen könnte, nicht abhängig maehrn wollte. Mit meinem Osterglauben hätte dies nichts zu tun. Man müsse eben nur Reanimation von Auferstehung unterscheiden. Dazu war der sympathische Hordorfer Amtsbruder jedoch nicht bereit. Schad nichts, dachte ich mir. Wieder so eine Solitärpflanze im Paradiesgärtlein. Aber es müssen ja nicht alle so sein. Erst kürzlich indes predigte im Advent 1999 ein Lektor in Hordorf, und was konnte man vernehmen? Erschröckliches gäbe es in unserer Landeskirche. Da säße doch in unserer Landessynode einer, der nicht an die Auferstehung glaube und die Homosexualität verherrliche. Was soll das, lieber Hordorfer Amtsbruder und liebe Hordorfer Amtsschwester? Habt ihr gerade erst mit dem lieben Gott gefrühstückt, habt ihr den Heiligen Geist mit Löffeln in Superportionen zu euch genommen, daß man sich so im Völlegefühl des "rechten Glaubens" gegeneinander wendet?

Auch in Hordorf: anbeten gegen schlechte Zensuren. Hilft!

Linden - Hordorf - Schöningen: im Dezember 1999 erscheint auf der Lokalseite der Braunschweiger Zeitung ein vier Spalten langer Artikel über die Jugendarbeit in der Cluskirchengemeinde. Wie gehabt in Linden. Mütter fühlen sich verstoßen, Töchter zertrümmern in vermeintlicher Nachfolge Jesu CDs als "Teufelswerk", aber "volle Gottesdienste". In einer Schöninger Schule strömt ein muntere Jugendschar einer Lehrerin entgegen, sie müßten mal ganz schnell während der Pause in die Klasse: Bibellesen und beten (statt frischer Luft, dachte ich mir, als ich das hörte.) Der Schöninger Amtsbruder war in Linden Vikar und hat dort diese Art der "geistliche Gemeindeerneuerung" gelernt. Linden - Hordorf - Schöningen - Königslutter: im Advent hat der Schöninger Kollege von seiner Gemeindearbeit in Königslutter berichtet, und da geht es dann demnächst auch los wie bekannt. Und anderswo auch noch.

Es gibt auch Gegenbeispiele: der Rundfunk interessiert sich für die Sache. Mit einem jungen Redakteur sitzen wir in einer Wolfenbüttler Gaststätte: die betroffenen Mütter, einige inzwischen etwa 17 - 18 jährige Söhne, die abgesprungen sind, weil sie diese Art von Jugendarbeit für unerträglich autoritär halten und nun dafür von den außeren im alltäglichen Umgang "geschnitten" werden. Alle berichten von ihren Kränkungen, Empörungen, Erfahrungen mit der Landeskirche, von ihrer Ohnmacht, davon, daß es ein offenes, unter normalen Zeitgenossen übliches Gespräch mit den Pfarrern von der geistlichen Gemeindeerneuerung nicht gäbe, sie stritten alles ab, alles sei ganz harmlos und so eine volle Kirche sollten ihnen die andern, die da herummeckern, erstmal nachmachen.

 

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Schwierig ist das Verhältnis dieser Gruppe zu einem sog. "Glaubenszentrum" in Gandershein, das früher in Wolfenbüttel beheimatet war. Sie verfügen über viel Geld, sagt man. Man erzählt sich, es stamme aus Amerika. Zur Zeit bauen sie eine tausend Personen fassende Halle. Erweckung mit Umfallen, Handauflegen, Zungenreden. Es gebe Probleme mit den Schulen. Die Ähnlichkeiten liegen auf der Hand. Jugendliche der landeskirchlichen Gruppen erzählten, daß ihnen Gandersheim durchaus bekannt sei. Die Pfarrer streiten eine Verbindung ab.

Ohne Frage: wir haben ein Problem in der Landeskirche. Und das muß behutsam angegangen werden. So viel aus meiner Sicht für heute:

  1. Die Erwartungen der Mütter, "da müsse doch die Landeskirche einschreiten", dürfen nicht bestätigt werden. Wir haben kein Lehramt, im Landeskirchenamt wird nicht entschieden, was geglaubt werden darf und was nicht. Aber: die Ohnmacht der Mütter bedarf dringend eines anhaltenden, ermutigenden Gespräches. Sie in ihrem kritischen Glauben allein zu lassen, ist schäbig.
  2. Die Vielfalt der Glaubensformen sind eher ein Glaubensreichtum unserer Landeskirche. Das müssen aber alle Seiten anerkennen.
  3. Da muß dann einer den andern auch ertragen, selbst wenn er das betreffende Gottesbild für abstoßend manichäisch oder pubertär hält. Das muß man sich auch sagen können. Im übrigen gilt: Mattäus 13, 30: "Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte."
  4. Wo sind die Grenzen? Seit der "verbindungsähnlichen Erledigung" des Vorwurfes vom Antichrist innerhalb der Pfarrerschaft und den neusten Vorkommnissen in der Hordorfer Kirche, auch seit den erneuten Vorwürfen in Sachen Frauenordination aus der Brüderngemeinde gibt es keine Grenzen mehr. Wir müssen damit leben und werden es lernen müssen.
  5. Das Argument "volle Kirche" ist keins. Der Hinweis auf leere Kirchen übrigens auch nicht. Wenn diese Art von "geistlicher Gemeindeerneuerung" alle Reiche dieser Welt bis in alle Winkel geistlich erneuern würde, würde ich fragen, ob der Versucher aus Matthäus 4 nicht doch ganz in der Nähe lauert.
  6. Die Brüder und Schwestern von der "geistlichen Gemeindeerneuerung" sollten sich dem theologischen Gespräch mit denen vom anderen Ufer oder von anderen theologischen Koordinaten aussetzen. Und umgekehrt auch. Können wir nicht doch voneinander lernen? Das Schmoren im eigenen theologischen Saft wird auf die Dauer schimmelig. Das kann man in einem neuen Jahrhundert auch niemanden mehr zumuten. Für das Arrangement solcher Gespräche wären eigentlich die Pröpste da.
  7. Ich verhehle nicht, daß mir der theologische Standpunkt, der deutlich weit vor der Aufklärung liegt, persönlich zuwider und mir nicht nachvollziehbar ist, wie man heutzutage dergestalt noch Theologie betreiben kann.
  8. Ich beabsichtige, die Sache in einer dringenden Angelegenheit vor die Landessynode zur Aussprache zu bringen. Bis dahin haben alle Seiten Gelegenheit, sich zu präparieren. Lieber Bruder Hahn, das bedeutet mal wieder zusätzliche Arbeit.

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Impressum und Datenschutzerkl?rung, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/vku94/gge.htm, Stand: 1. Januar 2001, dk