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[Kirche von unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

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Zum Tod von Oberlandeskirchenrat Henje Becker

Eindrücke statt Kränze
Momentaufnahme der Zusammenarbeit

von Harald Welge

Just in diesen Zeiten, die einerseits die Trennung von geistlicher Leitung und Verwaltung fordert, andererseits die versuchte Trennung fürchtet, weil notwendig Verwaltung ohne geistlichen cantus firmus weniger Arbeitsteilung als vielmehr die Separierung in zwei Räume bedeutet und Geistlichkeit damit aussondert von der Alltäglichkeit kirchlicher Geschäfte, just in diesen Zeiten erinnere ich Henje Becker, der in seinem Leben und seiner Arbeit beide Bezüge als leidigen und lebendigen Kirchen-alltag verbunden sah. Deshalb sein immer wieder beharrliches Pochen auf sein Pfarrerdasein, obwohl er Vertreter einer "Aufsichtsbehörde" war, die er – je länger im Amt umso stärker – als Dienstleistungs"Servic"betrieb verstehen wollte. Wer seinen Terminkalender kannte, wusste, dass er der Ansprechpartner der Mehrzahl der Schwestern und Brüder war. Seine Stärke gleich seine Schwäche: er wollte Seelsorger sein und gleichsam etwas mit der ihm eigenen Macht verändern; auch das ein Grund für manchen, ihn in kritischen Situationen aufzusuchen. Wer mit ihm sprach, konnte spüren, dass er zuhörte, emotional mitging und schnell nach Lösungsmöglichkeiten Ausschau hielt. Gesetzliche Vorschriften galten für ihn dem Geist nach, nicht dem Buchstaben nach; das unterschied ihn von manchen anderen. Auch deshalb die Vielzahl derer, die zu ihm kamen, obwohl er für ihre Belange zunächst gar nicht zuständig war. Manch einen hat er mehr geschützt, als der Betroffene je erfuhr. Die Frage der Gerechtigkeit, die ihm aus der Ökumene wichtig geworden war, wollte er auch im eigenen Haus der Landeskirche wesentlich werden lassen und praktizieren. Seine Emotionalität war gefürchtet; in seiner Emotionalität ergriff er Partei. Henje Becker machte sich angreifbar und verwundbar. Und er wurde verwundet; tief verletzt. Nicht immer durch Ergebnisse, sondern durch die Methode, mit der diese Ergebnisse zustande kamen. Das hat ihn krank gemacht.

Aber Henje Becker hat auch andere verletzt. Manch einem konnte er noch sagen, dass ihm das leid tat.

Vier Jahre lang habe ich mit ihm, im Landeskirchenamt zusammengearbeitet. Manchmal haben wir – sicherlich ironisch – gemeint, wir gehörten zu den wenigen Pastoren, die zu zweit in einer Gemeinde wären und sich verstünden. Wir haben es geschafft, unsere Bereiche, in denen wir je verantwortlich waren, auch in diesen Abgrenzungen zu führen und doch miteinander darüber zu sprechen und gegenseitig zu beraten. Ein, zwei Mal haben wir uns gestritten – krachend – doch noch ehe der Tag vergangen war, wieder versöhnt.

Emotionalität und Sachlichkeit, Wagnis und Fehler, Erfolg und kritische Fragen nach dem eigenen Tun: vier Jahre engster Zusammenarbeit mit Henje Becker: vier Jahre, die ich nicht missen möchte.

 

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Henje Becker – Mosaiksteine eines Weges nebeneinander
von Klaus Pieper

- ein Mann meiner Alterskohorte, wie ich aufgewachsen als Braunschweiger Kaufmannssohn, evakuiert in Seesen, aufgewachsen ohne Vater mit Sirenengeheul, Trümmern, Carepaketen, Kohlenklau, dem "Schwarzwaldmädel" und "Lieber Gott, lass doch die Sonne wieder scheinen für Papa und für Mama und für mich."

- als Pfarrer, der als einer der ersten die seinerzeit strenge Pfarrerkleider-(sprich: Stehkragen, bzw. Krawatten)Ordnung durchbrach und im weissen Rollkragenpulli auftrat,

- ein Oberlandeskirchenrat "Allzeit bereit" mit der Kehrseite: ein Gespräch mit ihm in seinem Zimmer wurde nicht selten von zahllosen Telefonaten zerstückelt, so daß die von ihm wertgeschätzte seelsorgerliche Begegnung nicht zustande kommen konnte.

- ein Pastor, der sagen konnte: ich bin heilfroh, dass ich heute keinen Konfirmandenunterricht mehr geben muss.

- Ein Mann, der unter dem ihm so fremden Dietrich Kuessner litt und ihn doch beschützte.

- ein Chef, der wusste, was er Hans Mühe im Vorzimmer zu verdanken hatte.

- ein Sohn, der wohl lebenslang und oft vergeblich die Anerkennung des – im Krieg gefallenen - Vaters suchte.

- ein Mann ,der manche Neuerungen lange bekämpfte, um sie dann offiziell im Amtsblatt zu veröffentlichen.

- Ein Oberlandeskirchenrat, der nach dem vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand mit einem Schuss Resignation feststellen musste, wie wenig er nach dem Machtverlust gefragt war.

- Ein Kirchenführer, der bis zum Letzten für seine Kirche kämpfte, sich verkannt fühlte, und unter ihr litt und so krank wurde.

- Ein Kranker, der in Würde um sein Leben kämpfte und bereit war für den letzten Schritt

- Ein verhinderter Freund

- Ade, Henje Becker


Ein warmherziger, offener Mensch
von Sigrid Probst

Henje Becker ist gestorben. Diese traurige Nachricht hat uns am 9.11.2001 durch die Braunschweiger Zeitung erreicht. Wir haben einen Förderer und Fürsprecher in unserer Flüchtlingsarbeit verloren.

Mit der Abbildung seines Fotos waren uns auch ganz schnell die interessanten, persönlichen Begegnungen mit ihm wieder gegenwärtig.

Wir, das ist das REFUGIUM, die Flüchtlingshilfe in Braunschweig.

 

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Vor gut zwei Jahren haben wir ihn, nachdem wir ja am Steinweg ein neues Domizil gefunden hatten, zu einem kleinen Danke-schön Kaffee eingeladen.

Vor Jahren hatte Henje Becker schnell erkannt, dass die Arbeit, die im Refugium geleistet wird, unterstützt werden muss auch finanziell. Er hat uns schon damals aufgesucht und wusste, weil er schon so lange über den Tellerrand hinaussehen konnte, was an Hilfe geschehen musste.

Henje Becker, unser Oberlandeskirchenrat, war ein warmherziger, offener Mensch auch für mich persönlich bei unseren Gesprächen, eine grosse Bereicherung.

Jemanden wie ihn im Hintergrund zu wissen, war tröstlich.

Es gibt keinen in unserem Refugium, der sich nicht in Trauer verneigt.


Man nimmt sich auch selbst anders wahr
von Eberhard Fincke

Wie das so ist, der Tod eines Menschen taucht die Beziehung zu ihm in ein verändertes Licht und man nimmt sich auch selbst anders wahr. Die Erinnerung an Henje Becker bringt mir zum Bewußtsein, wie viel Verständnis ich ihm bei aller Unterschiedlichkeit verdanke.

Wir sind uns 1956 im damaligen Jugendfreizeitheim "Waldkater" bei Lautenthal im Harz zuerst begegnet, als wir beide gerade das Abitur hinter uns hatten. Der Landesbischof Erdmann besuchte nachmittags die Abiturienten-Freizeit, und wir beide zukünftigen Theologiestudenten wurden zu ihm an den Kaffeetisch gesetzt. Das war mir etwas peinlich; denn der Bischof wusste noch nichts von mir, weil ich mich im Landeskirchenamt noch nicht vorgestellt hatte. Damals schon, ich weiss nicht mehr warum, hatte ich ein reserviertes Verhältnis dazu. Henje Becker dagegen hatte sich schon vom Bischof selbst für sein Theologiestudium beraten lassen, und der hatte ihn nach Oberursel im Taunus geschickt, auf die theologische Hochschule der ultra-konservativen lutherischen Freikirche.

Wir haben uns dann erst zehn Jahre später, 1966 in Braunschweig wiedergesehen, da war er Gemeindepfarrer an St. Andreas und ich Stadtjugendpfarrer. Aber jene anfängliche, unterschiedliche Beziehung zur Kirche hatte sich fortgesetzt.

Ich hatte im Studium Schwerpunkte der damals theologisch aufregenden theologischen Auseinandersetzung aufgesucht in Berlin, Heidelberg und Göttingen, dann im neu eingerichteten Predigerseminar in Pullach der VELKD in München-Pullach den ersten Kurs fast zum Platzen gebracht, weil mir konservative Mitbrüder die Abendmahlsgemeinschaft aufkündigten, und nun in Braunschweig schimpften manche Amtsbrüder, ich solle die Jugend nicht auf den Kohlmarkt (zum Demonstrieren), sondern in die Kirche führen.

Henje Becker war im Studium vom konservativen Oberursel an die damals

 

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biedere Uni Erlangen und dann Göttingen gewechselt, aufgrund seines guten Examens zum 2. Kursus nach Pullach entsandt worden und trat nun in Braunschweig schon als gefragter und gewandter Vertreter der evangelischen Kirche in Erscheinung, z.B. als Moderator von Podiumsdiskussionen in den bewegten späten 60igern, bei denen ich dann wiederum auf dem linken Flügel sass.

Seine mittlere Position hat mich oft geärgert und ihm sind meine Vorstösse oft sichtlich unbequem gewesen. Dennoch, damals und später konnte ich immer mit seiner Loyalität und Fairness rechnen. Er sah wohl, dass wir Linken in manchem Recht hatten, aber eine gemeinsame kirchliche Position war ihm wichtiger. Wir Linken haben den Zusammenhalt in der Kirche arg strapaziert, hatten wenig Geduld mit der Institution, auf deren Basis wir arbeiteten.

Dieser Wunsch, wir mögen doch bei allen Gegensätzen in dieser Kirche gemeinsam handeln und besonders nach aussen auftreten, glaube ich, hat Henje Beckers Weg ins Landeskirchenamt vorgezeichnet und dazu gebracht, dort seine ganze Zeit und Kraft im Dienst dieses Amtes herzugeben wie kaum andere. Er hat sich damit den Mühen und unsäglichen Zumutungen ausgesetzt, die eine kirchenleitende Funktion so mit sich bringt und um die ich ihn deswegen wirklich nicht beneidet habe.

Die theologische Musik spielt wohl nie in den Landeskirchenämtern.. Als wir studierten, kamen die Impulse aus den theologischen Hörsälen, aber das ist lange vorbei. Seit den 68iger Jahren reagieren Theologie und Kirche nur mehr, werden bestenfalls erfasst von den verschiedenen Bewegungen oder nehmen sie auf. Aber die Kirche lebt von solchen Bewegungen, auch wenn sie sich als feste Institution von ihnen zunächst gestört fühlen muss. Gerade damit sie als Institution nicht versteinert, braucht sie Bewegung.

Dieses Interesse, möglichst viele Impulse aufzunehmen und in der Kirche umzusetzen, hat Henje Becker, was manche von uns vielleicht gar nicht so sehen konnten, zu ihrem Fürsprecher werden lassen. Im Stillen mindestens hat er unbequeme Leute geschützt.


Ein echtes Gegenüber
von Eckhard Etzold

Heute (7.11.2001) morgen im Pfarrkonvent erfuhren wir vom Tod OLKR Henje Beckers, und wir trauern um einen Menschen, der uns in vieler Hinsicht geprägt, begleitet, gefördert und provoziert hat.

Gestern, am Dienstag mittag ist er verstorben, und wir verlieren mit ihm das letzte Mitglied des Kollegiums, das wie kaum ein anderer, den ich kennen gelernt habe, in den Gemeinden unserer Landeskirche präsent war. Mit seinem Engagement und seinem Interesse an jedem einzelnen hatte er als Oberlandeskirchenrat ganze Pfarrergenerationen geprägt. Ich persönlich habe

 

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ihn sehr verschieden erlebt, mal väterlich-wohlwollend begleitend, mal autoritär maßregelnd. Auch erinnere ich mich an einem Wutausbruch von ihm, als ich mein zweites theol. Examen absolvierte: ich blieb ruhig und beherrscht, und das imponierte ihm anscheinend so sehr, dass ich von ihm in den Prüfungen nichts mehr zu befürchten hatte. Wer Herrn OLKR Henje Becker erlebt hat oder unter ihm "groß geworden" ist, wird hier noch viel hinzufügen und berichten können.

Henje Becker war uns, solange er im Dienst war, immer ein echtes Gegenüber gewesen, an dem wir uns orientieren, aber auch reiben konnten. Seit dem er aus dem Landeskirchenamt gegangen ist, scheint es solche Gegenüber nicht mehr zu geben. Die Distanz ist größer geworden. Wir wünschen uns, dass sich jemand wieder finden ließe, der in dieser Weise in den Gemeinden unserer Landeskirche so präsent ist wie er es gewesen ist.


Im Gedächtnis
von Dietrich Kuessner

Ich habe Henje Becker zum ersten Mal bei den seit den 60iger Jahren so beliebten Bibelwochen getroffen. Ein Pfarrergruppe traf sich vormittags zur Bearbeitung eines Bibeltextes, nachmittags brüteten zwei über einen darüber zu haltenden Bibelabend vor der Gemeinde, die anderen machten Hausbesuche in der Gemeinde, abends war dann der Bibelabend für die Gemeinde, danach sass man zur Manöverkritik zusammen. Es waren sehr unterschiedliche Pfarrerprofile zusammen. Becker war wie auch Ulrich Hampel - das war damals auffällig – nicht zunächst in eine Landpfarre geschickt worden, sondern beide kamen nach Braunschweig, der eine nach Andreas, der andere nach Pauli. Später waren beide wieder Nachbarn im Landeskirchenamt. Meist waren wir etwa 5-6 Personen, die im Dorf untergebracht werden mussten. Eine Bibelwoche haben wir in Saalsdorf bei Christoph Brinckmeier gehalten, eine andere bei mir in Offleben. Becker war der jüngere, unkompliziert, offen, mit einem sportlichen Anstrich, sympathisch. Das war die Zeit, wo Kooperation praktiziert wurde. Schlaue Bücher darüber wurden später geschrieben, als sie flöten gegangen war. Becker konnte sich leicht amüsieren, wenn ich ihn darauf ansprach, dass derlei Kooperationsmodelle längst z.B. in der Asse oder im Innerstetal unter seiner Förderung ausprobiert worden waren. Nun schrieben sich das andere auf ihr Habenkonto gut.

Dann erlebte Becker unter Förderung von Landesbischof Heintze einen ziemlichen "Aufstieg". Er wurde 1970 mit 34 Jahren zusammen mit Klaus Jürgens in die Landessynode gewählt. Einer der jüngsten unter den Synodalen. Er war unter den Braunschweiger Stadtpastoren offenbar als zielstrebiger, ehrgeiziger, junger Mann aufgefallen, besonders aktiv in der Kindergottesdienstarbeit zusammen mit Gertrud Böttger. In der Landessynode nahm er sich die Öffentlichkeitsarbeit auf die Hörner und entwickelte

 

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verantwortlich den KURIER, den Vorgänger von Synode direkt. Noch aus der Landessynode heraus wechselte Becker als Landeskirchenrat nach vier Jahren ins Landeskirchenamt, hier wieder zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und bereits ein Jahr später wurde er Oberlandeskirchenrat im Ref. II.

Becker war im Amt für mich immer zu haben. Das beruhte nicht auf Sympathie, sondern Becker kannte noch die Zeit von Bischof Erdmann, in der ohne Voranmeldung die Tür sowohl zum Bischof als zu den theologischen Referenten immer offen war. Ein Vorzug unserer kleinen Landeskirche. Nun praktizierte er das auch.

In meiner kleinen Filiale Reinsdorf-Hohnsleben brauchte ich eine Vertretung zu einem Abendmahlsgottesdienst. Ich war irgendwie weg. Ich rief Becker an und wenn sein Sonntag frei war, genierte er sich keineswegs, in der kleinen Dorfschule, in der wir wegen der Kirchenrenovierung untergekrochen waren, einen normalen, unspektakulären Gottesdienst vor einer sehr kleinen Gemeinde zu halten. Ich fragte, wie es gewesen wäre. Doch - das hatte den Leuten gefallen, nur das Abendmahl hätte er fast vergessen, und da hätten sie ihm gesagt, Herr Pastor, da steht auf dem Nebentisch noch das Abendmahlsgerät, wir wollen noch Abendmahl halten und das haben sie auch zusammen getan. Ich fragte Becker wie es gewesen wäre. Doch - das hat mir richtig Spaß gemacht, sagte er. So ist er bei den Reinsdorfern in Erinnerung: als Pfarrer, der sich für einen Gottesdienst auf dem Dorfe nicht zu schade war. Er ist dann immer wieder mal gekommen. Wir bastelten an einer etwas eigenen Gottesdienstordnung mit Psalm im Wechsel, schon 30 Jahre bevor das im Gesangbuch stand, mit modernisierten Psalmtexten etwa von Richard Grunow, dem im Züricher Hotel verbrannten Leiter der Ev. Zeitung, mit Fürbitten aus dem Niederländischen, mit gemeinsam gesprochenen Einsetzungsworten beim Abendmahl. Das war Ende der 70iger Jahre. Becker erlebte das im Offleber Gottesdienst und schickte auf Kosten des Amtes jeder Gemeinde zur Anregung ein Exemplar. Als wir dann auch ein eigenes Lektionar entwarfen und dabei viele Vorschläge der Reform der Perikopenordnung vorwegnahmen, hatte er keine Einwände erhoben und uns gewähren lassen.

Eine Zeitlang waren wir zusammen in der Agendenkommission. OLKR Brinckmeier vom Gemeindereferat hatte mich Ende der 60iger Jahre dahin berufen. Die Arbeit an den Gebeten des Tages, früher Kollektengebete genannt, an der Begräbnis- und Taufordnung machte Freude und Becker

hatte wohl von Brinckmeier dieses Erbe einer eigenen braunschweiger Weiterarbeit an der agendarischen Arbeit übernommen. Das galt ganz besonders für die Arbeit am Gesangbuch. Wir schielten nicht darauf, was andere Kirchen machten, sondern arbeiteten selbständig an den Texten und zunächst Brinckmeier, dann Becker sorgten dafür, dass unsere Arbeit auch "durch die Synode kam." Becker wurde ungemütlich, wenn wir uns eigene Themen suchten, also z.B. Anfang der 90iger Jahre eine Ordnung von Segenshandlungen für bestimmte Anlässe, etwa zur Verabschiedung eines ehrenamtlichen

 

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Mitarbeiters. Wir bastelten auch an einer Segenshandlung an Paaren, die nicht zum Standesamt gehen wollten. Das empfand Becker als selbständigen Eingriff in seine Arbeit und er war sehr darauf erpicht, nichts von seinem Arbeitsbereich abzugeben. Er konnte sehr schlecht delegieren. Im Gegenteil: er bürdete sich immer mehr Arbeit auf, was ihn auf die Dauer atemlos machte und mir als gehetzt erscheinen liess.

Ich erlebte dann Becker, wie er – das ist ein offenes Geheimnis – allergrößte Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Landesbischof Müller und OLKR Dr. Fischer hatte. Die Zeit des blendenden Einverständnisses mit Landesbischof Heintze war endgültig vorbei. Ich riet damals Becker, zurück in die Gemeinde zu kommen. Warum nicht? Das war seine Stärke. Ich hatte übersehen, das ihn "der Betrieb" ganz beschlagnahmte. Eine Rückkehr "ins einfache Leben" war nicht sein Weg. Vielleicht würde er heute noch leben.

Keiner hat mich in meiner kirchengeschichtlichen Arbeit im Landeskirchenamt so unterstützt wie Brinckmeier und Becker. Dr. Fischer höhnte: "der selbsternannte Kirchenhistoriker", die OLKRäte Wandersleb und Kaulitz waren strikt gegen eine Aufarbeitung der Geschichte, "bevor nicht alle Beteiligten gestorben wären", weil sie ein unhaltbares Kirchengeschichtsbild aufrechterhalten wollten zu Gunsten ihrer Vätergeneration und zu Lasten der historischen Wahrheit. Die Kirchenregierung rief in Offleben an, ob es Karten zu dem Vortrag im Städtischen Museum im Januar 1980 gäbe, wo ich in der Reihe "Nationalsozialismus in Braunschweig" den part der Landeskirche im Dritten Reich übernommen hatte. Ich hatte mich gründlich präpariert, der Vortrag hatte ein erstaunliches Echo und Becker stellte sich im übervollen Landesmusuem inhaltlich hinter den Vortrag. Er nahm sogar bereitwillig an der eigentlich nicht eingeplanten Podiumsdiskusion als Anschlussveranstaltung teil. Becker übernahm dann sogar die Diskussionsleitung, als ein Jahr später eine vergleichbare Veranstaltung im Helmstedter Bürgerhaus mit ähnlich grossem Echo lief. Das war zu einer Zeit, als in der EZ über diese Veranstaltungen weisungsgemäß nichts gedruckt werden durfte. Als ich den Vortrag als Sonderdruck herausbrachte, sorgte er aus irgendeinem Topf für einen kleinen symbolischen Zuschuss, vor allem aber kaufte er 100 Exemplare ab und verteilte sie an die Theologiestudierenden. Becker veranlasste dann auch, dass die Arbeit über die Ev. Kirche im Russlandfeldzug sogar im Haus der kirchlichen Dienste vervielfältigt werden konnte.

Beim Landeskirchentag 1982 besorgten kirchliche Mitarbeiter/Innen aus unseren Gemeinden eine viel besuchte Ausstellung über "Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig und der Nationalsozialismus" im Altstadtrathaus in Braunschweig. Wir hatten begreiflicherweise im Landeskirchenamt nicht um Erlaubnis gefragt und OLKR Wandersleb, der Kollege von Becker, rief, als die Sache ruchbar wurde, in Offleben an, und verbot die Ausstellung. Aber es war alles bereits an seinem Platz. Das Echo war prima. Es lag nahe, diese Ausstellung nun auch in einer der Braunschweiger Stadtkirchen zu zeigen. Becker ermöglichte es, dass die Ausstellung in leicht veränderter Form in "seiner" Andreaskirche gezeigt

 

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wurde. Er sorgte im damaligen Kirchenvorstand für eine entsprechende Mehrheit. Die Ausstellung wanderte dann nach Loccum und Salzgitter-Lebenstedt und von dort durch ganz Niedersachsen. Jedoch gegen den erbitterten Widerstand von OLKR Kaulitz und Wandersleb. Becker stand in dieser Sache im LKA völlig allein und hielt die Sache durch. Noch wenige Monate vor seinem Tod ermunterte er mich wie schon früher öfters zu einer Darstellung der Geschichte unserer Landeskirche im 20. Jahrhundert und fügte immer hinzu: "auch wenn das einigen wehtun wird."

Ich kenne nicht viel Veröffentlichungen von Becker. Als ich ihn um einen Beitrag zur Heintzefestschrift 1987 bat, erklärte er sich spontan bereit und lieferte ein Manuscript ab mit der Überschrift: " Die Integration von Kirche und Mission", der einzige Beitrag aus dem Landeskirchenamt zum 75. Geburtstag des Altbischofs. Anfang dieses Jahres schickte er mir seine Ausarbeitung "Die Partnerschaft zwischen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig und der Japanischen evangelischen Lutherischen Kirche", eine 63 seitige Arbeit unter Auswertung von Quellen aus dem Landeskirchenamt, die eigentlich noch der 30jährigen Sperrfrist des Archivgesetzes unterliegen und auch aus dem Lutherischen Kirchenamt in Hannover. Schon wegen dieser Quellenlage eine Kostbarkeit.

Die letzte Grosstat Beckers mir gegenüber passierte, ohne dass ich dabei war, bei einer Sitzung der Kirchenvorstände von Reinsdorf-Hohnsleben und Offleben im Oktober 1998. Die Kirchenregierung hatte meine vorläufige Suspendierung beschlossen, die nach Abschluss der staatsanwaltlichen Ermittlungen in eine endgültige münden sollte. Die Kirchenvorstände wünschten ein Gespräch. Die OLKRäte Becker und Dr. Fischer kamen nach Offleben und am Ende der Sitzung erklärte die Vorsitzende kategorisch, wenn sie plötzlich stürbe, sollte Kuessner sie begraben. Becker dachte nicht an die rechtlichen Folgen und sagte aus seelsorgerlichen Gründen zu, dass in einem solchen speziellen Falle der Landesbischof um Genehmigung zu bitten sei. Dr. Fischer ließ diese kirchenrechtlich völlig unmöglich Zusage schweigend durchgehen. Der Kirchenvorstand weitete diese Ausnahmegenehmigung geschickt auch auf Gottesdienste und andere Kasualien aus, die dann zwar zum Weihnachtsfest komplett widerrufen wurde, aber da war es eigentlich schon zu spät. Wenn auch diese Ausweitung nicht nach dem gusto von Becker war, wie er mir später schrieb, so hatte er doch den Anlass zu diesem das ganze Verfahren schließlich völlig verändernden Verlauf gegeben. Sie landete in den Zustand der "charismatischen Illegalität". Seelsorge bricht Kirchenrecht. Das hatte mir OLKR Henje Becker vorgemacht. Nicht erst 1998. Das hohe Gericht der Lutheraner schrieb mir diese Zauberformel zu meiner Freude ins Urteil.

Im Umgang mit OLKR Becker konnte es im Gespräch zu ganz unversehenen Abbrüchen kommen, weil irgend ein Gebiet berührt war, bei dem er

 

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hyperempfindlich reagierte. Ich habe mich im zunehmenden Alter nicht davon beeindrucken lassen, sondern Becker offen gesagt, dass er einem Missverständnis erliege und ich würde in 10 Minuten nochmal darauf zurückkommen. Es war dann eine Weiterführung des Gespräches zwischen uns durchaus möglich.

Wenn man sich der Person Becker nähern will, dürfte eine Phase seines Lebens nicht übersehen werden, von der in den Nachrufen nicht die Rede ist. Becker ist zwar in Braunschweig geboren und hat dort zum Teil seine Kindheit erlebt, den anderen Teil seiner Kindheit, etwa ab 1943 war er in Seesen. Dort ist er zur Schule gegangen, hat seine Jungen- und Erwachsenwerdenzeit erlebt und am Seesener Gymnasium 1956 sein Abitur gemacht. Er war sportlich, spielte Hartplatztennis, machte beim Kindergottesdienst unter dem etwas wunderlichen Propst Frühling mit und widersprach dem Religionslehrer im Religionsunterricht, weil der meist von den alten Germanen quackelte. Die Seesener Verbindungen sind nicht abgebrochen. Im Trauergottesdienst in der Andreaskirche am 12. November waren auch alte Klassenkameraden dabei. Becker wird zumeist im Umfeld der Hauptkirche Andreas gesehen. Seine prägenden, ihn bestimmenden Eindrücke hat er in einer Braunschweigischen Kleinstadt erhalten. Und zwischen Seesen und Andreas liegt das Studium bei den Altlutheranern in Oberursel, Bischof Erdmann hatte ihm dazu beim Abituriententreffen geraten. Es hätte, wenn es nur um das Erlernen der alten Sprachen gegangen wäre, die Theologische Hochschule von Bethel näher gelegen. Nicht Bethel sondern Oberursel war eine Richtungsentscheidung. Er hat diesen Rat später weitergegeben. Manche aus unserer Landeskirche haben ebenfalls wegen der Sprachen in Oberursel studiert. (Joachim Fiedler, Volker Hanke, Konrad Beyer, Wilfried Steen, der erste Vikar Beckers). Diese Zeit einer gewissen lutherischen Engführung, in der schon sehr früh die Confession Augustana, der Grosse Katechismus und das Gerüst der lutherisch-orthodoxen Dogmatik gepaukt wurde, hat ihn später im Amt befähigt, die Verbindung auch zu den lutherisch orthodoxen Brüdern zu halten. Er hat nach Oberursel in Erlangen studiert und dann zum Examen in Göttingen. Die ihn im Studium und Examen erlebt haben, haben einen eher still und von Selbstzweifeln berührten jungen,Mann erlebt. Ich frage mich bei allen Oberurselanern, wann sie diese Engführung in ihrem theologischen Denkens aufgebrochen haben. Einige, die ihn gut kannten, sagen: Becker eigentlich nie. Ich würde sagen, dass die Begegnungen mit der Ökumene seinem theologischen Denken einen weiteren Horizont geschenkt haben. Aber es war eben nicht wie bei anderen von uns die massive theologische Auseinandersetzung mit Bultmann, Barth und Tillich, mit v. Rad und Baumgärtel, also mit den gegensätzlichen "theologische Schulen", in denen wir ein und aus gingen.

Insofern ist es nicht richtig zu sagen, OLKR Becker habe die Landeskirche theologisch geprägt. Er stand für einen seelsorgerlich offenen Umgangsstil, wobei man durchaus auch auf der Hut sein musste, dass man nicht plötzlich im

 

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Abseits landete. Das hat manche, die ich noch um einen Beitrag hier bat, veranlasst, darauf lieber zu verzichten. Ich hatte von den Vikaren im Predigerseminar erfahren, dass einige ohne ihre Mentoren kein Abendmahl austeilen durften. Das fand ich grotesk. Formal war das wohl richtig. Sie waren ja noch nicht ordiniert und standen im Verdacht, mit den Sakramenten nicht rite et recte hantieren zu können. Ich brachte in die Landessynode einen entsprechenden Antrag ein, der den Vikaren dies gestatten sollte. Wir tagten in einem vornehmen Hotel in Königslutter. Als der Tagesordnungspunkt aufgerufen wurde, erhob sich Becker und erklärte, die Sache sei völlig überflüssig, die Vikare dürften durchaus Abendmahl austeilen. Wie ich auf diese Idee käme. Ich schäumte, weil ich bei diesen Sachverhalt, den ich ganz anders dargestellt bekommen und übrigens zu Recht auch geglaubt hatte, vorher einen Wink erwartet hatte. So sollte ich öffentlich bloß gestellt werden. Es war das einzige Mal, dass ich wegen derlei Niederträchtigkeit die Sitzung vorzeitig verliess. Wir gingen uns eine Zeit lang aus dem Wege bis sie sich zwangsläufig wieder kreuzten. Becker empfand die Wahl von Peter Kollmar zum Oberlandeskirchenrat als eine ähnliche, nun gegen ihn persönlich gerichtete Niederträchtigkeit der Mehrheit der Landessynode. Beckers Kandidat war Wilfried Steen. Ob wirklich bei dieser Wahl alte Rechnungen beglichen wurden, weiss ich nicht. Ich empfand den Vorgang eher als synodal zulässig, wenn auch die Aufstellung von vier Kandidaten reichlich ungewöhnlich war. Dass dann das Referat II strukturell zurechtgestutzt wurde, bevor Kollmar seinen Dienst antrat, fand ich auch nicht in Ordnung und schrieb es in KvU. Das sind jene provinziellen Machtspielchen in der Behörde, die mich in Offleben glücklicherweise kaum berührten.

Immerhin macht der Synodalvorgang in Königslutter einen anderen, für OLKR Becker typischen Sachverhalt anschaulich. Becker war der klassische Mann der "Einzelfallregelung" im Landeskirchenamt. So hat er, wie Harald Welge und Klaus Pieper oben richtig beschreiben, viele "beschützt". Der eine lebte mit einer Frau im Pfarrhaus zusammen, wiewohl er mit ihr nicht verheiratet war, ein anderer hatte anderen stress mit der Lebensordnung und dem vorgeschriebenen "rechten Wandel", wieder ein anderer teilte Abendmahl an Kinder aus zu einer Zeit, wo das noch nicht mal Vorkonfirmanden gestattet war – Becker breitete darüber den Mantel seelsorgerlicher Begleitung, nur: es durfte nicht öffentlich werden und es sollten keinesfalls grundsätzliche Folgen gezogen werden. Und so hat es seinerzeit vermutlich Vikare gegeben, die Abendmahl austeilen durften und andere eben nicht. Einzelfallregelung. Die hatte ich mit meinem Antrag für eine generelle Erlaubnis gestört.

Ich glaube nicht, dass man eine Landeskirche nur "aus der Mitte" heraus leiten kann. Ich habe das z.B. bei Bischof Heintze anders erlebt. Heintze bezog deutliche theologische Stellung, durchaus nicht in der Mitte, schon gar nicht in einer verschwommenen lutherischen Mitte, aber er liess andere theologische Positionen gelten und er forderte unermüdlich dazu auf, dass andere ihre Position ebenfalls theologisch begründen möchten. OLKR Becker wollte

 

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widerstrebende theologische Positionen dadurch zusammenhalten, dass er das Streitgespräch geradezu ausschloss. Beispiel: meine Küsterin und ich besuchten in Helmstedt einen von Propst Heinz Fischer zelebrierten Abendmahlsgottesdienst. Meine Küsterin war entsetzt und deuchte sich in einem komplett katholischen Gottesdienst. Der Propst ging vielfach am Altar in die Kniee, da wurde die konsekrierte Hostie angebetet, der Wein aus dem Abendmahlskelch ausgetrunken, der Kelch demonstrativ ausgewischt. Zusammen mit Propst Kalberlah verfasste ich einige Thesen zum Abendmahlsverständnis, darunter auch um der Deutlichkeit willen solche wie: es gäbe keinen Augenblick in der Abendmahlsfeier, wo Leib und Blut Christi in den Händen des Pfarrers wären. Mir schwebte ein fröhliches Streitgespräch wenigstens im Konvent oder gar in der Landeskirche vor. Becker rang die Hände: Bitte keinen Abendmahlsstreit. So hat sich von der Mitte aus über die Landeskirche der schlaffe Schleier theologischer Konturlosigkeit gebreitet mit der problematischen Begründung, alles friedlich, geschlossen unter einem Kirchendach zu beherbergen. Es wird Zeit, dass gründlich gelüftet wird.

Henje Becker ist 65 Jahre alt geworden. Er ist zu früh gestorben. Er wurde infolge von Überlastung, Überanstrengung und Überforderung schließlich krank, hat schwere Operationen hinter sich gebracht und dann doch wieder im Amt angefangen. Wir hatten unseren sporadischen Briefwechsel wieder aufgenommen und ich saß stundenlang und entzifferte diese gewundene kleine unleserliche Handschrift. Von flüssigem Durchlesen und dann rasch reagieren – das ging nicht. Wir sind uns dienstlich – wir waren nur zwei Jahre auseinander – und dabei durchaus vertraulich begegnet. Persönlich nicht. Das ist offenbar für den schwierig, der sich vom Dienst völlig in Beschlag nehmen lässt. Ich lebte nach der Devise: für den Herrn Christus mach ich mich gerne kaputt, für die Kirche nicht.

Becker war ein persönlich frommer Mann. In den Wochen vor der neuen Bischofswahl telefonierte er noch mit Propst Hartig und bat ihn, keine anderen Kandidaten vorzuschlagen und von der Kirchenpolitik abzulassen. Sie stünden doch beide vor den Toren der Ewigkeit. Das war seine feste Zuversicht und davon wurde auch etwas im Trauergottesdienst an den Liedern spürbar. "Christus lebt, mit ihm auch ich. Christus lebt! Ihm ist das Reich über alle Welt gegeben. Mit ihm wird auch ich zugleich ewig herrschen – was hat sich Gellert dabei wohl gedacht? – ewig leben".


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