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[Kirche von unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Predigt von Dietrich Kuessner

am 4.11.2001 über Jesaja 62 1-12 in St. Petri, Braunschweig

Liebe Schwestern und Brüder an St. Petri,

So spricht der Herr: "Um Zions willen will ich nicht schweigen",
um der Kirche willen will ich nicht schweigen,
um dieser Gemeinde willen will ich nicht schweigen.
"Und um Jerusalems willen will ich nicht innehalten",
und um Braunschweigs willen auch nicht,
und auch um Deutschlands willen nicht innehalten -
Wielange will Gott nicht schweigen? bis....
ja bis eure Gerechtigkeit aufgehe. Gerechtigkeit in Zion und in Petri
Gerechtigkeit als Schmuckstück in unserer Landeskirche und im ganzen deutschen Land
und Gerechtigkeit auf diesem Erdball aufgehe wie ein Glanz
und Heil brenne wie eine Fackel, weithin sichtbar.
Warum will Gott nicht schweigen und nicht innehalten?
Wie ein junger Mann scharf ist auf ein junges Mädchen
und die er liebt, heiraten will,
so wird sich dein Gott über dich freuen.
Gott hat Lust auf seine Kirche,
Gott hat Lust auf diese Gemeinde wie sich ein Bräutigam freut über seine Braut.

Also ich wäre auf diese Idee nicht gekommen, und ihr seid vielleicht auch etwas überrascht, aber so lesen wir es in den Zeilen, die der a.t.Lesung vorangehen, als das Wort Gottes an uns.

Ich wäre auf diese Idee auch deshalb nicht gekommen, weil die Situation in unserer Landeskirche, und vor allem die Situation in Jerusalem damals, alles andere als rosig war.
Sie deutet sich in einigen Versen an: "man soll dich nicht mehr nennen die Verlassene". Jerusalem war vollständig isoliert. Um Jerusalem lohnte es sich nicht mehr. Es war kaputt.
Die Trümmer auf dem Grand Zero in New York und im Pentagon sind ein Klacks dagegen. In Jerusalem liegt nicht der Teil eines Stadtteils in Trümmern, sondern die ganze Stadt, nicht ein Regierungsgebäude sondern das gesamte Regierungsviertel.

Das Land ringsum vereinsamt, verödet und was da mühsam angebaut wird, (v 8) das Wenige, das Getreide, das holen sich die Feinde.
Den Weinstock plündern Fremde und saufen seinen Saft.
"Ich will dein Getreide deinen Feinden zu essen geben und deinen Wein die Fremden trinken lassen".

Man hat nicht als ersten Eindruck, dass Gott sich an Jerusalem und Umgebung freut, ganz im Gegenteil.
Man hat nicht als ersten Eindruck, dass sich Gott freut angesichts der Mordserien in Israel und USA und angesichts des Kriegsflottenaufmarsches im Indischen Ozean und im Mittelmeer, angesichts der unerhörten Bombenangriffe über Afghanistan - das kann ja wohl nicht Ausdruck der Freude Gottes sein, eher ein Ausdruck menschlicher und politischer Verblendung und Verirrung.

Stell dir vor, es ist Krieg und keiner merkt es.
Was ist denn am 11. September wirklich passiert?
Am Dienstag, dem 11. September, sind 35.687 Menschen verhungert, an einem einzigen Tag,
so viele, wie in eine mittelgroße Stadt passen,
von der Hungerbombe getroffen,
und am Mittwoch wieder ein Treffer und am 15. September wieder eine Bombe.
Bis heute ein Dauerbombardement - wo sind die Mörder? Wer wirft solche Bomben?
Was ist am 11. September passiert? Am 11. September wurde der Regierungspalast des chilenischen Präsidenten im enger Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Geheimdienst bombardiert und eine ganze Regierung gestürzt mit schrecklichen Folgen für ganz Lateinamerika - das war im Jahre 1973.
Erst wenn wir diese beiden 11. September mitbedenken, werden wir den Ereignissen am 11. September dieses Jahres einigermassen gerecht.

Man nennt dich "Verlassene", "Einsame".
Das kann auch von drastischen Veränderungen am Arbeitsplatz gesagt sein, wenn jemand Mitte vierzig plötzlich vor der Entlassung steht, wie jene Dutzende Journalisten im USA, die die Regierung kritisiert haben, oder im Helmstedter Raum 600 Mitarbeiter der BKB, bei der Deutschen Bank 7000, bei den Fluggesellschaften, die pleite sind oder sich ganz woanders eine neue Existenz aufbauen müssen.

Das ist nicht der düstere Hintergrund, von dem sich dann umso strahlender die Verheissungen Gottes abheben, - auf so einen Hintergrund könnten wir gerne verzichten. Das ist der kriegerische Zustand, in dem wir drinstecken und über den wir uns auch am Sonntag morgen mit der Bibel in der Hand und mit paar bekannten Liedern nicht hinwegträumen können, sondern umgekehrt: ganz gegen unsern Willen zeigt uns Gott mit diesen Wort und Bild von Jerusalem unsere Lage. "Es mag sein, dass alles fällt, das die Burgen dieser Welt um dich her in Trümmern brechen"..... oder mit den Worten des Psalms, den wir vorhin im Wechsel gebetet haben: "Kommt her und schauet die Werke des Herrn, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet, der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spiesse zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt."

"O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt.." Die sollen aufpassen und rufen, den ganzen Tag und die Nacht hindurch auch.
Das sind Wächter nicht hoch oben auf den Zinne mit Blick auf anrückende Feinde, sondern Wächter zwischen den Mauerruinen, zwischen den geschleiften Stadtmauern Jerusalems. Wozu braucht es Wächter, wenn Land und Stadt sowieso dem Feind gehören?

"Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen. Lasst ihm keine Ruhe."
Das ist die Aufgabe dieser Gemeinde und unserer Kirche: Zu erinnern, was Gott tut und ihn anrufen, ihn erinnern.
Wie Abraham mit Gott um die Zahl der Gerechten in Gomorrha feilschte; wie Jesus selber eine Witwe zum Vorbild macht, dass man "allezeit beten und nicht nachlassen solle" (Luk 18,1),
so hat Gott diese Gemeinde, unsere Kirche zu Wächtern bestellt,
zu wachsamen Menschen, die sich nicht wegträumen, sondern Jerusalem und das Land im Blick haben und darüber Gott anrufen, mit geschärftem Blick.
"Bis .. bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden." Bis sich endlich Gerechtigkeit und Friede küssen in Afrika und Amerika, in Asien und auch bei uns. Bis auch in Afrika und Asien, in der sog. Dritten Welt, das Getreide und die Rohstoffe nicht mehr von den Feinden und dem Kapital von Banken und Industrie aufgezehrt wird. "Afrika ernährt Europa" hieß ein Vortrag, den ich kürzlich bei einem Kongress gegen die Verelendung in der Welt hörte, und am Dienstag hält Prof. Raffer in der ESG einen Vortrag über die Verschuldung dieser Länder.
Wachsam sein! Wächter mit verklebten Augen taugen nichts und Wächter, die zum furchtbaren Unrecht der Berliner Regierung schweigen, taugen nichts.

Liebe Schwestern und Brüder, das ist also eine Aufgabe fürs ganze Leben, auch für uns Alte, die wir gerne sagen: da hat man doch nichts als Ärger mit, wir lassen es so laufen, wie es kommt. Man kann ja doch nichts ändern.
O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt,
ich habe dich zu Wächtern bestellt
und nicht nur das, sondern:
"Machet Bahn, räumt die Steine hinweg, richtet ein Zeichen auf für die Völker."
Man möchte sich ja mal irgendwann verschnaufen von den Zumutungen dieses Textes.
Und deswegen frage ich zwischendurch: Was meint ihr, warum dieser Text gerade zum Reformationsfest ausgesucht ist? Wird Martin Luther als so ein Wächter verstanden, der in seiner damals von Ablass, Anmassung, Ignoranz und Herrsucht zerstörten Kirche, auch in seiner persönlichen bedrängten Lage, Gott angerufen hat, bis - ja bis er die Kraft hatte, sich innerlich von dieser Kirche zu trennen in dem Glauben: Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.
"Räumt die Steine hinweg!" Als einen besonders dicken Stein, ein besonders ärgerliches Hindernis empfand Luther das römische Kirchenrecht. Und er nahm das dicke Gesetzbuch und unter dem Jubel seiner Studenten verbrannte er es vor dem Stadttor. Kirche ohne lästige Paragrafen, die das Evangelium ersticken, und dann gab es Jahre lang kein Kirchenrecht. Glückliche Jahre allein mit dem Evangelium irgendwo neben der offiziösen Kirche.

Und so ist es bis heute geblieben: "Machet Bahn, räumt die Steine hinweg."
Da hat in Wenden meine frühere Küsterin als junges Mädchen vor 70 Jahren ihr erstes Kind zur Welt gebracht, aber die Hochzeit kam erst zwei Jahre später. Also unehelich! Bei der Taufe brannten keine Kerzen auf dem Altar und Glocken wurden auch nicht geläutet, wegen der "Schande". Und als sie dann selber Küsterin war und ein junges Mädchen brachte ein uneheliches Kind zur Taufe in die von ihr geputzte und beläutete Kirche, da hat sie in ihrer geistlichen Verantwortung den Altar festlich geschmückt wie immer. Das war wachsam und den Blick über das Kirchenrecht hinweg auf das Evangelium und die Menschen.

Da kommt jemand und bittet um die Bestattung eine Angehörigen, der nicht in der Kirche ist. Da gibt es Gründe, die Bestattung zu verweigern, aber es gibt auch Gründe, die Bestattung vorzunehmen. Vor 30 Jahren noch ein schweres Vergehen gegen das Kirchenrecht. Aber wie oft ist das dann doch geschehen.
Da wollen zwei Männer oder zwei Frauen für ihr gemeinsames Leben gesegnet werden. Welch schönes Angebot an die Kirche. Wo das Bewusstsein wach ist, daß die ungeteilte seelsorgerliche Verantwortung bei der Kirchengemeinde liegt, da sind wir "gut lutherisch". Keine Kirchenleitung, kein Propst kann einer Gemeinde diese seelsorgerliche Verantwortung abnehmen. "Machet Bahn, räumt die Steine hinweg".

Und so sind wir durch den Weg über Luther wieder mitten im Text.

Wie wird man nennen jene wachsamen Wächter,
die die Mörder mit der Hungerbombe aus der Anonymität herausholen,
den Bombenkrieg gegen Afghanistan im Namen des Christentums mörderisch nennen,
die sich bei denen und ihren Familien einfinden, die beruflich vor einer dramatischen Wende stehen,
die ganz beim Evangelium bleiben auch gegen das Kirchenrecht,

"man wird sie nennen "Heiliges Volk", "Erlöste des Herrn", "gesuchte und nicht mehr verlassene Stadt".

Es mag ja sein, dass Lug und Trug eine Weile Meister ist, besonders in Kriegszeiten,
dass der Fromme niederliegt,
dass Frevel und Plagen überhand nehmen.
Halte du den Glauben fest: dass dich Gott nicht fallen lässt, er hält sein Versprechen. Amen

Autor: Dietrich Kuessner
Erstellt am: 05-Nov-2001 11:00 PM


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