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[Kirche von unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

(Seite 3)

Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis, 26. August 2001,
in der Wichernkirche Lehndorf

Predigttext: Lukas 7, 34-50
(Jesu Salbung durch die Sünderin)

"Kann denn Liebe Sünde sein?
Darf es niemand wissen,
wenn man sich küsst,
wenn man einmal alles vergisst
vor Glück?"

I/K.

Hörst du es auch, das Getuschel?
Das Flüstern hinter vorgehaltener Hand,
das Gemurmel der Stimmen?
Hörst du die kleinen spitzen Bemerkungen,
den unverhohlenen Spott?
Siehst du sie auch, die zusammengesteckten Köpfe,
die Gesichter,
manche verblüfft, manche empört?

Ich jedenfalls sehe sie förmlich vor mir:
Wie sie wohl ausgeschaut haben,
die Gesichter der Umstehenden damals.
Die Gesichter derer, die zusehen,
wie eine namenlose, gewiß keine unbekannte Frau,
die Szene betritt.
Ich sehe die gespannten Gesichter,
höre, wie sie den Atem anhalten,
wie sich alle Augen heften
auf die Szene, die sich jetzt abspielt
zwischen einer unheiligen Frau
und dem heiligen Mann.
Wie sie niederkniet,
weint, ihre Haare löst,
wie sie seine Füsse berührt,
trocknet,

(Seite 4)

küsst,
mit duftendem Öl übergießt.
Still wird es gewesen sein,
sehr still,
ein Knistern in der Luft.

Und ich weiß nicht,
ist das, was dort geschieht,
ist das hinreißender Überschwang
oder peinliche Übertreibung?
Soll ich da weiter zusehen,
oder lieber weggucken?
Und eine Liedzeile kommt mir in den Sinn:

"Kann denn Liebe Sünde sein?"

I/G.

Mit ist unbehaglich bei dieser Szene.
Ich würde am liebsten wegsehn.
Ich kann diesen Überschwang, diese Nähe,
diese Intimität kaum aushalten.
Ich werde gezwungen, etwas mit anzusehen, was ich selbst nicht in die Öffentlichkeit tragen möchte. - Das ist wie mit den Kußszenen im Kino:
bei denen gucke ich auch immer weg.
Ich möchte diese beiden Menschen, die alles um sich herum vergessen,
nicht stören - selbst wenn die Vertrautheit nur gespielt ist.

Es wird viel zu viel Privates ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt.
Es gibt viel zu viel nackte Haut zu sehen.
Ich will das alles nicht sehen.
Ich möchte nicht Zeuge sein, wenn zwei Menschen miteinander eine Grenze überschreiten.
Ich will das nicht wissen.

Peinlich ist mir diese Szene auch deshalb, weit sie jedes Maß übersteigt.
Den Fuß eines anderen mit den eigenen Tränen zu waschen, mit den eigenen Haaren zu trocknen und mit Küssen zu bedecken - das ist doch nicht mehr normal.

(Seite 5)

Das ist nicht normal ... sollte ich doch hinsehen?
Sollte ich nicht besonders auf das achten, was meine vorgebliche Normalität infrage stellt, kritisiert durch sein Anderssein? Was ist denn eigentlich "normal"? Wer entscheidet das?
Ja, ich sollte hinsehen. Ich sollte mich dieser peinlichen, überschwänglichen Situation stellen. Denn, wenn ich ehrlich bin, bringt sie zum Ausdruck, was ich mir im Geheimen ersehne: Liebe, überschwängliche Liebe. So geliebt zu werden ...

Kann denn Liebe peinlich sein?

II/K.

"Auch wenn sie es wär, wär's mir egal ..."

Eigentlich ist doch wunderschön, was da passiert.
Zwei sind sich sehr nahe.
Zwei, die nicht viele Worte machen müssen, um sich zu verstehen.
Die spüren, was für den anderen jetzt wichtig ist, was er, was sie braucht, was die angemessene Verhaltensweise ist.

Die namenlose Frau, die Jesus die Füße wäscht, sie tut nur, was ihm als Gast in einem Hause nach alter orientalischer Sitte gebührt:
der Respekt vor dem Gast drückt sich aus im Waschen seiner Füße.
Und wenn sie ihn küsst, so zeigt sie damit ihre Verbundenheit und ihre Liebe.
Und das nicht irgendwie vergeistigt, verinnerlicht, sondern sichtbar und spürbar.
Es ist doch wunderschön, was da passiert.
Diese Frau handelt nicht nach dem Maßstab des Gastgebers, der ganz und gar vergisst, was zum höflichen, respektvollen Umgang gehört.
Und sie handelt auch nicht nach dem Maßstab derer, die beflissen die Contenance wahren.
Nein, sie bringt Jesus entgegen,
was ihm gebührt: allen Respekt, alle Liebe.

II/G.

Von der Frau war die Rede.
Aber was ist eigentlich mit Jesus?

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Was tut er, während die Frau ihn mit ihrer Liebe und Zärtlichkeit zudeckt?
Ist er der Welt so entrückt, dass er die Sinnlichkeit dieser Situation nicht wahrnimmt? Oder fühlt er nichts?
Weiß er nicht, mit was für einer er es zu tun hat?
Kennt er sich etwa nicht aus in dieser Stadt?

Zuerst einmal kann man feststellen:
Jesus läßt geschehen, was geschieht.
Und wahrscheinlich genießt er es auch - ja. Ja, so ist es.
Jesus hindert die Frau nicht,
das zu tun, was sie tun muß.
Aber er mißversteht sie auch nicht.
Er mißversteht nicht den Respekt, den sie ihm erweist.
Er mißversteht nicht die Zärtlichkeit,
mit der sie seine Füe wäscht und pflegt.
Er benutzt sie nicht.
Jesus weiß, um was es wirklich geht, was jetzt "dran" ist.
Er bleibt gelassen.
Und er redet nicht von Moral ...

III/K.

Warum eigentlich nicht?
Gibt es denn zu dieser Frau und ihrer Vergangenheit nichts zu sagen?
Kann Liebe etwa nicht Sünde sein?
Hat der alte Schlager recht?
Kann jeder machen, was er will?
Ist alles erlaubt, was gefällt?

Das ist irritierend.
Wir wünschen uns oft, dass eine uns sagt, was geht und was nicht.
Dass einer entscheidet, was verzeihlich und was unverzeihlich ist.
Wir wünschen uns klare Worte.
Deutliche Maßstäbe, nach denen wir entscheiden können, wer schuldig, wer unschuldig ist.
Wer sündhaft verloren und wer gerettet ist.
Wir möchten wissen, zu wem wir ja sagen und zu wem nein.
Mit wem wir Umgang haben können
und von wem wir uns lieber fernhalten sollten.
Da muß es doch Regeln geben.

(Seite 7)

Da muß doch einer das letzte, das entscheidende, das gültige Wort haben.

III/G.

Und Jesus sagt ja auch etwas.
Aber, wie immer, wenn es um göttliche Geheimnisse geht, sagt er es nicht rundheraus, nicht eindeutig, sondern in einem Bild: im Gleichnis.

Jesus erzählt von Schuldnern.
Nicht von Schuldnern und solchen ohne Schulden, nicht von Bösen und Guten, Schwachen und Starken - er erzählt ausschließlich von Schuldnern. Seine Hörerinnen und Hörer - wir - haben keine andere Wahl, als uns damit gemeint zu fühlen.
Es sind nur Schuldner da.

Jesus spricht uns alle als Schuldner an und ignoriert die moralischen Unterschiede, die gesellschaftliche Stellung und auch das Engagement und den Einsatz für den Glauben.
Auch wer nur 50 Silbergroschen schuldet, hat ein Minus:
auch der ist ein Schuldner.
"Es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten." (Röm 3,23)

Jesus stellt nicht fest, was erlaubt ist und was verboten - wie wir es uns erhofften.
Jesus wertet nicht, welche Sünde schwerer wiegt und weiche leichter.
Jesus rät nicht, wen man meiden und wen man an sich heranlassen sollte.

Jesus stellt vielmehr fest:
Wir alle haben Schulden bei ihm.
Das gehört zu unserem Menschsein.
Und er hat sie uns erlassen.
Das steht allein in seiner Macht.
Und Jesus fragt:
Wie groß ist deine Dankbarkeit?
Bist du dir überhaupt bewußt,
dass du Schulden hattest,
die ich dir erlassen habe?

(Seite 8)

Hast du mit deinen Pfunden gewuchert,
bist du das Risiko eingegangen, schuldig zu werden
- um der Liebe willen?

Wie groß ist deine Dankbarkeit?

IV/K.

So groß, dass Tränen fließen.
So groß, dass man auf die Knie sinkt.
So groß, dass egal ist,
ob andere das passend finden oder nicht.
So groß, weil deutlich wird:
es gibt diesen einen,
der um mich weiß,
der weiß, wie ich bin,
was ich tue und warum ich es tue.
Diesen einen,
dessen Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben und Lieben,
nach Schuld und Sünde, lautet:

"Dein Glaube hat dir geholfen, geh hin in Frieden."

IV/G.

Wenn alle schuldig sind -
Wo bleibt da die Moral?
Wenn Jesus allen vergibt -
Wo ist denn da noch eine Grenze?

Jesus banalisiert die Sünde nicht.
Er erspart der Frau die Demütigung
und die Buße nicht.
Aber Jesus wieß, dass zu unserem Bemühen, zu Leben und zu Lieben, auch das Schuldigwerden gehört
- ja, dass es Leben und Lieben ohne Schuld nicht gibt.
Mit anderen Worten - denen Dr. Martin Luthers -:

"pecca, sed pecca fortiter"
sündigen mußt du - also sündige tapfer:

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Sei dir bewußt, dass du der Möglichkeit, schuldig zu werden, nicht entkommen kannst. Und darum stelle dich mutig dem Leben und eben dieser Möglichkeit der Schuld
- weil du damit das Wunder der Liebe vollbringen kannst.
Wer weiß, dass Schuld unvermeidbar ist, kann Mensch bleiben
und muss sich nicht göttliche Vollkommenheit anmaßen.

Deshalb ist auch nicht der fromme Pharisäer unser Vorbild in dieser Geschichte. Denn er ist es, der schuldlos sein will wie Gott
- und das ist die eigentliche, die schwerste Sünde: Wie Gott sein zu wollen - und nicht Mensch, nicht Sünder zu sein.

So wird die vermeintliche Sünderin zur wahrhaft Gerechten unserer Geschichte, indem Jesus sie freispricht.
Und sie wird - und das ist das eigentlich Skandalöse und vielleicht auch Peinliche - sie wird zum Vorbild für uns.
An ihr sollen wir uns ein Beispiel nehmen
- nicht, was die Fehltritte angeht.
Wohl aber, was den Mut und die Fähigkeit zur Liebe
und die Dankbarkeit für das Geschenk der Vergebung angeht.
Von ihr lernen wir, wo Liebe, überschwängliche Liebe wirklich zu finden ist. Sie zeigt uns den, der unseren Hunger nach Liebe wirklich stillt.

Von dieser Frau lernen wir:
"Liebe kann nicht Sünde sein."

V/K.

Liebe ist hier im Überfluß vorhanden.
Verschwenderisch geradezu.
Sie zeigt sich in zärtlicher Berührung
Und im Kuss.
Sie zeigt sich im Respekt, im respektvollen Umgang: im Niederknien,
im Füßewaschen.
Und sie zeigt sich in Erkenntnis und Klugheit:

Wie so oft im Leben
ist es auch hier das sorgsame Auspendeln
zwischen respektvoller Distanz
und liebevoller Nähe,
das es ermöglicht,

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den anderen zu erkennen
als den, der er wirklich ist.
Aus der respektvollen Distanz des Niederkniens
und der zärtlichen Nähe des Kusses erkennt die Frau,
wer dieser Jesus ist:
Der Gesalbte Gottes.
Der, der Sünden vergibt.
Der, der Leben eröffnet,
wenn es keine Lebensmöglichkeit mehr zu geben scheint.

Und ausgerechnet diese Frau,
deren Namen wir nicht kennen,
verrufen und gemieden als große Sünderin,
ausgerechnet diese Frau erkennt, was kein anderer zu sehen vermag.

Und deshalb soll diese Predigt enden mit einer Liebeserklärung an diese Frau:

Du Namenlose,
ich genieße deinen Überschwang
ich bewundere deinen Mut
ich möchte teilhaben an deiner Erkenntnis.

Und das alte Lied:
"Kann denn Liebe Sünde sein?"

"Wem aber wenig vergeben wird,
der liebt wenig."

Amen.

Kristina Kühnbaum-Schmidt
Güntzel Schmidt


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Stand:09-Mrz-2002 09:26 PM
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