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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 104, März 2002, Seite 40-42
(Download als pdf hier)


KIRCHE VON UNTEN IM WAHLJAHR

von Kurt Dockhorn

Eberhard Fincke hat im letzten Heft der KvU dafür plädiert, bei aller Kritik an der gegenwärtigen Regierung sie bei der anstehenden Bundestagswahl dennoch wieder zu wählen ("Der 11. September und Luthers Zwei Reiche - Friedensbewegung und Terrorismusbekämpfung11"). In der vorliegenden Nummer setzt er seine Auseinandersetzung mit dem Pazifismus fort, argumentiert, daß Außenminister Fischer immerhin das militärische Element zugunsten des politischen zu verringern versuche und daher unsere Unterstützung brauche. "Wer aber jetzt die rot-grüne Regierung beschimpft..., ebnet Stoiber den Weg. So einfach ist das", schlußfolgert Fincke. Was den Pazifismus angeht: Nicht erst heute muß er sich vorhalten lassen, daß mit ihm keine praktische Politik zu machen sei, Mahatma Gandhi und Martin Luther King zum Trotz. Aber ich finde es nicht in Ordnung, wenn Fincke den Pazifismus als ökologisch blind und sozial uninteressiert beschreibt. Vielmehr liegen ja starke pazifistische Motive in der Erkenntnis, daß Krieg immer auch Umwelt zerstört, vergiftet, irreparabel beschädigt und daß jede Mark für Rüstung dem gesellschaftlich-sozialen Bereich entzogen wird. Ist Pazifismus wirklich so kurzsichtig, diese Zusammenhänge zu übersehen?

Also: Schröder ja, Stoiber nein. Nun denn. Zunächst ist davon auszugehen, daß hierzulande (wie in fast allen Ländern der Welt) keine Regierung installiert wird, die dem Kapital nicht genehm ist (Das gilt selbst für die Berliner Stadtregierung, in der jetzt ausgerechnet die PDS helfen darf, all das aus dem Wege zu räumen, was dem Neoliberalismus zu viel Staat ist). 1998 zeigte sich bald, daß das Kapital und die ihr gehörenden Medien in ihrer Einschätzung richtig lagen, daß eine von Schröder geführte und von den Grünen gestützte Bundesregierung den Sozialstaat hemmungsloser demontieren und Kriegsbeteiligung skrupelloser durchführen würde als eine Regierung Kohl. Und der nicht zu unterschätzende Vorteil von Rot-Grün und wahrscheinlich die größte Leistung der gegenwärtigen Regierung: Alles, was in der zivilgesellschaftlichen Bewegung da war an friedenspolitischer, sozialer, ökologischer Opposition wurde, als Hoffnung auf Rot-Grün projiziert, eben da beerdigt. So viel Ruhe war nie im Lande.

Fragen wir nach der Bilanz dieser Regierung und dem zu verhindernden größeren Übel namens Stoiber. Die Umweltpolitik dieser Regierung ist enttäuschend, nicht nur für die Verbände, auch im europäischen Vergleich. Kein Vertreter der Atomindustrie würde, zurecht, den sog. Konsens als "Ausstieg" bezeichnen. Im Interesse des Standortes Deutschland würde die Regierung lieber heute als morgen die Tarifautonomie beseitigen. Leider sind die Gewerkschaften noch zu stark. Die Deregulierung schreitet munter voran, Rot-Grün bereitet den Boden für die Einführung der Billiglöhne und will die davon Betroffenen auch noch ihre Rente selber finanzieren lassen. Ja, und die Gewöhnung an den Krieg als ganz normale Einmischung weltweit, die ist auch prima gelungen.

Einen direkten Vergleich Stoiber-Schröder hat die Bildzeitung angestellt: das Ergebnis ist, daß keiner sich vom andern überbieten läßt in Demagogie und Populismus gegen Ausländer, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Daß Schröder VW-Mann ist, Stoiber BMW-Mann, was soll's? Beide sind gleich gute Sachwalter der deutschen Industrie und ihrer Exportinteressen, und sie sind gleich bereit, dem die Belange von Sozialpolitik, Ökologie und Friedenspolitik unterzuordnen. "So einfach ist das", um noch einmal Eberhard Fincke zu zitieren.

Aber ganz ohne Ironie: Wir haben eine tiefe Institutionen- und Parteienkrise. Wir sehen sie in der Arbeitsverwaltung als jüngstem Beispiel, wir sehen sie in der Selbstauslieferung der Politik an die Vorgaben von Kapital und Wirtschaft. Wir sehen sie in der Artikulationsschwäche der Kirchen in nahezu allen fundamentalen Fragen der Gesellschaft. In dieser Situation auf eine Regierung zu setzen, die mit ihren Rezepten am Ende ist und durch die Bank schwer beschädigtes Personal anbietet, überhaupt auf eine Parteienkonstellation als mögliche Garantin für die Fortführung der Geschäfte zum Guten zu hoffen, erscheint mir wenig plausibel. Die Entwicklung sowohl der Konflikte wie auch der Institutionen, die sich an ihnen abarbeiten, hat doch wohl einen Stand erreicht, der uns zwingt, nach etwas anderem Ausschau zu halten, uns für etwas Neues stark zu machen. Ansätze sehe ich in ATTAC, Ansätze sehe ich im Welt Sozial Forum. Die vorhandenen Kommunikationstechniken ermöglichen es - und es passiert ja längst, daß betroffene Gruppen sich weltweit abstimmen, daß Bewegungen und Wissenschaftler Verbindung aufnehmen, um so die allwaltenden Expertokratien aufzumischen. Und Energie und Phantasie wären heute zu investieren in eine neue europaweite Bewegung, die Nichtregierungsorganisationen mit ihrer ökologischen, sozialen und friedenspolitischen Dringlichkeit zusammenführen mit Gewerkschaften und Wissenschaften. ATTAC ist dafür einstweilen kein schlechter Name und der steht nicht dafür, daß es am 22. September 2002 um die Bestätigung von Rot-Grün ginge.




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