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[Kirche von unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von unten Nr. 117, März 2006, Seite 19-31
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Siebenbürgen

von Herbert Erchinger

Ich sitze auf dem Friedhof von Michelsberg bei Hermannnstadt in der Abendsonne. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick auf das alte sächsische Dorf mit seinen drei Kirchen, das Ganze umrahmt von herbstlich bunten Buchenwäldern auf den Hängen der schneebedeckten Karpaten.. Ein paar Meter weiter sitzt Gudrun und zeichnet ganz versunken. So nehme ich eben auch meinen Stift und beginne schon mal meinen Reisebericht für KvU. Es ist schließlich der letzte Abend einer Reise voller unterschiedlichster bewegender Eindrücke und Begegnungen..
Und es war auch die letzte einer langen Kette von Reisen, die ich seit meiner Studentenpfarrerzeit gemeinsam mit den Teilnehmern organisiert habe.
Siebenbürgen hatte mich schon lange interessiert. Schon in meiner ersten Gemeinde in Hannover gab es Treffen von Siebenbürger Sachsen voller Heimweh und Heimatliebe. Und doch hatten sie alle ihre Auswanderung mit Entschlossenheit, Gottes und Genschers Hilfe betrieben.
Das hatte mich schon immer mit Trauer erfüllt. Kirchliche Arbeit in all meinen Pfarrämtern hatte es ja immer mit Vertriebenen und mit der Aufarbeitung des Traumas der Vertreibung zu tun. Vertriebene waren immer unter den Aktiven in der Gemeinde. Predigt, Seelsorge und Amtshandlungen umkreisten ständig den Verlust der Heimat, die Schuldfrage der Nazizeit und des Krieges. Die Ost- Denkschrift der EKD polarisierte und sensibilisierte. Sie war ein Angelpunkt der Konfliktfähigkeit in Kirche und Gesellschaft und hat mich damals politisiert, noch vor der Studentenbewegung.
Doch hier lag für mich immer der Unterschied: Die Vertreibung aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern und Sudetenland war eine Vertreibung ohne Wenn und Aber. Auch da war es schmerzlich genug, die Endgültigkeit zu akzeptieren. Aber Siebenbürgen? Rumänien war der einzige Ostblockstaat, der seine deutsche Minderheit nicht vertrieben hat. Trotz aller Härten einer stalinistischen Diktatur, trotz Enteignung und Verarmung gab es weiter deutsche Schulen, deutsche Kirchen, ja sogar mit eigenem Konsistorium und Bischof. Übrigens bis heute.
Die Siebenbürger Sachsen hatten das Land am Karpatenbogen seit 1142 besiedelt und eine blühende Hochkultur geschaffen. Sie haben Mongoleneinfälle, Tartarenstürme, Türkenkriege und Pestzeiten in ihren Kirchenburgen abgewettert, als erstes Land in Europa die Schulpflicht flächendeckend eingeführt,.sich unter wechselnder Oberhoheit der Ungarn, Osmanen, Habsburger und Rumänen in ihrer Eigenständigkeit behauptet, waren sogar 1550 mitten in der Türkenzeit geschlossen zum lutherischen Glauben übergetreten. An Überlebenswillen hat es nie gefehlt.
Erst der Zweite Weltkrieg war ein schwerer Aderlaß. Im mit den Nazis verbündeten Rumänien wurden die jungen Männer zur Waffen-SS eingezogen und die Überlebenden nach Krieg und Gefangenschaft nach Deutschland „repatriiert“. Im Rahmen der Familienzusammenführung entstand so mehr und mehr der Sog nach (West-) Deutschland. Das Gefälle in Freiheit und Lebensstandard tat ein Übriges. Und dann handelte Genscher mit Ceaucescu ein folgenschweres Kopfgeldabkommen aus, das die Auswanderung noch beschleunigte. Am tragischsten finde ich aber, daß ausgerechnet die Wende 1989 samt der absehbaren Chance einer demokratischen Zukunft in der EU nicht etwa zum Bleiben, sondern erst recht zum Ausbluten der deutschen Gemeinden führte. Von ca 200000 Deutschen (1960) sind heute nur noch ca 40000 vornehmlich Betagte geblieben. Noch immer kann ich diese Selbstvertreibung nicht begreifen. Und nachdem ich die Schönheit der Landschaft, der Dörfer und Städte Siebenbürgens, die Schätze der Kirchenburgen, den Verschönerungswettlauf Hermannstadts (Kulturhauptstadt 2007) gesehen habe, frage ich mich, ob man sich wirklich in der Weststadt in Braunschweig wohler fühlt und mehr Zukunftschancen hat als dort. Eine beklagenswerte Entwicklung. Wäre nicht eine Rückkehrerstiftung sinnvoll?
Doch zurück zu unserer Reise: Über das Konsistorium der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Hermannstadt hatten wir uns die Quartiere in kirchlichen Heimen besorgt. Das hat sich sehr bewährt. Wir wurden sehr herzlich aufgenommen und liebevoll betreut. Am Samstag abend reisten wir in Wolkendorf (Vulcano) bei Kronstadt an. Gleich am nächsten Sonntagmorgen nahm uns der Pfarrer mit nach Neustadt (Cristian) zum Gottesdienst der deutschen Gemeinde. Die gute Predigt über Mt 10, 34-39 „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen sondern das Schwert“ betonte die Notwendigkeit von Konfliktbereitschaft und Zivilcourage gegenüber einem faulen Frieden. Aber auch im Gottesdienst war das Sitzen auf gepackten Koffern spürbar. Bei der Abkündigung Verstorbener wurde formuliert: „In Stuttgart verstarb unser Gemeindeglied X.“ Immerhin ging die Trauerkollekte in die Heimat. Fast alle Gemeindeglieder, mit denen wir ins Gespräch kamen, hatten ihre jüngere Verwandtschaft in Deutschland. Für manche war es zu spät zu Auswanderung und notwendiger Umschulung. Manche berichteten von erfolgreichen aber langwierigen Prozessen um die Rückerstattung ihrer enteigneten Häuser und Grundstücke. Es war gut und tröstlich, noch deutsche Sprachinseln zu erleben.
Nach einem opulenten Mittagessen, wo allein schon die Vorsuppe satt machte, ging es gleich zur nächsten Feier nach Marienburg (Feldiora). Es war nämlich der Jahrestag der Schlacht von Marienburg am 19.10.1612 .Dort hatten die Sachsen mit einem Aufgebot Kronstädter Studenten vergeblich versucht, den ungarisch-siebenbürgischen Fürsten Bartoly aufzuhalten, der die Rechte der Siebenbürger Sachsen abschaffen wollte.Auf einem Hügel stand das Denkmal, vor dem die Feierstunde stattfand, die mich an unsere Volkstrauertage erinnerte. Hier war ein großer Teil der Sachsen aus dem ganzen Bezirk Kronstadt, dem Burzenland angereist. Posaunenchor, Kinderchor, Jugendbachchor, sie alle traten stimmgewaltig auf und machten hervorragende Musik . Hier erlebte ich zum ersten Mal, daß trotz Abwanderung noch viele kulturelle Institutionen nicht zuletzt deutsche Schulen intakt sind. Das ist ein Stück Zukunftsfähigkeit, das mir Hoffnung macht.
Nach der Gedenkfeier ging es geschlossen in die nahe riesige Kirche, die nur noch 35 Gemeindeglieder hat. Aber zu diesem Anlaß war sie gut gefüllt. Kirchenmusikalisch noch einmal eine Steigerung. Der Bachchor aus Kronstadt, ein Gospelchor. Eine junge Pfarrerin predigte eindrucksvoll. Erst später erfuhren wir aber, daß die Austeilung des Abendmahls durch Frauen tabu ist.
Nach Kaffee und Kuchen für alle Beteiligten, wo die Jugendlichen untereinander rumänisch sprachen, fuhren wir zufrieden nach Wolkendorf zurück, durchaus beeindruckt von lebendigem kirchlichem Leben unter schwierigen Umständen. Immerhin hatten wir an diesem Tage dreimal das Vaterunser gebetet und zweimal eine gute Predigt zum gleichen Text gehört. Kirche satt. Dazu hatten wir an diesem Tag einen tiefen Einblick in die kirchliche und soziale Wirklichkeit sowie das Geschichtsbewußtsein der Siebenbürger Sachsen gewonnen.
Wie steht es um die Zukunfts- und Lebensfähigkeit dieser Kirche?
Statistisch ist es erst einmal eine sterbende Kirche. Wenn in einem großen Ort von über 1000 Einwohnern nur noch 35 -100 meist ältere Gemeindeglieder zu finden sind, wie sollen die die riesige Kirche samt Gemeinderäumen und Pfarrer überhaupt noch unterhalten, auch wenn der unverwechselbare Sachsenkirchturm nach wie vor das Zentrum und das Gesamtbild des Ortes prägt?
Hoffnung macht aber, daß die Auswanderung heute gestoppt ist und viele kirchliche und kulturelle Institutionen noch intakt sind. Auch rumänische Kinder gehen gern in die deutschen Schulen und deutsche Chöre. So kann die sächsisch- siebenbürgische Landeskirche sich vielleicht langsam in eine rumänisch lutherische Kirche verwandeln. Die guten deutschen Schulen und kulturellen Einrichtungen erleichtern aber auch eine gewisse Rückwanderung und Einwanderung deutschsprachiger Familien. Solche haben wir auch mehrfach kennengelernt. Wer aus beruflichen Gründen nach Siebenbürgen kommt, hat keine Probleme, für seine Kinder eine gute deutsche Schule zu finden. Sogar ein deutsches Theater und einen guten Chor findet man in den größeren Städten.
Zukunftsfähigkeit –„Aufwuchsfähigkeit“- hängt am Erhalt von Institutionen, insbesonde Bildungsinstitutionen. Das wurde uns in Siebenbürgen täglich vor Augen geführt.

Eine Besonderheit in Siebenbürgen sind die Kirchenburgen, die seit dem 14.Jh zum Schutz der Gemeinden vor den häufigen Überfällen aus den Osten errichtet wurden. Die Sachsen waren ja von Anfang an als Wehrbauern zum Schutz der Karpatengrenze des damaligen ungarischen Königreiches angesiedelt worden. Den Wahlspruch: „Ad retinendam coronam“ las ich an mehreren Kirchenwänden.
Die Sachsen sind mit Recht stolz darauf, daß sie sich immer nur verteidigt, aber nie selbst einen Angriffskrieg geführt haben. Im Kriegsfalle sammelten sie Frauen und Kinder, Vieh, Vorräte und Habe in der Kirchenburg, wo jede Familie oft bis ins 19. Jh ihren eigenen Speicher hatte. Noch dazu sind diese Kirchenburgen oft wunderschön und reich ausgestattet mit Fresken, Flügelaltären und romanischen und gotischen Bögen. Das Ganze umgeben von oft mehreren Mauerringen. Am prächtigsten waren die Kirchenburgen in Honigberg und Tartlau und Birthälm. Aber auch die weniger spektakulären in Wolkendorf, Neustadt und Marienburg und in Malmkrog waren eindruckvoll.
Besonders bei der vom Autoverkehr umbrandeten Ringmauer der am Stadtrand von Kronstadt gelegenen Bartholomäuskirche ist mir deutlich geworden, daß diese Kirchenburgen auch eine problematische Wagenburg- Mentalität erzeugt haben. Mitten in feindlicher Umwelt eine deutsche Insel, die sich einmauert und mit den Rumänen oder gar Zigeunern draußen nichts zu tun haben will. Der liebevoll gepflegte Friedhof macht das deutlich: Da hat kein Rumäne was zu suchen. Erschütternd die Marmorplatten auf einigen Familiengräbern: „In Deutschland und Österreich starben:“ Und dann folgt eine lange Liste der nach der Auswanderung in Deutschland Verstorbenen. Lange schon hatten sich die Siebenbürger Sachsen zu sehr idealisierend nach Deutschland hin orientiert, was sie später auch zu einer leichten Beute der Nazis machte. So wurden sie langsam zu Fremden im eigenen Land. Schon seit der Aufklärung zur Zeit Josefs II war es den Sachsen sehr schwergefallen, auf ihre angestammten königlichen Standes- Privilegien aus dem Mittelalter zu verzichten, sich auf individuelle Bürgerrechte zu beschränken und sich in die Gesamtgesellschaft zu integrieren. Dies verschärfte sich noch einmal, seit Siebenbürgen nach dem ersten Weltkrieg zu Rumänien gehörte.
Nach fünf Tagen in Wolkendorf, wo wir ausgiebig die Umgebung erkundeten und noch die Törzburg sowie die Burg Rosenau erklommen, verabschiedeten wir uns mit mehrstimmigem Gesang „Mögen sich die Wege vor deinen Füßen ebnen“ von unseren herzlichen Gastgebern. Dann fuhren wir mit einem Kleinbus durch das ungarisch sprachige Skeklerland, über die Bicazklamm und die Ostkarpaten zu den Moldauklöstern. Am eindrucksvollsten waren die Außenfresken einiger Klöster. Da die Klosterkirchen recht klein waren, verfolgten viele Laien den Gottesdienst von draußen. Ihnen dienten die Bilder als „Biblia pauperum“. Im Kloster Moldovica fanden wir in Schwester Tatjana eine deutschprachige Nonne, die uns sehr kompetent die theologische Systematik der Außenfresken erklärte. Wie in einem „theologischen Abakus“ kann man aufwärts und seitwärts heilgeschichtliche Sequenzen durchdeklinieren. Am leichtesten zu entschlüsseln der Stammbaum Jesu, unten beginnend mit der Wurzel Jesse und oben endend mit der Anbetung der Hirten. Waagerecht begann der Zyklus mit den Magiern, die über Jerusalem nach Bethlehem zogen. Alles bezieht sich auf alles und baut auf allem auf. Von Adam und Eva bis zur Kaiserin Helena und dem Konzil von Chalzedon. Die ehrwürdige Schwester Nonne spürte unser Interesse, beantwortete geduldig unsere vielen Fragen, wurde immer ausführlicher und zitierte schließlich Einstein: „Ohne Glauben bleibt das Wissen leer.“ Schließlich betete sie mit uns im Pronaos vor der Ikonostase das Vaterunser und stimmte fröhlich ein in unser „Laudate omnes gentes“. Gerade von Taizé her war mir die orthodoxe Spiritualität dieser Klöster sehr nahe. Wo der Westen viele Worte macht und dicke Bücher schreibt, malt die Ostkirche bunte Bilder und übt in Stille und Schweigen ein.
Viele der Moldauklöster gehen auf den heiligen König Stefan den Großen zurück, der im Kampf gegen die Türken nach jedem Sieg eine Kirche oder ein Kloster stiftete. Dies mag uns heute stören, aber da die Rumänen (Walachen) jahrhundertelang von Fremdherrschaft bedrückt waren, diente die Kirche ihnen als Stütze ihres Freiheitsstrebens und ihrer Identität.

Zuerst waren wir von den orthodoxen Klöstern und Kirchen und ihrer ehrwürdigen Tradition und liturgischen Konstanz ganz begeistert. Aber einige kritische Aspekte sind doch nicht zu übersehen. Es fehlt fast durchgängig so etwas wie mündige Gemeinde und ihre Aktivierung. Die Gläubigen nehmen in stummer Andacht sehr passiv am Gottesdienst teil, dessen Liturgie nach Vorschrift ex opere operato ohne Gemeindegesang abläuft. Seit der Wende ist durchaus ein religiöser Aufbruch spürbar. Aber viele neue Kirchen werden im ganzen Land durchweg alle nach dem gleichen Plan in der Form von Kuppeln und Bögen aus dem 16. Jh austauschbar identisch in Stahlbeton gefertigt. Das ist doch recht ungeschichtlich und starr.
Mit einer schönen sonnigen Wanderung samt Picnic am Ufer der Moldava schlossen wir den Besuch bei den Moldauklöstern ab und starteten zu unserem letzten Schwerpunkt in der Gegend um Hermannstadt. Über Neumarkt und Bistritz kamen wir nach Schäßburg und besichtigten die wunderschöne Altstadt mit dem Stundturm, der Schülertreppe zur auch heute noch deutschsprachigen Bergschule und den wunderschönen Kirchen der Altstadt.
Kurz hinter Schäßburg stiegen Gudrun und ich kurz entschlossen aus unsem Bus aus und trampten auf eigene Faust nach Malmkrog, einem kleinen Dorf am Ende eines abgelegenen Seitentals der großen Kokel. Dorthin war nämlich aus der ehemaligen DDR nach der Wende eine unserer Nichten mit ihren fünf Kindern gezogen. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie – motiviert durch einen Gebetskreis - in diesem kleinen sächsischen Dorf ein Bauernhaus gekauft und eine Tischlerwerkstatt aufgebaut, auch mit dem idealistischen Ziel, Menschen durch Ausbildung eine Existenz in Siebenbürgen zu ermöglichen. Die frisch Ausgebildeten entschlossen sich dann aber meist trotzdem zur Ausreise nach Deutschland. Davon ließen sie sich aber nicht entmutigen. Jedes Jahr haben sie in mühsamer Kleinarbeit einen Raum ihres Hauses renoviert und schön eingerichtet, ja inzwischen sogar eine Holzheizung installiert. Neben den eigenen fünf Kindern haben sie noch zwei Roma- Kinder angenommen, die sie häufig vor Hänseleien schützen müssen, vor allem in der deutschen Schule.
Aber ich greife vor. Erstmal mußten wir dort ja hinkommen. Von der Hauptstraße, wo wir den Bus verließen, waren es noch 15 km. Mutig stapften wir los in der Hoffnung, daß irgend jemand uns mitnehmen würde. Schon nach 5 Minuten hielt ein Pferdewagen, mit Maiskolben beladen. Es war eine sächsische Bauernfamilie aus Großlasseln, die uns bis zu diesem Ort mitnahm und uns von ihrem harten Leben sowie dem Entschluß, im Lande zu bleiben, erzählte. Dann tippelten wir weiter wie Maria und Josef. Schließlich nahm uns ein Forstingenieur in seinem Auto mit und brachte uns bis Malmkrog, obwohl er eigentlich gar nicht so weit wollte. Beim Einbruch der Dunkelheit standen wir schließlich vor der Tür unserer Nichte und wurden herzlichst aufgenommen. Wir erfuhren viel über diesen Ort, in dem noch etwa 200 Sachsen leben, sogar noch mit deutschem Pfarrer aus Thüringen. In der Kirche sind noch die mittelalterlichen gotischen Fresken erhalten. Die beiden kleinen Mädchen der Familie, eins von ihnen ein Roma- Kind, haben mich sofort als Opa adoptiert. Sie saßen den ganzen Abend auf meinem Schoß, ich mußte sie zur Nacht ankleiden, mit ihnen Zähne putzen, die Sendung mit der Maus schauen, eine Gute Nacht- Geschichte lesen, Schlaflieder singen und beten. Wie gut, daß ich da gut trainiert bin. Als die Kleinen schliefen, sammelten sich die großen Mädchen in der Küche, ihre Freundinnen holten sie ab zum gemeinsamen Fernsehen in der Nachbarschaft. Alle gehen zur deutschen Schule, einige sogar aufs Gymnasium nach Schäßburg. Andere erzählten, daß ihre Eltern nicht das Geld hätten, sie über die 8. Klasse hinaus zur Schule zu schicken. So arbeiten sie auf dem elterlichen Hof. Mit uns sprachen alle ein höflich gepflegtes Deutsch, aber kaum schauten wir weg, schnabbelten sie fröhlich rumänisch.
Ganz früh am nächsten Morgen standen wir auf, der Ofen bullerte schon anheimelnd in der Küche, die Großen sammelten sich zu erfrischendem Gebet und Frühstück. Wir mußten ja den Schulbus um acht erreichen, die einzige Möglichkeit, aus diesem abgelegenen Dorf wieder herauszukommen. Doch welch ein Bild erwartete uns auf der Straße: Eine Kuhherde zog durch den Bach, eine Ziegenherde samt Hirten kam die Straße entlang. Ein Mann mit Fanfare stand auf dem Platz vor der Schule. Es war der Ausrufer des Dorfes, der die Tierarzt- Termine bekanntgab.
Glücklich und zufrieden saßen wir dann im Bus und fuhren schließlich von Schäßburg mit der Bahn nach Hermannstadt, wo wir in der evangelischen Stadtkirche ganz zufällig wieder auf unsere Gruppe trafen.
Die geschilderte Exkursion nach Malmkrog war so richtig nach meinem Geschmack. Je fordernder die Lebensverhältnisse, desto mehr steigt mein Lebensgefühl. Elementare Lebensformen vitalisieren mich. Sich etwas zumuten, etwas aushalten, auf Komfort verzichten, Strapazen auf sich nehmen, da sinkt nicht, nein da steigt die Lebensqualität und Intensität. Sei es beim Bergwandern, beim Wattensegeln oder beim Holzhacken und Kartoffelroden in Ostfriesland: Ein intensives Zusammengehörigkeitsgefühl ist mir wichtiger als alle Zivilisation.

In Michelsberg (Cisnadioara) bei Hermannstadt waren wir wieder in einem wunderschönen kirchlichen Erholungsheim untergebracht, mit Blick auf die schneebedeckten Karpaten. Beim Frühstück am nächsten Morgen war auch der Pfarrer dabei, der uns mit wichtigen Informationen versorgte und gute Kontakte vermittelte. Erst einmal wanderten wir zur Bergkirche, die auf eine Burganlage des Deutschen Ritterordens zurückgeht. Die Nazis haben sie (wie den BSer Dom) als Weihestätte mißbraucht, aber nun soll sie wieder kirchlicher Trägerschaft zugeführt werden.
Im Übrigen konzentrierten wir uns ganz auf die Erkundung von Hermannstadt, das sich mit aufgerissenen Straßen – wie in BS am Bohlweg- auf seine Würde als Kulturhauptstadt 2007 vorbereitet. Neben den vielen Kirchen und Plätzen, den verwinkelten Gassen in der Unterstadt und den Wehrtürmen und Wallanlagen war der wichtigste Eindruck der Unterrichtsbesuch im Brukenthal- Gymnasium. Einige von uns hospitierten in naturwissenschaftlichen Fächern (Photosynthese), andere im Deutschunterricht (Willkommen und Abschied von Goethe, Nibelungenlied), ich hospitierte natürlich im Religionsunterricht, wo es um den Kirchenbegriff ging. In Kleingruppen mußten die SchülerInnen als „Kirchenvorstand“ lebensnahe Probleme entscheiden. Es ging z.B. um Entwidmung von Kirchen zu anderen Zwecken aus Finanznot, was für die SchülerInnen z.T. aus othodoxem Kirchenverständnis ein absolutes Tabu war. Erfreulich für mich die sozialethische Sensibilität der Jugendlichen, die sich leidenschaftlich für kirchliche Jugendzentren, Suppenküchen und Sozialstationen stark machten. Dies alles ganz selbstverständlich auf Deutsch, was nur bei wenigen die Muttersprache war. Dies trifft übrigens auch auf das nette Kollegium zu, das wir in der Pause im Lehrerzimmer kennenlernten. Die ganze Schule machte einen sehr lebendigen Eindruck und erinnerte mich an Gudruns IGS. Aber natürlich: Pausensprache Rumänisch.
Nun neigte sich die Reise dem Ende zu. Nicht alle Besuche, die ich machen wollte, konnte ich verwirklichen. Gern wäre ich noch nach Deutsch-Weißkirch (Viscri) gefahren, wo Harald Riese, vorzeiten Leiter des BSer Spiel- und Lernzentrums und Ehemann unserer damaligen Pauli- Kantorin Bianca Riese, seit 10 Jahren seine Heimat gefunden hat. In allen Gemeinden, die wir besuchten, war er als Socken- Harald bekannt, da er in Deutsch- Weißkirch eine Sockenprojekt aufgebaut hat. Die Frauen im Dorf stricken Socken und über Harald Riese und verschiedene Partner in Deutschland werden diese tausendfach vermarktet. Das eröffnet den Frauen dieses Dorfes eine kleine Verdienstmöglichkeit. Selbst unsere Nichte wußte zu berichten, daß Harald Riese alle Treffen mit seinen immer neuen Kanons bereichert. Ausnahmslos in allen Gemeinden und Kirchengruppen, die wir trafen, war Harald Riese ein Begriff. Respekt.
In meiner Trauer über die Abwanderung der deutschen Minderheit war es schon interessant, den ganz anderen Weg der ungarischen Minderheit zum Vergleich heranzuziehen. Die Ungarn sind nicht abgewandert. Erstens sind sie in manchen Teilen des Landes noch die Mehrheit und bestimmen die Verwaltungssprache, so daß eher die Rumänen in diesen Gebieten um ihre Minderheitsrechte kämpfen müssen. Zweitens gab es lange Zeit nicht ein so großes Gefälle in Freiheitsrechten und Lebensstandard gegenüber Ungarn wie gegenüber Deutschland. Drittens hat Ungarn selbst durch kluge Maßnahmen die ungarische Minderheit stabilisiert: So sind alle Ungarn in Rumänien automatisch in Ungarn krankenversichert. Bei Einkäufen in Ungarn werden sie von der Mehrwertsteuer befreit. Dies fördert die ungarische Wirtschaft und hilft ihrer Minderheit in Rumänien. Man kann also auch geschickter helfen.
Immer wieder beschäftigte mich abschließend die Frage, was wir als schrumpfende Braunschweiger Landeskirche von der lebensbedrohlich schrumpfenden evangelischen Landeskirche in Siebenbürgen lernen können. Es gibt ja viele Gemeinsamkeiten: Beide Kirchen sind STEINreich, d.h. nicht finanziell, sondern an Gebäuden, die sie unterhalten müssen. Beide schrumpfen an „Seelenzahl“, die eine durch Abwanderung und Überalterung, die andere durch Kirchenaustritte, Überalterung und Entkirchlichung. Beide sind kulturell besser aufgestellt als religiös. So ist in beiden Kirchen die Kirchenmusik unangefochten vital trotz sinkender Kirchlichkeit. Orgeln, Posaunen- und andere Chöre sind offensichtlich säkularisierungsfest und daher zukunftsfähig. Für beide Kirchen ist aber auch im Sinne Luthers wichtig, „dem Volk aufs Maul zu schauen“. Das bedeutet für die Siebenbürgische Landeskirche, zunehmend eine rumänischsprachige Kirche zu werden für das ganze Volk. Auch die schönen Kirchtürme landauf landab überragen schließlich immer noch den ganzen Ort und läuten für alle und nicht nur für die noch gebliebenen Sachsen. Keine Kirche darf auf Dauer eine Sprache sprechen, die die Mehrheit der Leute nicht versteht. Das gilt aber auch für uns. Auch in unseren Kirchen wird zunehmend eine Kirchensprache gesprochen, die die Mehrheitsbevölkerung nicht mehr versteht. Auch wir müssen eine neue Sprache lernen.
Überlebenswichtig ist für beide Kirchen eine juristisch klar abgesicherte Verwaltung. Die Siebenbürgische Landeskirche kann offensichtlich auch staatskirchenrechtlich ihre volkskirchlichen Strukturen durchhalten trotz nur noch 14.000(!) zahlender Mitglieder und wenig Nachwuchs. Das finde ich ermutigend. Auch in der Minderheit, die wir in BS gerade erst geworden sind, sollten wir gewachsene volkskirchliche Strukturen als öffentlich rechtliche Körperschaft bewahren. Nur so können Stiftungen und Staatsverpflichtungen langfristig erhalten und gesichert werden. So erhält die Siebenbürgische Landeskirche, weil sie eben noch als Rechtsperson verhandlungs- und vertragsfähig ist, viele Kirchenburgen mit Hilfe einer Siebenbürgisch- Sächsischen Stiftung aus München. Auch arm wie eine Kirchenmaus bleibt man so als Kirchenmaus im Futter. Ja, das ist es: Aus Siebenbürgen zurückgekehrt, ist mir um die Zukunft unserer Landeskirche nicht mehr bange. Maneat semper.

Leseempfehlung:
Harald Roth, Kleine Geschichte Siebenbürgens
Köln 1996 ISBN 3-412-16295 -7
Hans Rothe, Die Siebenbürger Sachsen in Geschichte und Gegenwart
Köln 1994 ISBN 3-412-12494-X
Hans Bergel Wenn die Adler kommen München 1996
Eginald Schlattner Der geköpfte Hahn Wien 1998
Eginald Schlattner Das Klavier im Nebel Wien 2005




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