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 Wie kann, wie soll man beten?von Eberhard Fincke 
Wie kann, wie soll man beten?
 Die alte Frage. Jesus
 antwortet mit dem Vaterunser,
 so berichten Matthäus (6) und Lukas (11),
 sagt damit:
 Halte dich an die fünf Wünsche,
 aus denen alles Wünschen der Menschen stammt,
 zu allen Zeiten und in allen Kulturen:
 den unbändigen Willen, am Leben zu bleiben;
 die Liebe und den Wunsch nach Zusammenhalt;
 das Verlangen nach Gerechtigkeit,
 das Verlangen nach Wahrheit und Wissen;
 das Streben nach Freiheit und Selbständigkeit.
 
 Diese fünf sind die treibende Kraft
 in allen Bewegungen des Leibes und der Seele,
 des Empfindens und Denkens.
 Zwar streben sie auseinander und gegen einander,
 doch folgen wir allen fünf und kommt keins zu kurz,
 fügen sie sich zur Balance des Menschseins,
 des Lebens oder des Friedens.
 
 Ursprünglich bewegen diese Wünsche den Menschen,
 haben ihm den Körper gestaltet,
 die Sprache und ihre Begriffe,
 am leichtesten greifbar an der Hand,
 im Zusammenspiel der fünf Finger.
 
 So kann der beim Beten,
 an den fünf Fingern entlang wandernd,
 die fünf Wünsche wecken und aussprechen
 mit den Worten des Vaterunsers.
 Das Beten wird ein intensives Wünschen,
 angefangen beim Daumen, der frei beweglich.
 den anderen selbständig gegenübertritt.
 
 Durch ihn erinnern wir uns der Freiheit,
 und mit
 
 "Vater unser im Himmel"
 
 wenden wir uns an jenes Du,
 dem, nach Überlieferung der Bibel, die Freiheit zu danken ist
 beim Auszug aus Knechtschaft und Unterdrückung in Ägypten.
 Sein Name bleibt ein großes Geheimnis.
 
 Darum, berühren wir nun den Zeiger,
 der auf wahr und falsch deutet,
 so hüten wir jenes Geheimnis,
 seine Wahrheit, indem wir sagen:
 
 "Dein Name werde geheiligt".
 
 Der Mittlere, das Gleichgewicht wahrend,
 legt den Wunsch nach Gerechtigkeit nahe,
 oft vorgetäuscht, mißbraucht und verraten.
 Des eingedenk sagen wir, nicht unsere Idee vom Recht, sondern
 
 "Dein Reich komme".
 
 Unterwerfung ist nicht gemeint, vielmehr
 einander als Partner gerecht werden.
 Das vergewissert der Schöne Finger, neigt
 immer den Nachbarn zu und geht mit ihnen.
 Erweckt die Liebe. Die ist aus auf Übereinstimmung,
 glaubt an Erwiderung und vertraut dem Du:
 
 "Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden".
 
 Doch wieder und wieder sieht ein Mensch sich
 bedroht, schwach und allein,
 wie jener Kleine an der Handkante,
 mit Angst, am Leben zu bleiben und bei Gesundheit.
 Getröstet freilich durch das bisher Gesagte,
 also nicht allein auf der Welt,
 wollen wir nicht mehr als wir brauchen:
 
 "Unser täglich Brot gib uns heute".
 
 Das Gebet könnte hier enden;
 denn alle fünf Finger oder Wünsche
 haben ihren Ausdruck gefunden.
 Unterdes ist der Mut gewachsen,
 in der Beziehung zu jenem Du
 den eigenen Anteil deutlicher anzusehen
 und zu nennen. Darum,
 
 beim Kleinen Finger angekommen,
 macht das Gebet eine Kehre
 erneut zum Ringfinger, also zur Liebe.
 Wir werden gewahr, was alles wir
 dem Entgegenkommen verdanken,
 können auch deutlicher sehen,
 was wir schuldig geblieben sind:
 
 "Und vergib uns unsere Schuld".
 
 Dem Liebenden ist es gesagt,
 nicht dem Richter. Das erinnert
 der Mittelfinger mit der Gerechtigkeit,
 was uns bewegt zu erwidern:
 
 "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern".
 
 Wird nun mit dem Zeigefinger
 unsere Fähigkeit wachgerufen,
 Wahrheit und Wissen zu erlangen,
 so bitten wir doch:
 
 "und führe uns nicht in Versuchung",
 
 von jenem wunderbaren Geschenk verleitet,
 gerecht dastehen zu wollen
 oder den Vorteil zu haben.
 
 Verführt und ausweglos verstrickt
 in Berechnung und Bosheit, Feigheit und Dummheit,
 kann endlich beim Daumen, Verkörperung der Freiheit,
 der Mut wachsen,
 in den Schrei nach Befreiung einzustimmen:
 
 "sondern erlöse uns von dem Bösen".
 
 Das Gebet, wie es Jesus zugeschrieben wird,
 ist damit am Ausgangspunkt angekommen,
 hin und zurück an den fünf Fingern entlang.
 Ein Fingerreim ist es geworden,
 wie man ihn mit kleinen Kindern übt.
 Wer sich darüber nicht erhaben dünkt,
 beim Sprechen seine Finger tatsächlich berührt,
 kann fühlbare Unterstützung erfahren.
 
 Den bekannten Schlußsatz
 
 "Denn dein ist das Reich und die Kraft
 und die Herrlichkeit, in Ewigkeit"
 haben Matthäus und Lukas ursprünglich nicht
 und er paßt auch nicht zum Fingerreim,
 vergewissert aber sein Anliegen.
 
 Ausführliches dazu findet sich in:
 Eberhart Fincke,
 Gesang gegen die herrschende Meinung. Das Vaterunser - ein Fingerreim.
 Radius-Verlag Stuttgart 2000, 104 S.
 
 
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