Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 118/119, Mai 2006, Seite 40-55
(Download als pdf hier)


Spiritualität, Gerechtigkeit und christliches Zeugnis
Die Gegenwarts- und Zukunftsthemen des Weltkirchenrates

Bericht von der Neunten Vollversammlung des Ökumenischen Rats in Porto Alegre

von Klaus J. Burckhardt


Einleitung
Eine spirituelle Erfahrung
Neue Verfassung
Einheit der Kirchen
Religiöse Pluralität und christliches Selbstverständnis
Beteiligung der Jugend
Die Kirchen streben nach Frieden
Öffentliche Angelegenheiten
„Knackepunkt“ der Vollversammlung : die Globalisierungsdiskussion und das AGAPE-Dokument
Programm-Prioritäten
Neues Leitungsgremium
Fazit


Ich habe persönlich an vielen internationalen Tagungen, Sitzungen und Versammlungen teilgenommen. Diese 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen aber, die vom 14.-23. Februar 2006 in Porto Alegre, Brasilien stattfand, war mit Abstand eine der größten und umfassendsten. Unter dem Motto „In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt“ waren 691 Delegierte aus 348 ÖRK-Mitgliedskirchen aus aller Welt beteiligt, sowie Repräsentanten und Beobachter von anderen Kirchen, Organisationen und Bewegungen. Einschließlich derer, die am Rahmenprogramm mit Workshops, Ausstellungen und Musikveranstaltungen teilnahmen, kamen über 4000 Teilnehmende nach Porto Alegre, einer 1,5 Millionen Stadt an der Ostküste Brasiliens in der Provinz Rio Grande do Sul. Einer der Delegierten drückte es so aus: „It like the UN in prayer!“ Von den insgesamt 120 deutschen Vertreter/Innen waren 19 als Delegierte der EKD anwesend, die übrigen kamen als Delegierte ihrer Organisationen, als Mitarbeiter der Workshops oder als Beobachter. Aus der Braunschweiger Landeskirche waren Landesbischof Weber als EKD Delegierter und ich als ÖRK-berufener deutscher Vertreter des Netzwerks „Peace to the City“ dabei, dem Braunschweig als einzige deutsche Stadt seit 2000 angehört. Da ich erst spät vom ÖRK-Büro in Genf nominiert worden war, hatte ich nur an einer Vorbereitungstagung in Hannover teilnehmen können, kann also nicht viel über den Vorbereitungsprozess der übrigen Teilnehmer/Innen sagen. Als gute Hilfe zur Vorbereitung allerdings empfand ich die Grundsatzdokumente und Bibelarbeiten, die allen Teilnehmenden vor der Vollversammlung zugegangen waren (siehe auch www.wcc-assembly.info), aber auch die Vorbereitungsmaterialien des Ökumenischen Forums, das seine Erwartungen an die Delegierten in vorbildlicher Weise formuliert hatte.

Es war die erste Vollversammlung in Lateinamerika, und die Gastgeberkirchen in Brasilien und der weiteren Region waren aktiv an der Ausrichtung des Ereignisses beteiligt. Einer der emotionalen Höhepunkte war der Besuch von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der unter dem frenetischen Beifall vieler brasilianischer Delegierter in den Plenarsaal einzog. Begleitet von einer erstaunlich großen Zahl von Sicherheitspersonal und Bereitschaftspolizei nutzte er die Vollversammlung als Werbeveranstaltung für die kommenden Wahlen. Daher sprach er in seine Rede zum größten Teil von der großen Erfolgsbilanz der Regierung seit Übernahme der Regierungsverantwortung, gerade auf dem Gebiet der „affirmative action“ für die Ärmsten der Armen. Auf kontroverse Themen, wie z.B. die Privatisierung eines großen Regenwaldareals im Amazonasgebiet, sowie die Korruptionsvorwürfe im Regierungslager, ging er nicht ein. Sehr positiv kam allerdings rüber, dass er aber auch auf die Gegendemonstranten aus dem kommunistischen Lager hinwies, die etwas außerhalb des Plenarsaals versammelt waren, und dabei sinngemäß bemerkte: „Es tut gut, zu hören, wie sie demonstrieren und ihre Meinung sagen. Früher, in der Militärdiktatur, wäre dies nie möglich gewesen!“ Trotz großer internationaler Pressepräsenz wurde die Vollversammlung in der relativ leeren Stadt leider jedoch wenig wahrgenommen. Ein Grund dafür, so sagte man, lag wohl an der Tatsache, dass viele Leute noch im Urlaub waren und die Vorbereitungen für den Karneval auf Hochtouren liefen.


Eine spirituelle Erfahrung

Persönlich war die Vollversammlung eine unglaublich spannende und wahrhaft globale ökumenische Erfahrung. Dies begann schon am frühen Morgen auf der gemeinsamen Busfahrt vom Hotel zum Versammlungsort, dem Campus einer großen katholischen Eliteuniversität. Wo in aller Welt kommt man/frau in kürzester Zeit (30 Minuten Busfahrt) mit einem presbyterianischen Pfarrer aus Wales, einem ägyptischen Patriarchen der Exilkirche Australiens, einer finnischen Diakonin oder einem Generalsekretär der chinesischen Congregational Church of Christ ins Gespräch? Wo in aller Welt ist es möglich, gemeinsam jeden Morgen und Abend in einem Riesenzelt aller Regenbogenfarben mit mehreren tausend Menschen die ganze Vielfalt ökumenischer Andachtspraxis und Liederreichtums zu erfahren? Wo in aller Welt gibt es das sonst noch, regelmäßig jeden Morgen während der Versammlung mit Menschen unterschiedlichster Herkunft gemeinsam biblische Texte zu lesen und darüber intensiv ins Gespräch zu kommen? Allein diese Erfahrungen, für kurze Zeit in einem komprimierten „globalen Dorf“ eine Art Weltkirchentag zu erleben, waren in sich so bereichernd und überzeugend, dass die Institution Weltkirchenrat ein menschliches, faszinierendes und komplexes Gesicht bekam. Gerade von den vielen, unendlich wertvollen geistlichen Anregungen, Meditationen, Gebeten und Liedern werde ich noch sehr lange zehren und hoffe auch, sie in die „Tage der weltweiten Kirche“ einbringen zu können, die ja mittlerweile in bereits 6 Propsteien unserer Landeskirche Fuß gefasst haben. Allein der „Contextual Hymn Workshop“ mit Entstehungsgeschichten und Praxisübungen von Liedern aus der Einen Welt hat mich begeistert und so manche Projektidee im Hinblick auf die Umsetzung in unserer Landeskirche ausgelöst…
Allerdings war die 9. Vollversammlung auch eine der undurchschaubarsten Veranstaltungen, an denen ich jemals teilgenommen habe. Dies machten schon die unterschiedlichen Zugangscodes deutlich, die auf den Namensschildern ausgewiesen waren. So entstand eine „kleine Apartheid“ zwischen den Delegierten, die an den Plenarsitzungen, den ökumenischen Gesprächen und verschiedenen beschlussfassenden Gremien teilnahmen, und den Mitarbeitenden des „Mutirão“ mit seinen verschiedenen Workshops, Ausstellungsflächen und Diskussionsforen. Das Wort Mutirão stammt von einem brasilianischen Wort, das so viel wie Versammlungsort und eine Möglichkeit zu gemeinschaftlicher Arbeit für einen gemeinsamen Zweck bedeutet. So veranstalten beispielsweise Menschen in armen Gemeinschaften gelegentlich einen Mutirão, um miteinander ein Haus zu bauen. Sie sorgen für den notwendigen Sachverstand für den Hausbau, und dann macht sich die Gemeinschaft an die Verwirklichung des konkreten Zieles. Durch die sehr verschiedenen Arbeitsstile und Veranstaltungsformen ergab sich ein erhebliches Wissensdefizit und Kommunikationsproblem zwischen den Teilnehmer/innen und Delegierten, das beiderseits beklagt wurde, aber sich selbst durch zwei gemeinsame abendliche Treffen in der deutschen Gruppe nicht aufheben ließ. Doch dazu mehr später... Was waren die großen Themen und Ergebnisse dieser Vollversammlung? Hier ein kurzer Überblick:


Neue Verfassung

In der ersten Woche der Vollversammlung nahmen die Delegierten eine grundlegend überarbeitete Verfassung und Satzung an, durch die der ÖRK nun neben der Vollmitgliedschaft auch den neuen Status einer assoziierten Mitgliedschaft ermöglicht. Zudem wurde zur Entscheidungsfindung durch Konsens übergegangen. Diese grundlegende Änderungen der Verfassung gingen aus den starken Bedenken hervor, die orthodoxe Mitgliedskirchen geäußert hatten und sie zielten darauf, die Beteiligung der Kirchen aus unterschiedlichen Kulturen und Traditionen zu stärken.

Meine persönliche Meinung zu diesem neuen Verfahren unterscheidet sich weitgehend von der negativen Bilanz einiger Delegierten, die bereits vor Ende der Vollversammlung nach Deutschland zurückgekehrt waren: ich war positiv überrascht, dass es am Ende trotz aller Unkenrufe gelungen war, sehr weit reichende und verfassungsändernde Entscheidungen im Konsensverfahren zu fällen, ohne dass dies zu mir sichtbaren Verwerfungen geführt hätte. Dies lag einerseits an der sorgfältigen Einführung und Erklärung des Verfahrens, aber auch der wiederholten Eingabe neuer Formulierungen in erster und zweiter Lesung. Kurz zur Erklärung des Verfahrens: Alle Delegierten hatten die Möglichkeit, nach jedem Plenarbeitrag mit Heben orangener Karten ihre Zustimmung oder mit blauen Karten ihre Ablehnung kundzutun. Dann war Gelegenheit, an vier Saalmikrofonen Fragen, Kommentare oder Dissens zu äußern. Divergierende Meinungen wurden ebenfalls mit dem Heben von orangenen oder blauen Karten quittiert. Falls ein Plenarbeitrag (oder ein bestimmter Passus daraus) am Ende weniger als 85% Zustimmung erhalten hatte, wurde er an das jeweilige Gremium zur Überarbeitung zurückverwiesen, um in einer neuen Lesung verändert ins Plenum zurückzugehen. Wenn nach weiterer Lesung und Diskussion im Plenum nur eine kleine Zahl blauer Karten blieb, wurden die Delegierten gebeten, ihren Dissens schriftlich zu Protokoll zu geben und ansonsten anzuerkennen, dass ihre Stimmen gehört worden seien. So entstand Konsens in vielen sehr kontroversen Sachgebieten der sogenannten „public issues“ (Terrorismus, Sicherheit, UN-Reform, Schutzverpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte etc), mit denen ich nicht gerechnet hätte. Auch wenn die manchmal einseitige Bevorzugung von Minderheitsvoten an den Saalmikrophonen zu kritisieren ist, so hat sich das Verfahren doch als Ganzes als positiv erwiesen.


Einheit der Kirchen

Zu ihrem Kernanliegen, der christlichen Einheit, nahm die Vollversammlung den neuen Text "Berufen, die eine Kirche zu sein" an. ÖRK und Mitgliedskirchen sind dringend dazu aufgerufen, den Fragen nach Einheit, Katholizität, Taufe und Gebet hohe Priorität zu geben.
Die Delegierten riefen zu neuen Anstrengungen auf, um die kirchliche Einheit sichtbar zu machen, die es der ökumenischen Bewegung ermöglichen soll, der Welt eine "einheitliche, gnadenreiche geistliche Botschaft des christlichen Glaubens" zu vermitteln.

Für mich wurde hier trotz aller harmonisierenden Dokumentslyrik wieder schmerzlich deutlich, wie sehr wir in der weltweiten Ökumene noch voneinander entfernt sind – das unterschiedliche Amts- und Kirchenverständnis zwischen protestantischen und orthodoxen Kirchen klafft noch sehr weit auseinander. Die wirklich kontroversen theologischen Themen wurden nicht diskutiert, zum großen Verdruss vieler (besonders deutscher) Delegierten. „Zu viel Choreographie, zu wenig Theologie“, lautete das Diktum. Dazu kommt die besondere Rolle der Kirchen protestantischer Traditionen im Dreiecksverhältnis mit Orthodoxen und Katholiken. Dabei gilt, was in dem Kontext eines Treffens ökumenischer Zentren in Deutschland geäußert wurde: „Je mehr es zu einer Annäherung zwischen den römisch-katholischen und den orthodoxen Traditionen kommt, desto höher wird die ‚Steilwand’ für die Kirchen der evangelischen (lutherischen, reformierten) Traditionen.“ (Kardinal Kasper, zitiert nach epd Dokumentationen 12/2006, S. 12). Vielleicht scheint die Ökumenische Bewegung tatsächlich auch global an einem Wendepunkt angekommen zu sein, sich in Zukunft mehr „als Netzwerk eines zivilisierten, konstruktiven wie kritischen Begegnungsgefüges des Dialogs, der Kooperation und des Gebets weiterzuentwickeln – und das ist realistischerweise mit keinen weiteren Erwartungen zu überfrachten, um sich in seinem Engagement nicht zu frustrieren.“ (Prof. Dr. M.N. Ebertz, a.a.O.S.14)

Daher ist es einsichtig, dass die Vollversammlung in ihren Programmrichtlinien Wege zur verstärkten Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche, die kein Mitglied des ÖRK ist, und mit den Pfingstkirchen aufzeigte. Die Delegierten stimmten darin überein, dass Wege der Zusammenarbeit mit anderen kirchlichen Gruppen entwickelt werden sollen, die zu einer "verbesserten Zusammenarbeit und Einheitlichkeit der Botschaft" aller ökumenischen Kräfte führt. Ich finde es spannend, dass bereits Ende 2007 ein weltweites globales Forum geplant ist, dass zum ersten Mal neben den ÖRK Mitgliedskirchen in großem Maße auch Katholiken und Pfingstler einbezieht.

Zudem unterstützte die Vollversammlung den Vorschlag des Generalsekretärs, nach Strukturen für ÖRK-Vollversammlungen zu suchen, die in den kommenden Jahren zu einer Verbindung mit den weltweiten Treffen anderer kirchlicher Organisationen und Verbünde, z.B. mit dem LWB und RWB, führen könnten. Dies wurde vom Plenum, aber auch den offiziellen Vertretern des Lutherischen Weltbunds unter Leitung ihres Vorsitzenden Dr. Mark Hansson einhellig begrüßt.


Religiöse Pluralität und christliches Selbstverständnis

Christen sollten anderen Religionen mit Selbstvertrauen und Zuversicht begegnen, sagte Erzbischof Rowan Williams in seinem Vortrag zum Thema 'Christliche Identität und religiöser Pluralismus'. Der ÖRK trage durch seine Vielfalt zur Ausgewogenheit bei: "Diese Vielfalt ermöglicht Demut - wohlgemerkt: damit meine ich nicht Verlegenheit." Weder Triumphalismus noch Verlegenheit seien geeignete Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Überzeugungen. Der Erzbischof erklärte, christliche Identität bedeute, an dem Ort der Welt gegenwärtig zu sein, an dem Jesus selber seinen Platz einnimmt. "Bei unserer Identität geht es um unsere Beziehung zu Gott, und die 'Arbeit', die es bedeutet, diese Beziehung in unseren Worten und Handlungen auszudrücken."

Rowan Williams ermutigte die Zuhörer zu einem neuen Blick auf die eigene Identität. "Vergessen wir für einen Moment das 'Christentum' als ein Ideensystem, das mit anderen auf dem Markt konkurriert. Konzentrieren wir uns stattdessen auf den Ort, den Jesus, der Gesalbte, in der Welt einnimmt, und darauf, was an diesem Ort möglich wird." Der christliche Glaube erhebe nicht in erster Linie den Anspruch, im Gegensatz zu allen Konkurrenten das allein gültige Gedankensystem anzubieten: "Sein Anspruch ist vielmehr, dass es möglich ist, so nahe bei Gott zu leben, dass keine Angst oder kein Misserfolg je Gottes Zusage an uns aufheben kann." Dieses Verständnis von Identität schließe niemanden aus: "Der Ort Jesu ist offen für alle, die sehen wollen, was Christen sehen, und werden wollen, was Christen werden."

Eine der problematischsten Folgen der jüngsten internationalen Entwicklungen sei allerdings, dass zum Beispiel Christen im Nahen Osten oder in Pakistan mit einer als feindlich wahrgenommenen ausländischen Politik in Verbindung gebracht werden, sagte das Oberhaupt der Anglikanischen Gemeinschaf. "Die hierdurch bedingten Leiden christlicher Minderheiten sollten von all unseren Kirchen und der gesamten Vollversammlung beständig im Auge behalten werden."

Eine Theologin und ein Theologe antworteten in der Plenarsitzung auf die Rede des Erzbischofs. Dr. Anna May Chan, eine Baptistin aus Myanmar, erzählte, wie ihre Familie bei ethnischen und religiösen Unruhen nach dem Zweiten Weltkrieg von befreundeten Muslimen und Buddhisten gerettet wurde. "Meine muslimischen und buddhistischen Nächsten haben vielleicht nicht den Namen Jesus gekannt, aber ich glaube, dass Gott einen Weg zu ihnen gefunden hat." Der griechisch-orthodoxe Professor Dr. Assaad Kattan berichtete von den Beziehungen verschiedener christlicher Traditionen miteinander und mit dem Islam im Nahen Osten. In einer Videobotschaft rief Prinz Hassan von Jordanien die Vollversammlung auf, nicht nur die Einheit der Kirchen anzustreben, sondern eine Einheit der Religionen und der Werte.
Im Hintergrunddokument zur Vollversammlung wird zudem betont, dass angesichts des wahrnehmbaren Bedeutungsverlustes der Mainline-Kirchen und des starken Wachstums pfingstlerischer und evangelikaler Kirchen, aber auch des größeren Einflusses anderer Traditionen wie Hindus, Muslime, Buddhisten, Sikhs, das christliche Lebenszeugnis in religiös pluralistischen Gesellschaften als positive Herausforderung verstanden werden müsse. Daher bestehe die Notwendigkeit, Christen, die in einer religiös pluralistischen Welt leben, seelsorgerlich zuzurüsten. Viele Christen suchten nach Wegen, wie sie ihren eigenen Glauben verbindlich leben und doch offen gegenüber anderen sein könnten. Einige praktizierten spirituelle Disziplinen anderer religiöser Traditionen, um ihren christlichen Glauben und ihr Gebetsleben zu vertiefen. Viele Christen bäten um Rat in der Frage interreligiöser Ehen, des Aufrufs zum gemeinsamen Gebet mit anderen und des adäquaten Umgangs mit Phänomenen von Militanz und Extremismus. Andere ersuchten um Rat für ihre Zusammenarbeit mit Nachbarn anderer religiöser Traditionen in Fragen der Gerechtigkeit und des Friedens.

Daher sei es unabdingbar, als Christen den Dialog zu suchen, neue Beziehungen zu anderen religiösen Traditionen aufzubauen, „weil wir glauben, dass dies integraler Bestandteil sowohl der Botschaft des Evangeliums als auch unserer Mission als Mitarbeiter/innen Gottes bei der Heilung der Welt ist. Das Geheimnis der Beziehung Gottes zu allen Menschen und die vielfältigen Antworten, die die Völker der Welt auf dieses Geheimnis gegeben haben, laden uns daher ein, uns intensiver mit der Wirklichkeit anderer religiöser Traditionen und unserer eigenen Identität als Christen in einer religiös pluralistischen Welt zu befassen.“ (Hintergrunddokument PB-14).

Aufgrund des Diskussionsprozesses von Mission und Evangelisation, Glauben und Kirchenverfassung und Interreligiösem Dialog fühle man sich daher ermutigt, sich neu mit der Frage der Theologie der Religionen zu befassen. Eine solche Neubesinnung sei heute aus theologischer und seelsorgerlicher Sicht dringend geboten. Als hermeneutischen Schlüssel biete sich das Thema der „Gastfreundschaft des gnädigen Gottes“ an.

Es liegt nahe, dass sich der ÖRK als eins seiner drängenden Zukunftsthemen den Bereich des christlichen Zeugnisses und der Zuordnung von Mission und interreligiösem Dialog gewählt hat.


Beteiligung der Jugend

Zum ersten Mal waren sehr viele junge Erwachsene an der Arbeit in allen Vollversammlungs-Ausschüssen beteiligt, und Delegierte drängten nach einer stärkeren aktiven Beteiligung von Jugendlichen (unter 30 Jahren) an Leben und Arbeit des Weltkirchenrates.

Dabei kam es allerdings fast zum Eklat: der Vorsitzende der Vollversammlung, Aram I. hatte die jugendlichen „Stewards“ zu Beginn der Vollversammlung nicht öffentlich begrüßt und der Vollversammlung vorgestellt. Als dann die jugendlichen Delegierten nach einem offensichtlich ergebnislos verlaufenen Treffen zur Diskussion ihrer Forderung von 25% Beteiligung am Zentralkomitee zurückkamen, schlossen sich viele Stewards ihrer „Spontandemonstration“ vor dem Plenarsaal an, um Frust abzubauen und den Forderungen „Taten statt Worte“ folgen zu lassen. Pikant war außerdem, dass zwar als Resultat dieser Aktion eine deutsche Delegierte ihren Sitz im Zentralausschuss an eine Jugendliche abgab, dafür aber die orthodoxe Seite einen Jugenddelegierten ausbootete, um einem älteren Delegierten der Hierarchie einen Sitz zu verschaffen! Insgesamt aber ist international gemessen die Quote von schließlich 15% Jugenddelegierten von 150 Zentralausschussmitgliedern schon beachtlich.

Eine sehr positive Rolle spielten die Jugenddelegierten in der deutschen Gruppe: sie hatten sich bereits im Vorfeld der Vollversammlung getroffen, um ihr Vorhaben während der Vollversammlung vorzubereiten, anhand eines Filmprojekts Material zum Schwerpunkt „Gewalt überwinden“ zusammenzustellen, um mit diesem Film als „living letters“ in verschiedenen Gemeinden und Institutionen von den Erfahrungen der Vollversammlung zu berichten. In diesem Zusammenhang filmten sie auch verschiedene Vertreter/innen des Netzwerks „Peace to the City“, besuchten anschließend mit dem Filmteam die brasilianischen Partner in Rio de Janeiro und filmten nach Rückkehr aus Porto Alegre auch als Repräsentanten des „Peace to the City Braunschweig“ Netzwerk die unterschiedlichen Bausteine des Braunschweiger Modells zur Gewaltprävention in der Wilhelm-Bracke-Gesamtschule in der Braunschweiger Weststadt. Ich bin auf das Ergebnis sehr gespannt!


Die Kirchen streben nach Frieden

Die Halbzeit der Dekade zur Überwindung von Gewalt (DOV) wurde auf der Vollversammlung gefeiert - u.a. mit Grußbotschaften von drei Friedensnobelpreisträgern - unter ihnen der unwiderstehliche frühere Erzbischof Desmond Tutu! - und die Delegierten schlugen dem ÖRK vor, auf eine internationale Ökumenische Friedensversammlung hinzuarbeiten: "Gemeinsam mit der ganzen ökumenischen Bewegung verpflichten wir uns aufs Neue, für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit zu arbeiten und Gewalt zu überwinden, der wir in unserem Leben begegnen", heißt es in der Abschlusserklärung zur Dekade.

Die Leiterin der EKD-Delegation Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann war eine der Teilnehmenden, die die fünf Ziele für die weitere Arbeit verlasen. Darin wurden die Kirchen aufgefordert, "Geist, Logik und Ausübung von Gewalt zu überwinden" sowie auf jede theologische Rechtfertigung von Gewalt zu verzichten. Stattdessen solle die Spiritualität von Versöhnung und aktiver Gewaltlosigkeit bekräftigt werden. Es gelte, ein neues Verständnis von Sicherheit zu erzeugen, das auf Kooperation und Gemeinschaft statt auf Herrschaft und Wettstreit gegründet sei. Die verschiedenen Formen von Gewalt sollten ganzheitlich behandelt werden. Dabei könne man von der Spiritualität und den friedensstiftenden Mitteln anderer Glaubensgemeinschaften lernen. Die Kirchen sollten Widerstand gegen die wachsende Militarisierung der Welt leisten, besonders gegen die Verbreitung von Handfeuerwaffen.

In einem bewegenden Appell rief der frühere Außenminister von Uganda, Olara A. Otunnu, die Kirchen auf, Stellung zum Völkermord in Nord-Uganda zu beziehen. "Die Frauen und Kinder in Nord-Uganda haben mich gebeten, ihren Hilferuf an die Kirchen auszurichten." Die Bevölkerung Nord-Ugandas sei gefangen zwischen den Rebellen der Lord's Resistance Army (LRA) und den Greueltaten der ugandischen Regierung. Eine Studie einer christlichen Hilfsorganisation berichte, dass jede Woche rund 1.000 Kinder in den Konzentrationslagern der Regierung ums Leben kämen, so Otunnu, der bis vor kurzem UN-Beauftragter für Kinder in bewaffneten Konflikten war. Es handele sich um den umfassendsten Völkermord, den er sich vorstellen könne, sagte Otunnu. "Wir brauchen die Stimme der weltweiten Kirchen." Sein Aufruf blieb nicht ungehört, sondern fand den Weg in das Abschlussdokument des „public issues“-Komitees.

Für mich war gerade dieser Programmpunkt der Dekadearbeit wichtig, da ich mit anderen Vertreter/innen des internationalen Netzwerks „Peace to the City“ aus Sierra Leone, Nicaragua, Brasilien, Bosnien und Palästina zur Vollversammlung eingeladen worden war, um über die Zukunftsperspektiven dieser Partnerschaft zu beraten. Zum Hintergrund: Die Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001 – 2010) – Kirchen für Frieden und Versöhnung war von der 8. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1998 in Harare für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beschlossen worden. Sie erwuchs allerdings aus der ÖRK Initiative „Peace to to City“, die 1997 in Johannisburg; Südafrika, begonnen wurde und zunächst Friedensinitiativen in sieben Weltstädten miteinander verband. Im Jahr 2000 wurde diese Initiative auf andere Städte ausgeweitet. Braunschweig wurde und ist bis heute die einzige deutsche Stadt in diesem internationalen Netzwerk. In mehreren Workshops und Pressekonferenzen kamen wir zu dem Ergebnis, die Arbeit des Netzwerks auf einer Konferenz in Zypern im Sommer 2006 wiederzubeleben, eine internationale „Peace Train“-Reise von Schritte gegen Tritte-Multiplikator/Innen und internationalen Netzwerkpartner/innen im Oktober 2006 durch Südafrika zu machen und mehrere bi-laterale Netzwerkprojekte zu gegenseitigem Lernen für 2007 - 2010 anzuregen. Als konkretes lokales „Peace to the City“-Projekt in ist für Februar 2007 eine große Veranstaltungsreihe mit den Ausstellungen „Opfer“ des Weißen Rings und der „Rosenstrasse 76“ vom Diakonischen Werk und internationalen Netzwerk Brot für die Welt in der Innenstadt von Braunschweig geplant, das eine weit gefächertes Forum von Unterstützergruppen aus Kirche und Gesellschaft zusammenbringt.

Auf der Vollversammlung selbst wurde mir besonders angesichts der engagierten Mitarbeit deutscher und nordeuropäischer Delegierter deutlich, wie sehr das Thema der Dekade gerade hier verwurzelt ist. Allerdings darf dies nicht dazu führen, dass dies zu einer „Vormachtsstellung“ im Gesamtkontext der Dekadearbeit führt, wie an gewissen irritierten Reaktionen von Delegierten aus afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern zu ersehen war. Hier ist auf internationaler Ebene, auch gerade im Hinblick auf die 3. Europäische ökumenische Versammlung in Sibiu 2007 mehr Fingerspitzengefühl angesagt!

In einer Veranstaltung zum geplanten europäischen Schwerpunkt der Dekade für das Jahr 2007 wies der deutsche Initiator der Dekade zur Überwindung von Gewalt, der Mennonit Dr. Fernando Enns, darauf hin, wie wichtig gerade die Basisarbeit von Kirchengemeinden und Friedensgruppen im europäischen Formungsprozess hin. Als Schwerpunktthemen wurde für 2007 genannt: Human trafficking(Frauenhandel und Zwangsprostitution), Handelsgerechtigkeit zwischen Ost- und Westeuropa, Sicherheit und Terrorismus, Interreligiöser Dialog und religiöser Fundamentalismus.


Öffentliche Angelegenheiten

Die Vollversammlung äußerte sich zu mehreren Themen der internationalen Politik. Die Delegierten nahmen Erklärungen zu den Themen 'Schutzpflicht für gefährdete Bevölkerungsgruppen', 'Terrorismus, Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte', atomare Abrüstung, Lateinamerika, Recht auf Wasser und UN-Reformen an.

Die Vertreter der christlichen Kirchen erklärten, "dass Terror, als wahllose politisch oder religiös begründete Gewalttaten gegen unbewaffnete Zivilisten, niemals rechtlich, theologisch oder ethisch rechtfertigt werden kann." Nationale und internationale Instrumente der Rechtsprechung sollten gestärkt werden, heißt es in der Erklärung. Die internationale Gemeinschaft sollte in der Abwehr des Terrorismus zusammen arbeiten, insbesondere durch Stärkung des Internationalen Gerichtshofes.

Im Blick auf die gewalttätigen Reaktionen auf die Mohammed-Karikaturen äußerte die Vollversammlung ihr Bedauern über die Veröffentlichung dieser Karikaturen. Die ÖRK- Mitgliedskirchen wurden aufgerufen, Foren für den interreligiösen Dialog zu gründen. Es sei entscheidend, den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen zu verstärken. Die Veröffentlichungen der Karikaturen habe weltweit Kontroversen ausgelöst, die Weiterverbreitung der Zeichnungen habe die Spannungen noch weiter verstärkt.
"Wir schließen uns auch den Stimmen vieler muslimischer Führer an, die die gewalttätigen Reaktionen auf diese Veröffentlichungen bedauern", heißt es in einer Erklärung zu 'Gegenseitigem Respekt, Verantwortung und Dialog mit Menschen anderer Religionen', die ebenfalls am 23. Februar angenommen wurde. Redefreiheit sei ein grundlegendes Menschenrecht, das garantiert und geschützt werden müsse. Es sei aber zugleich Recht und Verantwortung. Auf Missbrauch der Redefreiheit könne mit gewaltfreien Mitteln wie Kritik und klarer Ablehnung reagiert werden.

Der ÖRK erklärte, dass der gegenwärtige Konflikt nicht nur religiöse Aspekte habe. "Die Spannungen in unserer Welt bestehen nicht zwischen Religionen und Glaubensüberzeugungen, sondern zwischen aggressiven, intoleranten und manipulativen säkularen oder religiösen Ideologien." Diese Ideologien würden missbraucht zur Legitimierung von Gewalt und politischer Vorherrschaft. "Die Opfer dieser Art von Kontroversen sind religiöse Minderheiten, die im Kontext einer anderen Mehrheitskultur leben."

Besonders ein unangekündigtes und gänzlich unerwartetes Schuldbekenntnis der im ÖRK vertretenen US-Kirchen sorgte für Aufsehen, nicht nur bei den Teilnehmenden der Vollver-sammlung, sondern auch in der Weltpresse. "Wir bekennen, dass wir unsere Stimme nicht laut und ausdauernd genug erhoben haben, um unsere Führer von diesem Weg des Präventiv-Krieges abzuhalten", heißt es in der am Samstag, 18. Februar in Porto Alegre verlesenen Erklärung von 34 in der Konferenz zusammen geschlossenen Kirchen. "Die Vollversammlung des ÖRK ist eine einzigartige Gelegenheit, sich in dieser Weise zu äußern", sagte Pastor John Thomas, der Präsident der United Church of Christ vor Journalisten.
Die USA habe in den Jahren seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 die "Familie der Menschheit gefährdet und die Schöpfung missbraucht", schreiben die Vertreter der Konferenz. "Wir beklagen mit besonderem Schmerz den Krieg im Irak", der auf der Basis von Täuschungen ausgelöst worden sei und universelle Normen der Gerechtigkeit und der Menschenrechte verletzt habe. "Wir gestehen mit Scham den Missbrauch ein, der in unserem Namen verübt wurde." In dem Brief danken die Vertreter der Konferenz den Delegierten der ÖRK-Vollversammlung für Zeichen der Solidarität nach den Anschlägen vom 11. September 2001. "Eure seelsorgerlichen Worte, eure Gaben und eure Gebete haben uns unterstützt und uns daran erinnert, dass wir nicht allein sind." Aber die Vereinigten Staaten hätten darauf geantwortet, indem sie "Terror auf die wahrhaft Verwundbaren unter unseren globalen Nachbarn herabsandten".

In dem Brief beziehen sich die Kirchenvertreter auch auf die Themen des Klimawandels und der Armut. Die Umweltverschmutzung werde fortgesetzt, die globale Erwärmung nicht gestoppt. "Unser eigenes Land lehnt es ab, seine Mitschuld anzuerkennen und weist multilaterale Abkommen ab, die diesen zerstörerischen Trend umkehren wollen." Es gehe nicht darum, sich von der US-Regierung zu distanzieren, stellte Pastor John Thomas fest. Die Regierung sei demokratisch vom amerikanischen Volk gewählt worden, zu dem sie auch gehörten. So könnten sie nur als Teil des Systems sprechen. Weltweit würde aber oft nur die Stimme derjenigen Kirchen wahrgenommen, die die Außenpolitik der Regierung unterstützten. Die Vereinigten Staaten würden weltweit zunehmend als gefährliche Nation wahrgenommen. "Wir wünschen uns, dass dieser Brief als Botschaft der Buße und Solidarität wahrgenommen wird und als Zeichen, dass es verschiedene Stimmen in den USA gibt."
Der gesamte Text des Briefes (auf Englisch): www.wcc-assembly.info/en/theme-issues/assembly-documents/non-official-documents/letter-from-us-conference-for-the-wcc.html


„Knackepunkt“ der Vollversammlung : die Globalisierungsdiskussion und das AGAPE-Dokument

"Eine Welt ohne Armut ist nicht nur möglich, sondern sie entspricht der Gnade Gottes für die Welt... Wir sind in Porto Alegre versammelt, der Wiege des Weltsozialforums (WSF), und fühlen uns durch die positiven und konstruktiven Botschaften der verschiedenen im WSF zusammenlaufenden Bewegungen darin bestärkt, dass Alternativen möglich sind.“ So heißt es programmatisch formuliert im Aufruf, der auf der Vollversammlung eine zentrale Rolle spielte. Unter dem Titel "AGAPE - Ein Aufruf zur Liebe und zum Handeln" fasst das sechsseitige Dokument die Ergebnisse der vom ÖRK und seinen ökumenischen Partnern seit der 8. Vollversammlung in Harare (1998) geleisteten Arbeit zum Thema der wirtschaftlichen Globalisierung zusammen. (s.u. Zum Hintergrund) Es ruft die Kirchen zudem auf, "gemeinsam für die Umgestaltung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit einzutreten".

Wir leben in einer "Champagnerglas-Wirtschaft", hieß es im Hintergrunddokument, das den Delegierten lange vor der Vollversammlung zugegangen war, in der die reichsten 20% der Weltbevölkerung über 83%, die nächsten 20% über 11% und die übrigen 60% lediglich über 6% des Reichtums der Welt verfügen. Das aus diesem Wirtschaftsmodell resultierende Armutsniveau ist unerträglich und wird von diesem Bericht verurteilt, insbesondere unter theologischen und geistlichen Gesichtspunkten, die die Kirchen zum Handeln auffordern. Doch das Dokument kritisiert nicht nur, sondern bezieht deutlich Position: aus der Reflektion der biblischen Exodus- und Abendmahlstradition plädiert es für eine „Wirtschaft im Dienst des Lebens“, die sich auf die unterschiedlichen konkreten Lebensbedingungen von Menschen in der einen Welt auswirkt.

Die mit Spannung erwartete Plenumsveranstaltung zur Globalisierung wurde vom Ratsvorsitzenden der EKD Prof. W. Huber eingeleitet. Nach seinem sehr abgewogenen und vorsichtigen Eingangsbeitrag machte die lateinamerikanischen Theologin und methodistischen Pastorin Nancy Cardoso Pereira in einer leidenschaftlichen Rede das menschenverachtende Gesicht der Globalisierung deutlich. Cardoso hielt, an den Bitten des Vater-Unsers entlanggehend, eine flammende und poetische Ansprache, deren prophetischer Appell sich an die Vollversammlung richtete, zwischen Gott und Mammon zu entscheiden. Nach weiteren theologischen und einem ökonomischen Statement folgte dann der AGAPE-Aufruf, der in Form eines Gebetes verfasst ist und mehrere konkrete Selbstverpflichtungen enthält. Er wurde von allen Teilnehmenden gemeinsam im Plenum gebetet und verpflichtet die im ÖRK vertretenen Kirchen, sich u.a. erneut für die "Beseitigung von Armut und Ungleichheit", für "gerechte internationale Handelsbeziehungen", für verantwortliche Anlage- und Kreditpolitik, "bedingungslosen Schuldenerlass sowie für die Kontrolle und Regulierung der globalen Finanzmärkte" einzusetzen. Die Bewahrung natürlicher Ressourcen und der Biodiversität, Widerstand gegen die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen, Förderung von Bodenreformen, Eintreten für menschenwürdige Arbeit und gerechte Löhne sowie eine feste Stellungnahme des Glaubens gegen hegemoniale Mächte gehören zu den Neuverpflichtungen, zu denen der Aufruf die Kirchen und die erweiterte ökumenische Bewegung einladen wird.
Zum Hintergrund: Die programmatische Arbeit in diesem Bereich nahm seit Harare die Form breit angelegter Konsultationen an, an denen sich Kirchen, soziale Bewegungen und ökumenische Gremien wie der Reformierte Weltbund, der Lutherischen Weltbund und die Konferenz Europäischer Kirchen beteiligten. Dieser Prozess erhielt den Namen AGAPE: Alternative globalization addressing peoples and earth" (Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde). Die Erkenntnisse dieses Prozesses, die daraus resultierenden Vorschläge und Empfehlungen an die Kirchen, wurden in einem fast 70 Seiten umfassenden Dokument veröffentlicht, das denselben Titel trägt. Dieser Hintergrundtext wurde als Studienanleitung für Seminare und Diskussionsgruppen verfasst. Der integrale Wortlaut (auf Englisch) des "AGAPE-Aufrufes zur Liebe und zum Handeln" kann abgerufen werden unter: http://www.wcc-assembly.info/en/theme-issues/porto-alegre-2006/official-working-documents/programme-book/assembly-documents/agape.html. Der integrale Text (auf Englisch) des Hintergrunddokumentes "AGAPE: Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde" ist als PDF-Dossier verfügbar unter: http://wcc-coe.org/wcc/what/jpc/agape-new.pdf

In der deutschen Nachbesprechung der Plenarversammlung am Abend schlugen die Wellen hoch: es wurde von „Niveaulosigkeit und inhaltlicher Schwäche“ gesprochen; mangelnde Diskussion und Aussprache wurden beklagt; die Moderation und das übereilte Einbringen des liturgischen Aufrufes kritisiert. Nur einige Teilnehmende wagten es, in der informellen Abendveranstaltung der deutschen Delegierten und Beobachter, der allgemeinen Entrüstung zu widersprechen, unter anderem ein Beobachter von „Kairos Europa“.

Nicht berücksichtigt allerdings wurde in dieser Diskussion die besondere Brisanz des langjährigen Vorbereitungs- und Diskussionsprozesses, der bei der Versammlung des Reformierten Weltbundes in Accra 2004 fast zum einem „Status confessionis“ zwischen Vertreter/innen der Nord- und Südkirchen geführt hätte, wie mir Dr. Konrad Raiser, langjähriger früherer ÖRK-Vorsitzender, in einer Unterhaltung am Rande der Vollversammlung erzählte. Er zeigte sich eher „überrascht“ von der hitzigen Ablehnung des Cardoso-Beitrags durch einiger deutsche Vertreter, da man hier anscheinend noch nicht begriffen habe, wie ernst den Kirchen des Südens diese Auseinandersetzung und die Notwendigkeit solidarischen Handels angesichts der verheerenden Folgen der Globalisierung ist. Hier zeigen sich viele Parallelen zur Einschätzung der Diskussion um die Beurteilung der Apartheid als „Sünde“ und die Ausrufung des „Status confessionis“ im berühmten KAIROS-Dokument, das ebenfalls lange Zeit von vielen Christen des Nordens als „einseitig“ und „unangemessen“ abgelehnt wurde, allerdings in den Kirchen des Südens bis heute den Stellenwert besitzt, den die Barmer Theologische Erklärung in der protestantischen Tradition in Deutschland besitzt.


Programm-Prioritäten

Angesichts rasanter Veränderungen in Kirche und Gesellschaft und konfrontiert mit einem Einkommensrückgang einigten sich die Delegierten darauf, die Arbeit des ÖRK in Zukunft auf einige Kernthemen zu begrenzen und drängten den ÖRK ein klareres und stärkeres öffentliches Profil zu entwickeln.

"Der ÖRK sollte weniger tun und dieses gut tun, in einem integrierten, auf Zusammenarbeit angelegten Ansatz", sagte Pastor Dr. Walter Altmann (Ev.-luth. Kirche in Brasilien) als Vorsitzender des Ausschusses für Programmrichtlinien, der die Vorschläge ausformulierte. Die Delegierten riefen nach einer stärkeren theologischen Basis aller Arbeitsbereiche und wiesen außerdem darauf hin, dass eine Gesamtplanung und eine Kommunikationsstrategie notwendig seien, um das Engagement der Mitgliedskirchen zu verstärken.

Die zukünftigen Schwerpunkte der Arbeit sind 'Einheit, Spiritualität und Mission', 'Ökumenische Ausbildung' insbesondere für junge Menschen, 'Globale Gerechtigkeit' und eine glaubhafte 'Öffentliche Stimme und prophetisches Zeugnis in der Welt'. Die Vollversammlung bestätigte, dass der ÖRK seine Arbeit an Alternativen zur ökonomischen Globalisierung auf der Basis von theologischer Reflexion und kritischer Analyse verstärken und praktische, positive Ansätze der Kirchen verbreiten sollte.


Neues Leitungsgremium

Die Delegierten wählten den neuen 150-köpfigen Zentralausschuss, der zwischen den Vollversammlungen das höchste Entscheidungsgremium des Weltkirchenrates ist. Dem neuen Zentralausschuss gehören 63 Frauen und 22 junge Erwachsene an. Die Vollversammlung ernannte außerdem acht Präsidenten, die im Weltkirchenrat ihre jeweilige Region vertreten.

Der Zentralausschuss wählte Pastor Dr. Walter Altmann (Ev.-luth. Kirche in Brasilien) zum Vorsitzenden. Die Stellvertreter sind Metropolit Gennadios von Sassima (Ökumenisches Patriarchat von Konstantinopel) und Pastor Dr. Margaretha M. Hendriks-Ririmasse (Protestantische Kirche der Molukken, Indonesien). Mit der Annahme deutlicher Änderungen der Prioritäten und der Arbeitskultur beendete die Neunte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirche (ÖRK) am Donnerstag, 24. Februar, ihre Tagung in Porto Alegre.


Fazit

Mein Fazit: auch wenn es eher eine „Vollversammlung der leisen Töne“ war, die die andauernde Krise und Zerreißprobe in der Weltökumene keinesfalls beendet hat, so ist der Ökumenische Weltkirchenrat immer noch als globale Schnittstelle der Christenheit und wichtiger Pol gegenüber der römisch-katholischen Weltkirche und der Bewegung der Pfingstkirchen unverzichtbar. Wenn es ihn nicht gäbe, müsste man ihn neu erfinden. Gott sei Dank existiert er, in großer Vielfalt und Verschiedenheit, als Garant der weltweiten ökumenischen Bewegung, die in gut 2 Jahren ihr 100-jähriges Bestehen seit der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh feiert. Und er bewegt sich doch, hin zu einer Netzwerkstruktur eines Globalen Christlichen Forums, dessen Strukturen auszuloten sind. Und so bleibt es spannend, weiter Ausschau zu halten nach dem, „was der Geist den Gemeinden sagt.“

"Diese Vollversammlung hat die Vitalität der ökumenischen Bewegung bekräftigt und das Engagement der Kirchen für die ökumenische Vision und das Ziel der Einheit bestätigt", sagte ÖRK-Generalsekretär Pastor Dr. Samuel Kobia am Ende der 10-tägigen Konferenz in Porto Alegre.

Zum Schluss: Ich bin gerne bereit, anhand einer Power-Point Präsentation, Filmspots und eines Vortrags bestimmte Aspekte der Ergebnisse der 9. Vollversammlung näher zu erläutern oder auch im gottesdienstlichen Rahmen zum Thema „In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt“ zu predigen.

Braunschweig, den 27.03.2006 Klaus J. Burckhardt
Regionalbeauftragter des Ev.-luth. Missionswerks i.N.
in der ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/kvu118/porto_alegrek.htm, Stand: Mai 2006, dk