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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 118/119, Mai 2006, Seite 56-57
(Download als pdf hier)


Stationen einer Reise

von Harald Riese

1
Der Busfahrer des Linienbusses zwischen Göttingen und Duderstadt reinigt seine Armatur mit dem Pinsel.
2
Auf dem Bahnhof Hannover fegt um.7;05 Uhr bedächtig und Strich für Strich ein Uniformierter einen der Bahnsteige.
Mein Versuch, den Weltenwechsel zu skizzieren, wird kläglich scheitern.
3
Vor ein paar Tagen im Zug. Grenze Rumäniens nach Ungarn. 2 Uhr nachts. Einer der Zollmänner. Meinen deutschen Pass sehend - oder mich als Deutschen wahrnehmend - erzählt er mir und anderen Mitreisenden gestikulierend, die Hände schnipsend erhoben, von Hitler und seinen Schergen. Er kennt zu meinem Erstaunen eine Menge.
Es ist skurill - ob er getrunken hat, frage ich mich. Ob das nur in Rumänien möglich ist?
4
Der Spiegel in meinem Abteil ist mit Klebebändern über die Ecken an der Wand befestigt. Das Nachtlicht einer der Leselampen starrt schräg nach oben, läßt sich nicht korrigieren und nicht ausschalten.
Ich komme aus Rumänien, ich fahre nach Deutschland, ich komme aus Deutschland.
5
Ich entdecke Europa und lebe in zwei Welten, ich fahre durch Deutschland und sehe aus dem Fenster, und ich erblicke ein fremdes Land, mein Land ist dein Land, hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich gut fünfzig Jahre gelebt. Ich habe die Ruinen von Berlin-Mitte in Erinnerung, und wie wir sie, wir Kinder, als ein Eldorado wahrnehmen, das war 'ne Welt, in der wir ungehindert spielen konnten.
Ich sehe das Land vorbeisausen aus den Fenstern meines Regionalexpresses. - mit dem Wochenendticket, das ich für mich allein benutze - und alles ist sauber, gepflegt, alles - nicht einmal auf den Feldern hat Wildwuchs eine Chance.
6
Ich sehe die alte Doamna Victoria vor mir aus meinem kleinen Dörfchen Viscri, das die Deutschen Deutsch-Weißkirch nennen, in Rumänien, in Siebenbürgen, das doch nicht mehr Siebenbürgen ist. Ich sehe die kleine gebückte, graue, verzehrte Frau vor mir. Ihre zerstörten Schuhe. Schwer lässt sie sich auf die Bank fallen vor unserem Haus - und ich sehe, wie sie schwerkrank im Krankenhaus der nahen Stadt abgewiesen wird. Trotz ihrer Schmerzen, obwohl sie nichts mehr zu sich nehmen kann. Sie hat das Geld nicht für's Spital. Und sie wird sowieso in den nächsten Tagen, spätestens Wochen sterben. Die Groschen hatte sie mühselig zusammengekratzt, um die 14 km in die Stadt zu überwinden für sich und die Pflegetochter. Eigene Kinder hat sie nicht, aber um viele hat sie sich gekümmert, schließlich auch um die Kinder dieser Kinder. Nun wird sie verrecken. Sie wird keine Medikamente haben, und die letzten Tage ihres Lebens werden so schwer sein wie die meisten Tage ihres Lebens, das doch nur ein Überleben war - eine Roma-Frau einer kleinen Hütte, jetzt wurde der Strom gekappt, sie konnte die enorm gestiegenen Gebühren nicht bezahlen.
7
Loft-Living, hab ich dieser Tage gelesen, ist der in den letzten Jahren zunehmend entwickelte Stil, die Architektur der ausgebauten Scheunen und Dachwohnungen auch im Neubau zu etablieren. Große Fenster, 7 Meter hoch, lese ich.
8
Minodora wohnt mit ihrem Mann und 9 Kindern zwischen 13 und 0 Jahren in einer kleinen Hütte mit zwei Kammern.
9
Ich sehe eine Zigeunerin vor mir an der Strecke von Hermannstadt nach Kronstadt. Sie wohnt noch bescheidener, im Bahnwärterhäuschen von Voila mit 7 Kindern, auch gerade geboren das kleinste, der Mann irgendwo unterwegs, barfuß sie und die meisten ihrer Kinder, Kleider? Eher etwas um die Blöße zu verdecken, ein armseliges Häuschen, 6m2 messe ich, zwei Betten, eine Feuerstelle.
10
Ich bin zu Gast bei guten Freunden. Sie zeigen mir ihren Garten und das Eckchen, wo das Gemüse wächst, eine Tomatenpflanze, drei Kohlrabi, zwei Salate, eine Hochstammstachelbeere und eine Johannisbeere, ein Grillplatz, Rasen.
Ich bin dankbar bei ihnen zu sein, ich fühle mich hier bei ihnen zu Hause, ich kann es so annehmen. Und ich könnte es meinen Nachbarn und Nachbarinnen in Visen nicht erklären, hier alles und dort fast nichts. Hier Kultur, Bücher, Klavier und Licht, von außen und überall, der gefüllte Warenkorb von ALDI - Alles. Schule, Arzt, Abschlussfest von der Schute für den Sohn mit 70 Gästen in ihrem Garten. Sie sind großzügig meine Freunde, sehr großzügig.
11
Ich fahre durch Deutschland, die Züge blitzschnell, alles vom Feinsten. Und hinter mir und vor mir, das Land, wo Milch und Honig fließt, das Land der großen unberührten Natur, mit seinen wilden Bergen und Tieren, das Land mit Geschichte: Rumänien. Das Land, das verloren ist, der Westen lässt ihm keine Zeit. Das Land ohne Chancen, IWF und Weltbank wissen wo's langgeht Das Land in der Knechtschaft von EU und NATO oder im Kniefall vor dem Westen.

Harald, Schalomdiakon in Rumänien, Briefschreiber, Nachbar und Sockenhändler, 11.06.2001




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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/kvu118/runaenien.htm, Stand: Mai 2006, dk