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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 120, Oktober 2006, Seite 32-34
(Download als pdf hier)


„Zauberhafte Synthese”

von Wolfgang Belitz


Jetzt hat der organisierte Protestantismus gleichgezogen. In der ersten Ausgabe von AMOS 2006 hatte ich mich damit auseinandergesetzt, dass die beiden großen Parteien im Lande unter dem Einfluss des neoliberalen Zeitgeistes sich vom Gedanken der sozialen Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit auf unter-schiedlichen Wegen, aber mit den gleichen Zielen deutlich verabschiedet und damit einen der Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft nachhaltig zerstört haben. Verteilungsgerechtigkeit ist von gestern, Teilhabegerechtigkeit ist für morgen. Der westfälische Präses war immer auf dem richtigen Weg geblieben: Verteilungsgerechtigkeit ist die Voraussetzung für Teilhabegerechtigkeit. Teilhabegerechtigkeit kann es ohne Verteilungsgerechtigkeit nicht geben. Die Verteilungsfragen bleiben immer auf dem Tisch und führen zu ganz anderen politischen Konzepten, als der neoliberale Zeitgeist es zulassen würde. Darum möchten sich die Parteien gerne apodiktisch von allen Höhenflügen und erst recht aus den alltäglichen Niederungen der Verteilungskämpfe verabschieden, deklarieren sie darum als erledigt.
Jetzt hat der organisierte Protestantismus gleichgezogen: Die Kammer der EKD für soziale Ordnung hat eine neue Denkschrift zum Thema Armut verfasst mit dem Titel: Gerechte Teilhabe.
Wir erinnern uns: Im Sozialwort der Kirchen von 1997 konnte man zum Thema Armut Beachtliches lesen. Im Kern wurde dort ein Programm zur Ausrottung der Armut in Deutschland formuliert unter dem Leitsatz: „Jedem Menschen in Deutschland soll ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden durch eine individualisierte und bedarfsorientierte Grundsicherung.” Zu diesem Zweck sollten die Sozialhilfe reformiert und alle vorrangigen Systeme der Sozialen Sicherung „armutsfest” gemacht werden durch eine steuerfinanzierte Sockelung in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums.
Der Leser ist gespannt, wie die neue Denkschrift mit der Tatsache umgeht, dass die Kirchen ihr damals formuliertes Programm gegen Armut nicht verwirklicht, ja nicht einmal in Ansätzen in Angriff genommen haben. Eine Bilanz wäre schön gewesen. Nichts dergleichen, das Sozialwort ist vergessen, wenn auch hier wieder wie schon dort von der „Option für die Armen” die Rede ist.
Die neuen Akteure beginnen wieder einmal ganz von vorne. Armut ist auch ein materielles Problem, „aber sie kann nicht auf ihre materielle Dimension reduziert werden. Wird Gerechtigkeit auf eine - eng verstandene - Verteilungsgerechtigkeit reduziert, entsteht die Gefahr des Wohlfahrtspaternalismus, der durch bloße Finanztransfers lediglich die Abhängigkeiten verstärkt, aber nicht zu eigenverantwortlichem Handeln ermächtigt.”
Abgesehen davon, dass ich in Deutschland noch keinen Wohlfahrtspaternalismus, den es bei demokratischer Gesetzgebung wohl auch nicht geben kann, wahrgenommen habe und trotz einer nicht ganz nachvollziehbaren Begriffsbildung, sieht die sozialethische Systematik der Denkschrift wie folgt aus:
Verteilungsgerechtigkeit (Geld genug für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Unterhaltung und Bildung) wird in ihrer Bedeutung im Kampf gegen Armut nicht eliminiert wie bei den Zeitgeistparteien, aber deutlich relativiert zugunsten einer nachdrücklich betonten, aber immer noch nebulösen Befähigungsgerechtigkeit, die den armen Menschen helfen soll, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben durch eigene Anstrengungen natürlich und institutionelle Ressourcen. Beides zusammen genommen, die Synthese aus Verteilungsgerechtigkeit und Befähigungsgerechtigkeit, heißt dann Beteiligungsgerechtigkeit oder wie der Titel unterstreicht „Gerechte Teilhabe”. Friedhelm Hengsbach nennt das eine „zauberhafte Synthese”.
Auf der einen Seite kann man nun den materiellen Aspekt des Lebens armer Kinder und armer Familien mit dem Zeitgeist und gemeinsam mit dem politischen Mainstream vernachlässigen und das Armutsprogramm des Sozialworts endgültig beerdigen. Auf der anderen Seite kann man sich dann wortreich in Segmenten der System- und Lebenswelt ausbreiten, um nach befähigenden Wegen aus der Armut zu suchen: Sozialstaat, Wirtschaft, Bildung, Familie, Diakonie, Kirchengemeinde. Was können sie dazu beitragen, Befähigungsgerechtigkeit für Arme zu gewährleisten, damit diese zur gerechten Teilhabe gelangen? Das ist dann ein weites Feld. Den meisten Raum beanspruchen hier die Erörterungen zum Thema Bildung. Eine neue fabelhafte Formulierung wird kreiert. Ging es im Sozialwort um „armutsfeste Sozialsysteme”, geht es der neuen Denkschrift um die Schaffung „eines armutsverringernden Bildungssystems”. Aber diesmal kommt es gar nicht erst zur Formulierung eines Programms. Es bleibt bei klugen Erörterungen, deren Konsequenzen geschickt vermieden werden, obwohl der Weg klar ist.
Ein „armutsverringerndes Bildungssystem” zur Förderung gerechter Teilhabe umfasst eine grundlegende Reform des Kindergartens und des Vorschulbereichs. An erster Stelle steht die Hochschulausbildung des Lehrpersonals für kompensatorische Erziehung. Hinzu kommt die Etablierung einer kultivierten gemeinsamen Ganztagsschule für die Klassen eins bis neun (vgl. meinen Kommentar zu diesem Reformprogramm in AMOS 2/2004). Damit ist klar: Auf dem Weg von der Verteilungsgerechtigkeit zur Befähigungsgerechtigkeit lässt sich kein Geld sparen. Verteilungsgerechtigkeit (das soziokulturelle Existenzminimum für alle Menschen) kostet viel Geld. Befähigungsgerechtigkeit (reale Entwicklungsmöglichkeiten für alle Menschen) kostet noch mehr Geld. Da die Machtstrukturen eine Besteuerung in Wirtschaft und Gesellschaft nach Leistung streng verbieten, fehlt der politische Wille in Deutschland, die steigende Armut zu bekämpfen. Armut ist ausschließlich ein materielles Problem, welches im neoliberalen Kapitalismus unlösbar ist.
Auf einer meiner jüngsten Vortragsveranstaltungen meldete sich in der Diskussion ein armer Mann zu Wort und sagte: „Ich habe nur einen Wunsch. Ich möchte einmal mit einem 50-Euro-Schein durch einen ganz normalen Supermarkt gehen und mir das kaufen, was ich gerne haben möchte.” Uns Zuhörerinnen und Zuhörern wurde da ganz beklommen zumute.
Solange die Männer und Frauen, die in unserem Lande über das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Armut zu entscheiden haben, ihre Speisen in Zwei-Sterne-Restaurants zu sich nehmen und jederzeit beliebig viele 500-Euro-Scheine zur Verfügung haben, um edle Lebensmittel bei Feinkost Schäfer oder Käfer zu ordern, solange wird sich an der Lage der Armen in Deutschland nichts ändern.



Wolfgang Bebitz, Mitherausgeber des AMOS, ist seit 1970 Sozialpfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Er lebt in Unna

Der Artikel wurde dankend übernommen aus: TRANSPARENT 82/2006





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