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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 122, Juni 2007, Seite 25-27
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von Wolfgang Berlitz


Es ist ein wenig zerlesen und viel bekritzelt. Vor mir liegt das gelb-orange Heft mit der Aufschrift „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit - Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland”. Das sogenannte Sozialwort der Kirchen wurde am 22. Februar 1997 der Öffentlichkeit übergeben. Es wird also in diesen Tagen genau 10 Jahre alt. Es ist eines der bemerkenswertesten sozialethischen Dokumente der Kirchen im letzten Jahrhundert.
Ich habe dieses Wort immer gelesen, gewürdigt und zitiert als das letzte leidenschaftliche Plädoyer zur Erhaltung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, als Programm zur Beseitigung der Armut, als Aufforderung zur Realisierung der Sozialpflichtigkeit des Reichtums, als Anregung für mein eigenes sozialethisches Reformprogramm für Arbeit und Einkommen aller Menschen und nicht zuletzt als eine der umfassendsten Begründungen des unteilbaren Zusammenhangs von Glaube und Weltverantwortung, Mystik und Politik, Feier des Gottesdienstes und Praxis der Gerechtigkeit. Für mich war das Sozialwort im letzten Jahrzehnt ein ermutigender und anregender Wegbegleiter, wenngleich ich auch immer wieder über die tiefen Krater der aus dem neoliberalen Himmel dort eingeschlagenen Meteoriten gestolpert bin.
Die Evangelische Kirche (und nur über diese eine der beiden Sozialwort-Autorinnen schreibe ich hier) hat das Sozialwort zu keinem Zeitpunkt ernst genommen und jetzt sogar für endgültig erledigt erklärt. In dieser AMOS-Kolumne schreibe ich schon länger die dazugehörige Fortsetzungsgeschichte:
In AMOS 3-2006 ging es um die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe”, die das Programm des Sozialworts zur Finanzierung „atmutsfester Sozialsysteme” durch die Schaffung „eines armutsverringernden Bildungssystems” ersetzen will, weil Armut keine Geldtrage, sondern eine Befähigungsfrage sei. Hier lässt der Rat der EKD ein neues Gerechtigkeitsverständnis jenseits der Verteilungsgerechtigkeit verkünden.
In AMOS 4-2006 ging es um die Kundgebung der EKD-Synode im Herbst zum Thema Reichtum, die die Positionen des Sozialworts gar nicht kennt, sondern einer lächerlich-naiven „Option für die Reichen” zum Wohle der Menschheit jenseits der Verteilungsgerechtigkeit das Wort redet.
Aber wir sind noch lange nicht am Ende. In der Frankfurter Rundschau vom 26. Februar 2007 lese ich den Vortrag des Leiters des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI) über das Ende der sozialen Marktwirtschaft und seine Folgen. Hier spricht das sozialethische Kompetenzzentrum der EKD: Das Sozialwort ist in seiner zentralen Aussage überholt, Vergangenheit, Schnee von gestern, denn es fordert und fördert eine soziale Marktwirtschaft, die es nicht mehr gibt und nicht mehr geben kann. Hier geht es jetzt an den sozialethischen Kernbestand!
1997 beschwörte das Sozialwort mit eindrucksvollen Worten das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als ein Zwei-Säulen-Modell oder eine Brückenkonstruktion mit zwei tragenden Pfeilern: „Die Freiheit des Marktes und der soziale Ausgleich waren dabei die tragenden Säulen ... Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke. Die Brücke braucht beide Pfeiler. ... Nicht nur als Anwalt der Schwachen, auch als Anwalt der Vernunft warnen die Kirchen davor, den Pfeiler der sozialen Sicherung zu untergraben.” Oder mit meinen dürren Worten: Zum Markt gehört als Ergänzung und Korrektiv ein gerechter Steuerstaat und ein starker Sozialstaat.
„Das alles ist Vergangenheit”, sagt nun aber der Leiter des sozialethischen Kompetenzzentrums der EKD. „Es sind Veränderungen eingetreten. Das Denkmuster von den zwei Säulen greift folglich nicht mehr.” Es ist Druck entstanden seit 1997: „Wettbewerbsdruck, erheblicher Druck, weltweiter Druck, gesteigerter Druck, Veränderungsdruck”. Folge: Unter dem Überdruck „bricht alles weg”, alles „wird zerschlagen”.
Die zweite Säule der sozialen Marktwirtschaft, das Normalarbeitsverhältnis,, der Lohn, der der Leistung entspricht, kurz, alle Errungenschaften der Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts werden zertrümmert. Das alles findet der Leiter des SI der EKD unter den angenommenen Druckverhältnissen unabänderlich und macht sich nun daran, eine postsoziale Marktwirtschaft zu beschreiben, in der jenseits von Solidarität und Gerechtigkeit der Einzelne nun selbst der Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft ist. Das ist die postmoderne Variante der Freiheit. Solcher Art Analyse und Perspektive sind kein Beispiel moderner Sozialethik, sondern ein trauriger Beleg für einen Akt der Unterwerfung unter den Zeitgeist.
Das Überdrucksystem ist kein Naturereignis, das den Gesetzen der Physik folgt. Es ist kein Tsunami, der über uns hereingebrochen ist. Es kann über Ursachen gesprochen werden. Mit dem Sturz von Helmut Schmidt begann der Siegeszug des Neoliberalismus auch in unserem Lande, erreichte unter der Regierung Schröder seinen Höhepunkt und wird in der großen Koalition auf hohem Niveau fortgesetzt. Die die Gegenwart beherrschende Weltanschauung und Weltmacht erwähnt der Autor mit keinem Wort. Neoliberalismus beinhaltet eine Auffassung von Wirtschaft und Politik, die das Gegenteil der Sozialen Marktwirtschaft bedeutet. Mit dieser Weltanschauung wird die zweite Säule geschliffen und die Brücke zum Einsturz, gebracht durch politisches und wirtschaftliches Handeln mächtiger Menschengruppen. Der Steuerstaat wird zugunsten der Wirtschaft und der Wohlhabenden abgebaut. Der Sozialstaat wird zu Lasten der Armen und Arbeitlosen zertrümmert. Das Feld und die Welt beherrscht allein der Markt, dessen radikale und grenzenlose Entfesselung und heilige Hegemonie im Zentrum des neoliberalen Interesses steht. Der Denker des Neoliberalismus F.-A. von Hayek formuliert als zentralen Grundsatz der neoliberalen Weltanschauung: „Der Ausdruck soziale Gerechtigkeit gehört ... in die Kategorie ... des Unsinns. ... Daher ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit in einer marktwirtschaftlichen Ordnung ... völlig sinnlos.”
Das ist ein wahrhaft apokalyptischer Glaubenssatz, der zum Untergang der Welt beitragen wird. Er hat nicht den geringsten Anhalt in den Traditionen, die der menschlichen Zivilisation förderlich waren. Aber was von Menschen erdacht und gemacht ist, kann von Menschen beendet und beseitigt werden. Als Dokument der guten Traditionen unserer Sozialgeschichte war das Sozialwort vor 10 Jahren aktuell, heute ist es brandaktuell.

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Wolfgang Berlitz, Mitherausgeber des AMOS, ist seit 1970 Sozialpfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Er lebt in Unna.




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