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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 123 - Mai 2008


Das Braunschweigische Gesangbuch von Dietrich Kuessner
Eine Buchbesprechung

von Gerhard Hinrichs
(Download als pdf hier)

Auf 257 Seiten beschreibt der Verfasser die Geschichte des Braunschweiger Gesangbuches. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, von denen Teil 1 „Geschichte des Braunschweiger Gesangbuches" mit neun Kapiteln und 172 Seiten der bei weitem gewichtigste Teil ist. Jedes Kapitel wird sehr hilfreich mit einer Zusammenfassung abgeschlossen, die dem eiligen Leser eine schnelle Information ermöglicht. Zahlreiche Tabellen und Faksimiles durchsetzen den Text. In einem zweiten Teil wird die Bedeutung des Kirchenjahres im Spiegel der Braunschweiger Gesangbücher behandelt. Mir scheint dies Kapitel von daher so wichtig zu sein, weil die Bedeutung des Kirchenjahres im Bewusstsein der Gemeinden immer mehr schwindet. Die de tempore-Lieder werden in den Gottesdiensten nur noch an den hohen Festtagen gesungen, kaum mehr an den Sonntagen nach dem jeweiligen Fest. Da das Buch im Paul-Gerhardt-Jahr geschrieben ist, wird es mit einem Vergleich der Paul-Gerhardt-Lieder in den Braunschweiger Gesangbuchgenerationen sowie mit einem Gottesdienstentwurf zu einem Paul-Gerhardt-Gedächtnisgottesdienst beendet. Ich beschränke mich in meiner Besprechung auf den ersten Teil des Buches.

Obgleich bereits vorher in Braunschweig Liedsammlungen vorlagen, zählt Kuessner das Gesangbuch von 1698 als „das erste Gesangbuch, das sich auf Dauer durchsetzte" (S. 24). Daraus folgt, dass in der Stadt Braunschweig einhundertundsiebzig und im Lande Braunschweig einhundertundzwanzig Jahre nach der Einführung der Reformation in den Gottesdiensten von der Gemeinde ohne Gesangbuch gesungen wurde. Wurde in den Gottesdiensten in dieser Zeit von der Gemeinde überhaupt gesungen? Nach Kuessner sang die Gemeinde höchstens ständig wiederkehrende liturgische Stücke und vielleicht ein Lied am Schluss des Gottesdienstes. Diese interessante Feststellung widerspricht allen bisherigen gängigen Vorstellungen über die Bedeutung des Liedes in reformatorischer Zeit, wonach unter anderem die Lutherchoräle wesentlich zur Verbreitung der Reformation beigetragen haben sollen. Die weitestgehend analphabetische Landbevölkerung habe sowie so nicht lesen können, Schulen habe es auf dem Lande nicht gegeben. Nur in den Städten hätten Lateinschulen den Gesang in den Kirchen getragen.

Zu fragen ist, ob nicht ähnlich den Volksliedern auch eine Vielzahl von Kirchengesängen von der Bevölkerung auswendig gesungen werden konnten. Dieser Frage müsste in Dissertationen nachgegangen werden, da die bisherigen Forschungen sich meines Wissens nur auf die Inhalte der Gesangbücher beschränken, nicht aber deren Auflagenhöhe und Rezeption in den Gemeinden berücksichtigen. Es ist auch zu fragen, ob denn zum Beispiel das Gesangbuch von Michael Weisse aus dem Jahr 1531 einen Sonderfall darstellt, weil es für die Gemeinden ( sc. Der böhmischen Brüder ) geschrieben worden ist_ Im Vorwort schreibt Michael Weisse: „Vorrhede Der Deutschen Gemein Gates und Christlichen brüderschaft zur Lantzkron und zur Füllneck ..". „Noch dem yhr ewer Eltisten und seelsorger offtmal mit beth ( = Bitten ) ersucht vn sie da durch auch euch deutsche ( wie die behmischen brued ) mit geistlichen gesengen zu versorgen verursacht hobt. So macht euch nu lieben Brüder diss Büchlein nütz. Aus diesem Vorwort geht ja eindeutig hervor, dass das Buch für die Hand der Gemeinde bestimmt war.

In meiner ehemaligen Filialgemeinde Lochtum bei Vienenburg im Nordharzvorland, um 1700 mit gewiss nicht mehr als dreihundert Einwohnern, wenn das Dorf überhaupt so viele Bewohner hatte, wurde bereits 1740, also vierzig Jahre nach Einführung des ersten braunschweigischen Gemeindegesangbuches eine geistliche „Cantata" ( ein Musikstück für Chor und Instrumente) aufgeführt. Das Singen war also nicht auf die Stadtkirchen beschränkt. Hier sind dringend weitere Forschungsarbeiten erforderlich.

In den Kapiteln 3 und 4 werden dann die Braunschweiger Gesangbücher von 1772 ( Das Gesangbuch der Aufklärung ) 1902 behandelt und miteinander verglichen. Ich gehe an dieser Stelle darauf nicht näher ein. Nach einem kurzen Kapitel 6 über „Liederbücher und Gesangbuchanhänge aus der Zeit des Nationalsozialismus" steuert Kuessner dann zielstrebig auf das 7. Kapitel zu, in dem er das EKG ( Evangelisches Kirchengesangbuch ) von 1950 behandelt, dem er mit 65 Seiten immerhin ein Viertel des Gesamtumfanges seiner Untersuchung widmet. Bezeichnend ist der Untertitel „Ein Gesangbuch der Restauration". Und es stimmt ja auch, dass dies Gesangbuch mit seiner Vorliebe für das Liedgut des 16. und 17. Jahrhunderts und mit einer weitgehenden Ausmerzung der Lieder des 18.. und 19. Jahrhunderts einseitig war. Mit der Koch'schen Peter-Jessen-Antiqua-Schrift und mit den Texten in Originalform, die wiederum zahlreiche Fußnoten erforderlich machten: war es gewiss nicht gemeindenah. Aber all das entsprach einer damaligen weit verbreiteten Musik- und Liturgiereform, die vom Bärenreiterverlag in Kassel stark gefördert wurde. Der „Gölz", das in den fünfziger und sechziger Jahren am meisten verbreitete evangelische Chargesangbuch bestätigt diese Feststellung: Dies Chorgesangbuch hat ausschließlich Chorsätze des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts. Und zumindest in den musikalisch interessierten kirchlichen Kreisen wurde das EKG als befreiend aufgenommen. Hinzu kam, dass es erstmals in der Gesangbuchkultur nicht in ausschließlich schwarzem Gewand daherkam.

Aber zurück zu Kuessner: Sein ganzer Zorn richtet sich gegen den für den Stammteil des EKG ( 394 Lieder) verantwortlichen Herausgeber Oberkirchenrat Mahrenholz aus Hannover. Der charakterisiert sich selber „als einzelner Handelnder" ( S. 99): der „mit niedersächsischer Hartnäckigkeit" (S. 97) es verstand, „sich kirchenpolitisch durchzusetzen" ( S. 97). Er erwies sich „als wendiger, realistischer Kirchenpolitiker" ( S. 101), der ein „wirklichkeitsfremdes Bild von dem Gottesdienst in den damaligen Dorfgemeinden" ( S. 105) hatte, der auch vor „offen falschen Behauptungen" ( S. 105) nicht zurückschreckte. Das von Mahrenholz zu verantwortende EKG sei als Gesangbuch für eine normale Gemeinde nicht brauchbar, sondern für einen elitären Zirkel, dem schließlich im Kloster Amelungsborn von Bischof Lilje die Möglichkeit geboten wurde, als Abt in einer Gruppe von Gleichgesinnten sein Idealbild von Kirche zu verwirklichen ( vgl. dazu S. 124).

So richtig all das ist - und für mich manifestiert sich diese restaurative Haltung von Mahrenholz noch stärker in der lutherischen Agende 1 vom Jahr 1955 -, muss doch gesehen werden, dass der Stammteil des EKG weitgehend einer Stimmung entsprach, die Freude hatte am reformatorischen Liedgut und für Lieder des 19. Jahrhunderts keinerlei Verständnis aufbrachte. Aber das ist im Gesangbuch bis hin zum Evangelischen Gesangbuch von 1994 die ungeklärte Frage, welche Kriterien für die Aufnahme von Liedern bestimmend sind und wie weit postulierte „Gemeindenähe" ( bis hin zu Liedern wie „Stille Nacht" oder „Wir sagen euch an den lieben Advent" ) ausschlaggebend sein darf. Bei aller berechtigten Kritik von Kuessner am EKG kann ich nur feststellen, dass dies Gesangbuch für mich wie eine Befreiung von dem mir bis dahin bekannten Oldenburger Gesangbuch von 1922 war, zu dem ich nie einen Zugang gefunden hatte.

Es folgt das 9. Kapitel als ein Lobgesang auf das „Evangelische Gesangbuch" von 1994 (EG). „Es wird das Gesangbuch des 21. Jahrhunderts sein", weil es

  • unter breiter Beteiligung alier Landeskirchen auf verschiedenen Ebenen zustande gekommen ist;
  • innerprotestantische Spaltungen überwindet;
  • viele Lieder mit der römisch-katholischen Kirche gemeinsam hat;
  • neue Gottesdienstformen unterstützt.
Freilich bleibt auch dies Kapitel nicht unkritisch, gerade nicht dann, wenn es um „Autoritätsgesänge"" der evangelischen Kirche geht. Ich wähle als Beispiel das Lutherlied „Nun freut euch, lieben Christen g'mein": „Schon die zweite Strophe trifft eine Bewusstseinslage, die den Sänger zum Lügner macht. „Dem Teufel ich gefangen lag / im Tod war ich verloren / mein Sünd mich quälte Nacht und Tag"" na bitte, keine Übertreibung." „Besessenheit von der Sünde""- soll sich das jemand im Gottesdienst einreden und einsingen? "„Es war kein Guts am Leben mein / die Sünd' hat mich besessen.” Für eine den Text mitsingende Gemeinde ist er eine Zumutung.

Summa:
Das Buch zu lesen war für mich ein Gewinn. Ich habe selbst eine kleine Gesangbuchsammlung. Und während der Lektüre habe ich mir immer wieder das eine oder andere Gesangbuch herausgenommen, um Vergleiche zu ziehen. Ich wünsche dem Buch, dass es unter Pastoren und Kirchenmusikern viele Leser findet, weil sie nach der Lektüre sehr viel bewusster mit unserem kirchlichen Liedgut umgehen werden.




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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu123/gesangbuch.htm, Stand: Mai 2008, dk