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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 128 - Dezember 2009


Schuld bekennen -doch ja nicht benennen
Zur Kirchlichkeit der 50er Jahre

von Herbert Erchinger
(Download als pdf hier)

Der Vortragsabend in St Petri mit Dietrich Kuessner über die Braunschweiger Stadtkirchen in den 50er Jahren brachte manche Erinnerung zu neuem Leuchten. Zeitzeugen traten auf: Frühere Mitglieder und Leiter der damaligen lebendigen Jugendarbeit erzählten begeistert von der kirchlichen Aufbruchsstimmung in noch halb zertrümmerten Kirchen und Gemeinderäumen. Der Referent nannte die riesigen Zahlen von Taufen, Konfirmanden und Trauungen der 50er Jahre. Das kirchliche Leben war damals in voller Blüte. Das lag zum einen daran, dass die Kirche nach dem Krieg die einzige Groß-Institution war, die - unberechtigterweise- auf Grund des Widerstandes einiger weniger ohne Ansehens- und Machtverlust aus der Nazizeit hervorgegangen war und die volle Unterstützung der westlichen(!) Besatzungsmächte genoss. Ich habe heute noch eine 1947 in den USA gedruckte Bibel, die mit den Care-Paketen nach Deutschland kam.
Zum anderen gab es damals -besonders in der Jugendarbeit- kaum Konkurrenz für die Kirche. Nur wenige Kinos, kein Fernsehen, keine Disco, keine Freizeitindustrie, keine Ganztagsschulen, kein Computer, kein Internet. Es gab nur die Kirche als Alleinunterhalter.
Zum dritten bot die Kirche der ehemals tief im Nazismus verstrickten Bevölkerung eine bequeme Möglichkeit, die unter dem Schock der Niederlage noch Jahrzehnte beschwiegene Schuld unbewusst und in homöopathischer Dosis zu lindern. Schuld bekennen, ohne sie zu benennen- diese Möglichkeit bietet jedes Vaterunser, jeder Gottesdienst und jede kirchliche Amtshandlung. "Wir sind allzumal Sünder". In einer Art Generalabsolution traten viele alte Nazis wieder in die Kirche ein. Die Kirchlichkeit der 50er Jahre war ein Stück Resozialisierung und verhalf sehr zu dem Gefühl, wieder ein wohlanständiger Mensch zu sein, ohne sich ernsthaft der Vergangenheit zu stellen. Im aufopferungsvollen und begeisterten Einsatz für den Wiederaufbau nicht nur der Kirchen wurden viele Schuldgefühle insgeheim abgearbeitet. Eine ganz wichtige Wurzel auch des Wirtschaftswunders. Die unglaubliche Dynamik in diesem Mechanismus wird in unserer Region deutlich durch die Tatsache, dass schon 1952 das VW Werk in Wolfsburg das modernste Automobilwerk Europas war. Dieser Schwung beflügelte auch die Kirche. Die damit verbundene Verdrängung platzte erst 1968.
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis war dagegen-weithin wirkungslos- eine reine Pflichtübung der Kirchenleitungen, ein Canossa als Voraussetzung für die Wiederaufnahme ökumenischer Beziehungen. Das viel glaubwürdigere Darmstädter Wort des Bruderrates der Bekennenden Kirche unter der Federführung von Hans-Joachim Iwandt aus Beienrode wurde weithin missachtet. Beide Schuldbekenntnisse sind kaum in den Gemeinden wahrgenommen worden. Und beide verschweigen völlig die Verbrechen an den Juden. (Die Begriffe Holocaust und Shoah waren noch längst nicht geprägt.)
So waren In den kirchlichen Arbeits- und Lebensformen durchaus noch Kontinuitäten vorhanden. Mancher ehemals schneidige Offizier brachte seine bei der Wehrmacht erworbenen Kompetenzen erfolgreich in der kirchlichen Jugendarbeit ein. 1952 besuchte ich als 12jähriger Jungpfadfinder ein Jugendlager im Sachsenhain bei Verden. Der ganze Bezirk war ein für die HJ errichtetes Führungslager, das die Kirche von der Besatzungsmacht geerbt hatte. Ehrfürchtig bestaunten wir die Tausende von Findlingen, die die Nazis zum Gedenken der durch Karl den Großen Sachsenschlächter hingerichteten Germanen aufgereiht hatten. Die Aura der Location hatte überlebt. Wir marschierten im Gleichschritt mit Grauhemd und blauem Halstuch daran vorbei. Wir waren als Christliche Pfadfinder eine Art kirchliche HJ, genossen unsere Polizeifunktion bei den Kirchentagen und sangen noch weitgehend die gleichen Lieder. Ich geb´ es zu: Zum Teil summe ich sie heute noch und finde viele in der Mundorgel: "Wildgänse rauschen durch die Nacht.." "Und wenn wir marschieren, dann leuchtet ein Licht." "Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm.." "Wilde Gesellen, vom Sturmwind verweht.." "Spieß voran drauf und dran, setzt auf´s Klosterdach den Roten Hahn." "In der Morgenfrühe, das ist unsere Zeit". Auch die "frommen" kirchlichen Lieder atmeten den Gewalt akzeptierenden Geist der Systemzeit: "Es mag sein, dass alles fällt, dass die Burgen dieser Welt um dich her in Trümmer fallen, halte du den Glauben fest" . Kurz vorher hatte man noch in der HJ ganz ähnlich gesungen:"Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt.." Wenn auch der Sinn anders war, war es doch die gleiche Sprache. Und der gleiche autoritäre Charakter. (Und die in der HJ hatten auch ihren "Glauben".)
Übrigens kann ich alle diese Lieder heute noch auswendig bis zur letzten Strophe. So sehr hat das geprägt. Und ich erinnere mich, dass die Diakone, die unser Zeltlager leiteten, bei den Wanderungen immer vom Krieg erzählten. "Im Felde, da ist der Mann noch was wert.." Wie in Wallensteins Lager. Dazu passte dann auch der tägliche Morgenchoral "Kommt her des Königs Aufgebot, die seine Fahne fassen"…Unfassbar! Noch heute im Gesangbuch EG 259 .
Der politischen Verdrängung entsprach die rigorose Sexualverdrängung in der kirchlichen Jugendarbeit. Geschlechtertrennung war selbstverständlich. Mädchen waren absolut tabu bei den Christlichen Pfadfindern. Als ich einmal beim Krippenspiel als 14 jähriger Josef mit der hübschen Maria anbändelte und mit ihr harmlos am Kanal spazieren ging, wurde ich von meiner Pfadfindergruppe schwer zur Ordnung gerufen. Sie organisierten ein spontanes Strafverfahren, in dem ich nach Anhörung und Zeugenaussagen zu "lebenslänglichem Atemholen" verurteilt wurde. Damals habe ich das durchaus als schwere Disziplinierung erlebt. Erst nach dem Abitur habe ich mich wieder getraut. Die soziale Kontrolle in der Kirche und besonders im Pfarrhaus setzte jedem Versuch der Selbstbestimmung enge Grenzen.
Fairerweise ist aber zuzugeben, dass die intensive Kirchlichkeit der 50er Jahre viele junge Menschen stark prägte und viele tüchtige ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hervorbrachte, von denen wir bis heute zehren, von der Pfarrerschaft über die Diakonie bis zu den Posaunenchören..Positiv prägend war auch, dass wir damals überhaupt nicht verwöhnt waren. Eine Fahrradtour mit dem Zelt durch das Weserbergland hatte einen Zauber und einen Erlebniswert wie heute vielleicht eine Reise nach Sizilien.
Nichtsdestotrotz: Die Kirche war damals fest im Verdrängungsverbund des Adenauerstaates gefangen. Erst die nachhaltigen Kontakte zur Ökumene, die Vertriebenendenkschrift, die Aktion Sühnezeichen, die Studentenrevolte und die Friedensbewegung ermöglichten neue Verhältnisse. In der Braunschweiger Landeskirche hat Bischof Heintze mit behutsamer Beharrlichkeit trotz schwerster Widerstände neue Weichen gestellt. Aber auch das war noch lange sehr ambivalent. Bei meinem Bewerbungsgespräch für das Studentenpfarramt in Braunschweig 1976 punktete ich bei Bischof Heintze damit, dass ich "Die Präparierte Zeit" von Klaus Müller gelesen hatte. Bei den konservativen Mitgliedern der Kirchenregierung punktete ich vor allem damit, dass ich vor meinem Studium brav meinen Wehrdienst bei der Marine abgeleistet hatte und mich als Leutnant zur See der Reserve outete. Ganz im Gefolge von Zuckmayers Hauptmann von Köpenick: "Ham Se gedient"? Immer noch beeinflusste die Beantwortung dieser Frage Lebensperspektiven.




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