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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 130 - Juni 2010


Braunschweig als Provinz

von Herbert Erchinger
(Download als pdf hier)

Wolfgang Gropper hat in seiner Rede beim Neujahrsempfang des Landesbischofs in der Klosterkirche Riddagshausen (KvU 129 S 16ff) heftig mit der angeblichen Provinzialität der Region und der Stadt Braunschweig kokettiert. Aber durch das ständige Aufzählen nicht provinzieller hochkarätiger Institutionen in Braunschweig, vom Forschungsflughafen bis zur Stadt der Wissenschaft arbeitet er m.E. nur den versteckten bzw verdrängten Minderwertigkeitskomplex der Stadt Braunschweig ab. Das ist verdächtig, weil mancher es offensichtlich nötig hat, zu protzen und sich aufzublasen..
Auch bei der grossen Show von "Pop meets Classic" in der VW- Halle tönte es protzig trotzig: Braunschweig sei zwar nicht "Kultur- Hauptstadt", aber "Kulthauptstadt". Ständig wird der Leberfleck der Provizialität Braunschweigs kosmetisch kaschiert und dadurch nur umso greller sichtbar.
Der einzig richtige Weg ist, zur Provinz zu stehen und ihre Vorteile zu erkennen. Nur ein entspanntes Verhältnis zur Provinz ist Ausdruck eines stabilen Selbstwertgefühls.
Ich persönlich empfinde die Provinzstadt Braunschweig als angenehmen Rückzugsort und als Regenerations-Oase. Ich habe lange genug in Hannover gelebt und bin häufig in Berlin. Da nehme ich immer wieder gern Abschied von der Metropole und schüttele meinen Staub von den Füssen. Das Herz ist doch nichts ohne seine Blutgefässe und der Kopf nichts ohne seinen Körper bis zu den Zehen. Hier darf es keinerlei hierarchische Wertung geben. Provinz ist Chance, nicht Manko.
Die Chance der Provinz ist für mich ganz einfach der geringere Stress. Kürzere Wege, weniger Reibungsverluste. Das habe ich sofort erfahren, als ich vor vielen Jahren von Hannover nach Braunschweig zog. (Leider sind wir heute in der Kirche in Gefahr, den geringeren Stress in der Provinz zu verspielen.) Die Chance der Provinz ist weiterhin die geringere Anonymität. Man kennt sich in der kirchlichen Szene, man begegnet sich immer wieder, auf der Straße, beim Einkaufen, im Theater oder im Park auf dem Fahrrad. Ja, dass ich in Braunschweig eigentlich alles mit dem Fahrrad erledigen kann und nicht in grausige U_Bahn-Schächte steigen muss, macht mir diese Stadt zur Heimat.
Sicher zu Recht grenzt sich Gropper in seiner humorvollen Rede von Engstirnigkeit, Kleinbürgerlichkeit, Intoleranz und Rückwärtsgewandtheit als provinziellen Haltungen ab. Aber kleinbürgerlich und engstirnig sind natürlich doch immer nur die anderen. Und gibt es diese negativen Haltungen nicht auch in den Metropolen?
Ja, Gropper hat Recht: Provinziell ist es vor allem, nicht zur Provinz zu stehen. Man muss ihre Vorzüge erkennen.
Es ist doch kein Zufall, dass sich in Provinzstädten oft besonders gute Hochschulen entwickelt haben: Tübingen, Göttingen, Erlangen, Greifswald und und und... Alles Provinz Aber dort ist eben Ruhe und Konzentration noch möglich. Und auch Jesus lebte weitgehend in der Provinz und weinte über Jerusalem. Der Aufenthalt in der Metropole war eine reine Passionsgeschichte, stressig, intrigant und sehr ambivalent. Und nach der Auferstehung erschien er seinen Jüngern sofort wieder in Galiläa. Dort begann die weltweite Kirche. Es lebe die Provinz.
Das einzige, was der Provinz nachhaltig schadet, ist die Isolierung. Erst sie raubt ihr die Vitalität. Dies lässt sich an der traurigen DDR- Mauer -Geschichte ablesen. Provinz braucht Reiselust und weltweite Kontakte. Wenn das Fernweh an fernen Horizonten gestillt ist, kehren wir immer gern mit erweitertem Horizont zurück in die Provinz und finden gerade dort die Muße, weltweite Impulse zu ordnen und fruchtbar zu machen. Nachdem ich im Vorjahr über die riesige Brooklyn Bridge nach Manhattan gewandert bin, gehe ich wieder mit besonderem Genuss und Heimatgefühl über die kleine Okerbrücke im Rosental auf den Inselwall, freue mich an Braunschweig und weiß, wohin ich gehöre.
Nachdenklich macht mich allerdings die Geschichte des Nationalsozialismus. Wucherte dieses Krebsgeschwür nicht besonders früh in den Provinzen? Bückeburg, Thüringen, Braunschweig fallen mir da ein. In Berlin dagegen hatten die Nazis lange keine Chance auf Grund einer wachsamen Arbeitnehmerschaft und eines aufgeklärten Bürgertums. Aber ach, zur Schande der Metropolen fällt mir München ein, die "Hauptstadt der Bewegung". Entscheidend ist immer eine kritische Öffentlichkeit. An ihr entscheidet sich auch die Lebensqualität der Provinz.


[Butterblume]




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