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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 130 - Juni 2010


Predigt zur Trauerfeier von Dr. Rudolf Thaer,
am 17. April 2010 in der Wichernkirche Braunschweig-Lehndorf

von Pfarrerin Kristina Kühnbaum-Schmidt, St. Petri
(Download als pdf hier)

[Zaunwinde]


I

Liebe Familie Thaer, liebe Trauergemeinde,

wo fangen wir an, wenn wir Abschied nehmen von Dr. Rudolf Thaer,
dem so viele hier heute verbunden waren,
die ihn geliebt haben wie Sie, die Kinder und Schwiegertochter,
die mit ihm so manche Strecke seines Lebens gegangen sind,
wie Sie, die Freunde und Freundinnen,
die Verwandten, Bekannten, ehemalige Kollegen, Mitglieder der Wicherngemeinde,
Bewohnerinnen und Bewohner des Augustinums ?
Wo fangen wir an, Abschied zu nehmen von einem,
der, wie er selbst es gesagt hat, voller Dankbarkeit war für ein so erfülltes,
und voller Überraschung über ein so langes Leben?
Wo fangen wir an und wie fangen wir es an?
Vielleicht ja so:

"Nenne mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes ...."
So fängt es an, ein antikes Epos auf einen Lebensweg, den Lebensweg des Odysseus,
ein Gesang, dessen Anfang Rudolf Thaer vielleicht hätte mitsprechen und
nahezu selbstverständlich verstehen können,
war er doch, geboren am 29. Juni 1913 in Jena
im akademischen Umfeld seiner Familie in Greifswald
groß geworden mit den klassischen Sprachen des Lateinischen und Griechischen.
Und bestimmt hatte er am humanistischen Gymnasium zu Greifswald
auch diese Verse des Dichters Homer übersetzen müssen,
dieses große Gedicht in seinem eigenen sprachlichen Singsang,
"Nenne mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes ...."
ein Singsang, der herüberweht aus einer Zeit lange vor unserer.

Wie auch die Zeit, in der Rudolf Thaer zu Beginn des 1. Weltkriegs aufwuchs,
so lange zurückliegt,
der betrauerte und beweinte Tod seiner Mutter, als er 15 Jahre alt war,
sein Abitur mit 17 Jahren,
seine ersten Studiensemester der Mathematik, Physik und Chemie in Greifswald,
Breslau und Stuttgart,
und neben dem Studium viele Stunden auf dem Meer beim Segeln
im Akademischen Segler-Verein.

"Nenne mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes ...."
ja, so könnten wir anfangen mit einem großen Gesang,
mit dem wir seinen Lebensweg nachvollziehen könnten,
seinen Wechsel in ein anderes Studienfach, den Maschinenbau,
die geistige Herausforderungen, die er dabei geradezu genossen hat.
Wir könnten von seiner Arbeit erzählen,
ganz in der Tradition des agrarwissenschaftlichen Zweiges seiner Familie,
der Arbeit in der Forschungsanstalt für Landwirtschaft,
von seinen wissenschaftlichen Leistungen,
der Dissertation, die er trotz einer schweren Erkrankung anfertigte,
und der erneuten wissenschaftlichen Arbeit auf einem Gebiet der Mikrobiologie.
Wir könnten erzählen von der Anerkennung,
die er in seinem Institut, aber auch in Fachkreisen, erhielt,
und davon, dass es ihm nicht leicht fiel, 1976 in den Ruhestand zu gehen,
auch davon, dass sein Schreibtisch in der FAL noch gut eineinhalb Jahre
länger in Benutzung war.
Und Rudolf Thaer selbst würde uns wohl mit berechtigtem Stolz
und gleichzeitiger großer Bescheidenheit und Zurückhaltung zuhören
und wenn wir fertig wären mit unserem großen Gesang,
zu dem ein Lebensweg wie der seine
und eine aufrechte Haltung wie die seine
uns verführen könnten,
dann würde er uns wohl mit einem feinen Lächeln an seinen Konfirmationsspruch erinnern:
"Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue,
die du an deinem Knechte getan hast."


II

Wo also fangen wir an,
Abschied von Rudolf Thaer zu nehmen und wie fangen wir es an?
Vielleicht auf ganz andere Weise, vielleicht so:
Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob.
Jakob zeugte Juda und seine Brüder.
Juda zeugte Perez und Serach mit der Tamar.
Perez zeugte Hezron, Hezron zeugte Ram.
Ram zeugte Amminadab.
Amminadab zeugte Nachschon.
Nachschon zeugte Salmon.
Salmon zeugte Boas mit der Rahab.
Boas zeugte Obed mit der Rut.
Das ist ein ganz anderer Anfang als der eines antiken Gesanges.
Es ist der Anfang eines Stammbaumes,
der Stammbaum des Volkes Gottes.
Von Abraham angefangen geht er durch die Generationen derer,
die, von einer jüdischen Mutter geboren,
vor allen anderen Teil des Volkes Gottes sind.

Von einer jüdischen Mutter geboren -
das trifft auch auf Rudolf Thaer zu,
den getauften und konfirmierten Christen,
und die Herkunft und der Glaube seiner Mutter,
die haben sein Leben bis in die letzten Jahre, Wochen und Tage
in ganz besonderer Weise geprägt.
Die barbarische Herrschaft des Nationalsozialismus
bedeutete für ihn Diskriminierung, bedrängende Angst,
sie bedeutete Trauer und Verlust und Bitterkeit.
Als sog. "Halbjuden" war ihm jegliche akademische Laufbahn verschlossen,
wurde ihm die Reichsbürgerschaft und damit auch die Eheschließung verweigert,
und er wurde, nach Jahren als einberufener Soldat, als "wehrunwürdig" erklärt.
Die Pogromnacht 1938 zeigte ihm in brutaler Deutlichkeit,
wozu das Regime und die ihm folgenden Menschenmassen in Deutschland fähig waren -
von den 18 seiner jüdischen Verwandten
wurden in den Folgejahren 12 von den Nazis ermordet.
Was all das, vor allem das widerstandslose Zusehen vieler seiner Mitbürger,
ihr über weite Strecken sogar überzeugtes Mittragen dieses Terrors,
auch das weitgehende Versagen der christlichen Kirchen,
was all das in dem jungen Rudolf Thaer ausgelöst hat,
das hat er selbst so beschrieben:
"Verbitterung, Verachtung und Feindschaft.
Ich wollte mit der Mehrzahl meiner Mitmenschen nichts mehr zu tun haben."

An diesem Tiefpunkt aber gab es auch das Erlebnis einer inneren Befreiung
aus seinem Glauben heraus.
Ihm wurde, so sagte er es,
ihm wurde klar, "dass ich ebenso wie meine Feinde
von mir aus vor Gott nicht bestehen konnte."

In Ulm, wo er als Konstrukteur
in einer Pflugfabrik arbeitete,
lernte er in einem Bibelkreis
seine spätere Ehefrau Elisabeth kennen.
Nach Ende des nationalsozialistischen Regimes heirateten die beiden,
über 50 glückliche Ehejahre haben sie geteilt,
und eine Verbindung miteinander gehabt,
die man regelrecht spüren konnte -
wie ein unsichtbares, aber festes Band der Aufmerksamkeit,
der Liebe und gegenseitigen Achtung.
In den 50er Jahren wurden die beiden Kinder Gertrud und Albrecht geboren,
später das Haus im Kanzlerfeld gebaut
und der von da an enge Kontakt zur Wicherngemeinde geknüpft.
Als Kindern ist er ihnen als liebevoller und gerechter Vater in Erinnerung,
als einer, der eine natürliche Autorität besaß.
Dass man an seinem Arbeitszimmer anklopfte,
war selbstverständlich - für Sie als Kinder, aber auch für Ihre Mutter.
Und das nicht, weil er es mit Zwang und Druck durchgesetzt hätte -
nein, es geboten ganz einfach der Takt und die Höflichkeit.
Ihre Eltern hatten ein gastfreundliches Haus -
das prall gefüllte Gästebuch war ein gehüteter Schatz.
Im Ruhestand dann half die Mitarbeit in der Wicherngemeinde Ihrem Vater,
den Schritt aus dem Berufsleben heraus auch tatsächlich zu gehen -
die freundschaftliche Verbindung mit Pfarrerehepaar Kiel war wichtig und bedeutsam,
die Reise nach Tansania,
der Corrymeela-Kreis, die Diakonie, der Kirchenvorstand.
Als ich 1995 nach Wichern kam,
da waren ihre Eltern gerade umgezogen ins Augustinum,
und als ich sie bei meinem ersten Gottesdienst kennenlernte,
da waren sie beide zu Fuß vom Augustinum hierher in die Kirche gekommen.
Und genau so haben sie es auch lange Zeit weiter gehalten.
In Wichern sprach man mit Respekt und Anerkennung von Ihrem Vater,
ich selbst habe ihn über die Jahre immer wieder erlebt als einen,
der sich seiner eigenen Lebensgeschichte
mit zuweilen schmerzhafter Genauigkeit stellte.
Er wollte nicht, dass vergessen wird,
was geschehen war,
und bei all seinem Nachgehen in die Vergangenheit,
seinem Wunsch, zu gedenken,
musste er sich auch immer wieder dem Schmerz stellen,
den die Erinnerung eben auch bedeutete.
Er hat das bis zuletzt
mit großer Wahrhaftigkeit vor allem sich selbst gegenüber, getan,
aber er hat bei all dem nicht zuerst auf andere gezeigt
und ihnen nahegelegt, was sie tun sollten,
sondern er hat sich zuerst selbst angesehen -
und wenn er bei anderen etwas falsch gesehen hatte,
so hat er von sich aus erste Schritte getan und sich um Versöhnung bemüht.
Auch darin war er wohl das, was man einen Solitär nennt -
ein kostbares Einzelwesen, eine Besonderheit -
ein Solitär auch seiner Kirchengemeinde.

Als seine Frau Elisabeth schwer erkrankte,
da hat er wie ein Löwe um sie gekämpft,
aber er hat sie dann auch, als es nicht anders ging,
in Frieden gehen lassen können.
Das Augustinum und die Gemeinschaft des Hauses dort wurden dann wichtiger,
die Gottesdienste und Andachten,
der Literaturkreis.
Sein tragischer Tod in der Nacht des Karfreitags
wirft manche Frage auf -
auf diese Weise zu sterben,
hätte man niemandem, das hätte man gerade ihm nicht gewünscht.
Und manches, was einen im Blick darauf beschäftigen,
was man fragen und überlegen mag,
wird wohl offen bleiben müssen -
und wird auch dadurch nicht weniger schmerzhaft.


III

"Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue,
die du deinem Knechte getan hast."
Rudolf Thaers Konfirmationsspruch charakterisiert ihn und seine Haltung,
seinen Glauben, in treffender Weise.
Er empfand große Dankbarkeit für alles,
was ihm an Gutem widerfahren war,
und sah es nicht in erster Linie als seinen Verdienst oder sein Werk an.
Seinen Glauben wollte er ernsthaft und tiefgründig erfahren und durchdenken,
auch darin ein dienender, ein "Knecht" sein.
Rasche und flache Antworten mochte er nicht -
und weil er es sich selbst nicht einfach machte,
schätzte er es auch nicht, wenn andere es sich einfach machten
oder zu schnell mit dem Denken aufhörten.
In all dem aber gab es für ihn und in ihm das,
was man schlicht eine tiefe Frömmigkeit des Herzens nennen kann.
Es ist eine Frömmigkeit,
die ihre Wurzeln in einer intellektuellen Tradition des Protestantismus hat,
und die sich zu gleichen Teilen speist
aus praktischer, tätiger Nächstenliebe
wie aus dem Wunsch, Glauben und Verstehen zusammen zu halten.
Es ist diese Frömmigkeit Rudolf Thaers,
aus der der Auftrag entstammt,
den es nun, zum Ende dieses Abschieds von ihm,
zu erfüllen gilt.


IV

"Es soll von der Auferstehung gesprochen werden",
das hat er notiert für seine Beerdigung.
Und dass er es für nötig hielt, es zu notieren
, ist vielleicht seiner Enttäuschung darüber entwachsen,
dass er davon bei so mancher Trauerfeier, der er beigewohnt hat,
zu wenig hat reden und predigen hören.

"Es soll von der Auferstehung gesprochen werden" -
Nun, mag mancher vielleicht denken,
ist davon heute nicht schon gesprochen worden?
Von der Auferstehung, die sich nach dunklen und krisenhaften Zeiten
auch in seinem Leben immer wieder ereignete,
die es nach tiefer Dunkelheit wieder hell und licht werden ließ,
die trotz Tod und Gewalt neues Leben entstehen und wachsen ließ?

Aber das wäre Rudolf Thaer wohl zu wenig gewesen,
und auch uns sollte es zu wenig sein,
wenn wir uns mit der Auferstehung bescheiden wollten,
die sich mitten in unserem Leben immer wieder ereignet
- so wunderbar und überwältigend sie auch ist.
Denn wie heißt es doch bei Apostel Paulus?
"Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus,
so sind wir die elendsten unter allen Menschen."

Unsere menschlichen Fähigkeiten in diesem Leben,
unsere menschlichen Möglichkeiten
in Wirtschaft und Politik,
in Wissenschaft und Kunst und auch in der Kirche,
die haben es immer mit bereits Vorhandenem zu tun.
Mit schon Existierendem,
das wir erforschen und regeln und gestalten können.
Gottes schöpferische Kraft aber,
das meint der Glaube an die Auferstehung,
Gottes schöpferische Kraft ist nicht auf diesen Bereich begrenzt.
Sondern vielmehr:
Wer Gott ist und was Gott vermag,
das wird deutlich am Anfang und zum Ende des irdischen Lebens.
Alles, was zwischen diesen beiden Grenzpunkten liegt,
alles das ist offen dafür,
dass wir Menschen es verstehen oder gestalten
Gott aber wird schöpferisch
jenseits dieser beiden Grenzpunkte des Lebens:
Er ruft aus dem Nichts ins Leben.
Am Anfang, vor aller Zeit.
Und er ist es auch,
der alles Leben davor rettet,
null und nichtig zu werden.
Am Ende unseres Lebens, am Ende aller Zeit.

An Jesus Christus ist das zum ersten Mal deutlich geworden
und was für ihn gilt, soll für uns alle gelten.
Dass der Tod auch für uns nicht das letzte Wort hat,
weil Jesus Christus von den Toten auferstanden ist,
das hören wir als Botschaft von Ostern,
das hören wir als Botschaft der Auferstehung
beim Abschied von Rudolf Thaer.
Wirklich begreifen werden wir es wohl erst dann,
wenn wir selbst aus dem Tod ins Leben gerufen
und von Gottes Liebe umgeben sein werden.
Und wenn wir dann vielleicht, voller Überraschung und Staunen,
einstimmen in die Worte,
die Rudolf Thaer seit seiner Konfirmation begleitet haben:
"Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue,
die du an deinem Knechte getan hast."
Amen.




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