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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 130 - Juni 2010


Dürfen wir Gott noch den Herrn nennen?
Über Sprache und Herrschaft

von Eberhard Fincke
(Download als pdf hier)

Der Glaube, Gott sei ein Herr, übe Herrschaft aus wie ein König oder wie ein Gesetzgeber, kann sich weder auf Mose noch auf Jesus berufen. Im Gegenteil, wir lesen in der Bibel, dass "Gott mit Mose redet wie mit einem Freund" (II. Mose 33, 11). Und Jesus machte in vielen Gleichnissen immer wieder klar, dass es sich mit dem "Reich Gottes" - bzw. Gottes Königstum oder Herrschaft - ganz anders verhalte, als herkömmlich gedacht. (Luk. 17, 20 - 24)

Beide sieht die biblische Tradition als Kämpfer gegen Herrschaft. Mose steht für die Befreiung aus der ägyptischen Herrschaft. Jesus wendet sich gegen jede Über- und Unterordnung (Markus 10, 35 - 45 u. die Fußwaschung Joh. 13). Das alles wird nun noch einmal verstärkt durch eine überraschende Entdeckung.

Die beiden herausragenden Texte, einerseits Mose und anderseits Jesus zugeschrieben, die Zehn Gebote und das Vaterunser, gehen offenbar auf eine uralte Fünf-Finger-Lehre zurück, die sich ebenfalls gegen Herrschaft richtet. In dieser Lehre bilden die fünf menschlichen Grundbedürfnisse
Freiheit - Wahrheit - Gerechtigkeit - Liebe - Leben
eine Einheit, die genau in der einzigartigen Gestalt der fünf Finger wiederkehrt, vom Daumen angefangen. In einer Gesellschaft ohne Schrift konnte man sich also mit Hilfe der Finger leicht über den Weg zum Frieden verständigen. Die verschiedenen Interessen und Bedürfnisse kamen wechselseitig in eine Balance. Man benötigte dazu keine höhere Macht, keinen König oder eine staatliche Autorität, die mit Gesetz und Strafe für Gerechtigkeit sorgt. Die würde im Gegenteil sogar stören.

Bedachte man also ein aktuelles Problem entlang an den fünf Fingern bzw. an jenen fünf Bedürfnissen, die sie repräsentieren, so ergab das einen "Fingerreim". Die Zehn Gebote und das Vaterunser sind besonders kunstvolle Fingerreime. Beiden Texten ist das deutlich anzusehen, weil bei ihnen sogar die Doppelform vorliegt, die vom Daumen zum kleinen Finger und wieder zurück zum Daumen führt. Das ergibt thematisch die typische spiegelsymmetrische Anordnung, die nicht zufällig entstanden sein kann.

Die Zehn Gebote (II. Mose 20)
1. Ich, dein Gott, der dich Daumen Freiheit
aus dem Sklavenhaus geführt hat,
... keine anderen Götter... 
2. Du sollst dir kein Bildnis machen Zeigefinger Wahrheit
(von der Wahrheit) 
3. Du sollst den Namen Gottes nicht Mittelfinger  Gerechtigkeit
missbrauchen (zu Unrecht) 
4. Achte den Ruhetag Ringfinger  Liebe 
5. Ehre deine (alten) Eltern, damit du kl. Finger Leben
lange lebest
6. Du sollst nicht töten kl. Finger Leben
7. Du sollst nicht ehebrechen Ringfinger Liebe 
8. Du sollst nicht stehlen Mittelfinger Mittelfinger
9. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden Zeigefinger Zeigefinger
10. Du sollst nicht begehren, was Daumen  Freiheit 
deines Nächsten Freiheit
ausmacht

Das Vaterunser (Matthäus, 6, 9 - 13)
Vater unser im Himmel, Daumen Freiheit
Geheiligt werde dein Name, Zeigefinger Wahrheit
Dein Reich komme, Mittelfinger Gerechtigkeit
Dein Wille geschehe, wie im Himmel... Ringfinger Liebe
Unser täglich Brot gib uns heute,      kleiner Finger Leben
Und vergib uns unsere Schuld, Ringfinger Liebe
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, Mittelfinger Gerechtigkeit
Und führe uns nicht in Versuchung, Zeigefinger Wahrheit
sondern erlöse uns von dem Bösen. Daumen Freiheit

Die ersten fünf Gebote vom Daumen bis zum kleinen Finger raten, was man im Verhältnis zu Gott bzw. für sich selbst tun oder lassen soll, in den zweiten fünf, vom kleinen Finger bis zum Daumen, geht es um die anderen, zwei Hände - zwei Tafeln.
Ähnlich gelten beim Vaterunser die ersten vier Bitten Gott (Dein), während vom kleinen Finger an, der hier nur einmal angesprochen wird, fünf Anliegen der Betenden (uns) formuliert werden. (Die bekannte Schlussformel des Vaterunsers gehört nicht zum ursprünglichen Text und ist deswegen auch nicht Teil des Fingerreims.)
Um zu verstehen, wie die beiden Texte ursprünglich gemeint sind, steht uns also mit dem Fingerreim ein einzigartiger Schlüssel zur Verfügung. Seit Abfassung der beiden Texte hat sich ja die Hand nicht geändert. Umso merkwürdiger erscheint es, dass sich in der ganzen Bibel kein entsprechender Hinweis dazu findet. Doch wird dies plausibel, wenn man bedenkt, dass die Fünf-Finger-Lehre einer schriftlosen und herrschaftsfreien Kultur angehört.
In solcher Kultur hat man gelernt, jene fünf Grundbedürfnisse so auszubalancieren, dass wechselseitig Anlässe für Gewalt möglichst vermieden werden. Folglich ist es verpönt, auf Kosten des anderen einen Vorteil erlangen zu wollen. Dieses balancierende Verhalten kennen und praktizieren wir durchaus auch heute, dort, wo es keine höhere Instanz gibt, die durch Herrschaft und Gesetz die Dinge regelt, z. B. im Völkerrecht oder im Verhältnis zu Nachbarn und Freunden. Nach und nach wurde jedoch der Bereich immer mehr ausgeweitet, in dem es durch Gesetze gerechtfertigt erscheint, einen Vorteil auf Kosten anderer zu erlangen.
Entstanden ist dieses Recht auf den Vorteil vor 6000 - 8000 Jahren mit dem Aufkommen von Königen, also von Herrschaft und Gesetz. Die Demokratisierung mit ihrer Forderung, gleiches Recht für alle, hat dann auch das Recht auf den Vorteil allen zugänglich gemacht.

Die balancierende Kultur wird sich anfangs nicht kampflos den Königen und Herren ergeben haben. Zu sehr widerspricht das Recht der Könige auf den Vorteil dem Herkommen seit Urzeiten. Doch wir wissen über den Hergang dieser Auseinandersetzung wenig. Da dieser Umbruch im alten Israel aber vergleichsweise spät stattfand, hat dort der Widerstand gegen die Einführung der Königsherrschaft Eingang finden können in die schriftliche Überlieferung der hebräischen Bibel. In den Büchern Richter, Samuel und Könige wird erzählt, wie die Könige gegen den Willen Gottes eingesetzt wurden und wie das Königtum sich auch nicht bewährt hat.

Um die Widerstände der alten Kultur zu brechen, mussten die Herren zweierlei erreichen. Zum Einen galt es, glaubhaft zu machen, dass sie das herkömmliche und bewährte Recht pflegen. Sie konnten sich ja nicht anmaßen zu ändern, was nach allgemeinem Verständnis gerecht ist. So übernahmen sie, was es an überlieferten Regelsammlungen gab.
Zum Anderen jedoch machten die Herrschenden alles Wissen, alle Erfahrung und Gebräuche vergessen, die der alten Kultur dazu verholfen hatten, ohne Obrigkeit Frieden, Recht und Zusammenhalt zu schaffen und zu erhalten. Dazu gehört offensichtlich der Fingerreim. Es kann also sein, dass die Praxis des Fingerreims schwer bestraft und deswegen von denen, die sie übten, aus Angst streng geheim gehalten wurde. Ein bekanntes Beispiel, wie grausam und vernichtend religiöse Verfolgung sein kann, sind die Kriege gegen die Albigenser und Katharer 1209 - 1229 in Südfrankreich.
Auch Judentum und Christentum sind Glaubensbewegungen, die dem herrschenden Interesse untergeordnet wurden. Das erklärt, warum solche Texte wie die Zehn Gebote und später im Christentum das Vaterunser wohl einen hervorragenden Platz in der Bibel bekamen, jedoch verschwiegen und dann vergessen wurde, dass sie als Fingerreim formuliert sind.
Dasselbe gilt für den Glauben an einen Herrn. Erst Herren und Könige ließen zu ihrer Legitimation Glauben machen, auch Gott sei ein König. Das war eine Neuerung; denn in der langen Zeit vorher, in der man Könige gar nicht kannte, konnte auch Gott nicht als Herr oder König angesehen werden.
Später hat unfreiwillig auch die altisraelische Opposition gegen das Königtum dazu beigetragen, Gott zu einem König zu machen. Ihre gegen alle Herrschaft und Könige gerichtete Rede "Allein Gott (der aus aller Herrschaft befreit - 1. Gebot) ist unser König" (Jesaja 33, 22) wurde umgedreht. Nun hieß es: "Gott ist König über allen Königen" und so Garant aller Herrschaft. Entsprechend wurde auch der wiederkommende Christus als Weltenherrscher auf den Thron gesetzt, das "Reich (Königtum) Gottes" zum geläufigsten Ausdruck für seine Herrschaft und "Herr" ein Synonym für Gott und für Jesus. Sein Glaube und der des Mose wurde somit ins Gegenteil verkehrt.

Literatur zum Thema: Gesang gegen die herrschende Meinung. Das Vaterunser - ein Fingerreim,
Radius-Verlag Stuttgart, 2000




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