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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 131 - Oktober/November 2010


Braunschweiger Kirchengeschichte als Hauspostille
Theologen-Import und Export

von Herbert Erchinger
(Download als pdf hier)

Ja, ich lese gerne in diesem dicken Buch zum Zeitvertreib, zur Entspannung oder sogar abends im Bett. Ich betrachte die vielen Bilder bärtiger Amtsträger früherer Zeiten, ich suche mir eine Periode aus und schmökere genussvoll schaurige Geschichten. Z.B. wie aus der blutigen Schlacht bei Sievershausen 1553. wie Phönix aus der Asche unsere lutherische Landeskirche entstand. Dann lese ich mich fest an der Reformationsgeschichte und staune darüber, wie stark unsere Kirche schon damals auf Importe kirchlichen Personals angewiesen war. Bugenhagen, Chemnitz, und und und. Das ist ja immer noch so. …. Allein haben die selten was gebacken gekriegt. Und diese Streitkultur und eine ständige Eifersüchtelei .begleitet die ganze Braunschweigische Kirchengeschichte bis zur Frauenordination.Vieles kenne ich schon, aber man lernt ja nie aus.
Am sympatischsten sind mir eigentlich die Querköpfe und kantigen Sonderlinge. Da ist der Pfarrer de Wette (1780-1849), der die Pfarrstelle in St Katharinen (BS) auf Grund herzoglichen Einspruchs nicht bekam, weil er als guter Seelsorger der Mutter des Kotzebue- Attentäters stud theol Sand nach dessen Hinrichtung einen Kondolenzbrief geschrieben hatte. Da ist der Pfarrer Schall (1844-1913), der trotz seiner konservativ lutherischen, ja monarchistischen Theologie in vielen Pamphleten und Vorträgen seine Sympathie für die Sozialdemokratie zum Ausdruck brachte und nicht ruhte, seiner Kirche die sozialen Probleme theologisch vor Augen zu führen. Auch er musste gehen. Ja, der Import theologischer Führungskräfte wurde kompensiert durch den Export kantiger und unbequemer Gestalten. Da freue ich mich rückblickend besonders, dass Dietrich Kuessner trotz umfänglicher Disziplinarakte bis zur Pensionierung in Offleben ertragen wurde und sogar in diesem hochoffiziellen Werk das besonders sensible Kapitel über die Geschichte der Landeskirche im 20.Jh schreiben durfte. Sein Beitrag lässt durchgehend einen eigenen Standort erkennen, was ich in manchen anderen Beiträgen vermisse. Sag mir, wo Du stehst...
Ja, sehr viel Kirche von Oben, streng reguliert durch Herzöge, Professoren, Äbte, Patrone, Grundherren und Generalsuperintendenten. Die Gemeinde als Grundelement der Kirche wird spät und selten sichtbar., Viele Fackelträger, aber wenig Feuersbrünste, die die Gemeinden entflammt hätten wie im Pietismus, der in Braunschweig nie zündete. .Viele Häuptlinge, wenig Indianer Wo gab es je die Erweckungsbewegung an der Basis? Kein Wunder, dass eine solche Konsistorialkirche für den anrührenden und sicher auch naiven Versuch einer Räterepublik der kleinen Leute 1918/19 nur Verachtung und Häme übrig hatte.
Dabei war doch die Reformation in der Stadt Braunschweig ursprünglich durchaus als Kirche von Unten gestartet. Viel zu schnell holte man die Promis aus Wittenberg und Pommern.
Wieder wird mir bewusst, dass die Reformation bei aller Großartigkeit ihrer biblischen Theologie auch ein großes Werk der Zerstörung war. Zerstörung von Volksfrömmigkeit, Spiritualität, kirchlicher Anbindung der Zünfte und Gilden, Zerstörung von Orten der Anbetung und Innigkeit, Zerstörung von Ritualen und gottesdienstlichen Anlässen. Zerstörung des Zugangs aller 5 Sinne zum Glauben. Wo sind die Farben geblieben, der Weihrauch, das Gebimmel, das Ballett der Ministranten, die Seitenaltäre der Zünfte, die Prozessionen, das unisono solidarisch atmende Seufzen der Trauernden beim Rosenkranzgebet? Wo ist die tröstende Mutter Gottes geblieben? Wir müssen uns das alles in Drübeck Pauli und anderswo wieder sanft und beharrlich ersingen, erarbeiten, erbeten und erschweigen. Die Kirchen wurden zu kalten Hörsälen zT bis heute, in denen die Herren Pfarrer im Professorenornat Talar die Gemeinde durchs Wort mehr erstickten als aufbauten .Diese Entwicklung zur autoritären und überschlauen Alleinvertretung und Alleinveranstaltung des Pfarrers (seltener der Pfarrerin) macht bis heute die lutherische Formel vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen zur Leerformel. Ich bin ungerecht. Ich weiß, dass es auch echte tiefe Frömmigkeit und Leidensbereitschaft im Einsatz für den evangelischen Glauben gegeben hat. Auch die weit verbreitete Leidenschaft für die Bildung ist ein großes Plus der Reformationsgeschichte. In dieser Tradition sehe ich auch Abt Jerusalem (1709-1789), den Gründer des Collegium Carolinum. Doch zu viele wirtschaftliche Profitinteressen der Mächtigen waren im Spiel, wenn Klöster und geistliche Güter eingezogen wurden. Da wurde manch eigenes Süppchen gekocht.
Und die Bekenntnisschriften: Waren sie wirklich Ausdruck des von unten gewachsenen reformatorischen Er- und Bekenntnisprozesses der Gemeinden oder nicht doch viel mehr aufgezwungene, ja aufoktroyierte Bekenntnisse und Machtinstrumente derer, die das Sagen hatten? „Cuius regio eius religio“ Das Bekenntnis wurde zum Gesetz. Das hatte mit der „Freiheit eines Christenmenschen“ von 1521 bald nichts mehr zu tun.Das Unterschreiben der Bekenntnisschriften war und ist vielfach eine peinliche Nötigung bis heute. Hat nicht jeder evangelische Christ kraft seines Gewissens letztlich sein ganz eigenes Bekenntnis? In der Diaspora und im Leiden der Verfolgung z.B. in Schlesien konnte sich selbstbestimmter, von eigener Überzeugung geprägter evangelischer Glaube besser entwickeln als in den evangelischen Stammgebieten, wo er zur Herrschaft gelangt war.
Und da ist es für unsere Landeskirche ein großer Segen, dass die Flüchtlinge nach 1945 unsere verkrustete Kirchenlandschaft tüchtig aufgemischt haben. In der Oekumene und im Lernen voneinander liegt die Zukunft.
So, da ich noch längst nicht alles in diesem dicken und bereichernden Buch gelesen habe, knöpfe ich mir als nächstes den Abschnitt über Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) vor. Schließlich liegt er ganz in der Nähe meiner Wohnung begraben. Sein Bild (S 259) hat mich schon freundlich angelächelt. Klug war es von ihm, dass er sich nicht mit Braunschweiger Theologen, sondern mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze angelegt hat. So konnte er bleiben bis zum viel zu frühen Tod. Die Aufklärung ist überhaupt ein Lichtpunkt der Braunschweiger Kirchengeschichte und milderte merklich die Enge der Orthodoxie. Diese Aufklärung ist sicher auch noch ein später Erfolg der reformatorischen Bildungsleidenschaft. Leider hat sie aber die Gemeindefrömmigkeit wenig befruchtet.
Zum Abschluss möchte ich noch allen Verfassern dieses dicken Buches meinen gehörigen Respekt zollen. Ich weiß, welche Mühen und Arbeitsstunden hinter den Recherchen in den Archiven stecken. Auch dies noch ein später Ausfluss reformatorischer Bildungsleidenschaft. Wer dieses Buch liest, muss nicht selbst in staubigen Archiven wühlen.

Leseempfehlung:
Friedrich Weber, Birgit Hoffmann, Hans-Jürgen Engelking u.a.
Von der Taufe der Sachsen zur Kirche in Niedersachsen
Die Geschichte der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig
ISBN 978-3-941737-25-9




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