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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 131 - Oktober/November 2010


Ein Gang durch die Braunschweigische Kirchengeschichte
und wer unser Buch lesen soll

Vortrag, gehalten am 24. Juni 2010 im Dom St. Blasii in Braunschweig
aus Anlass der Präsentation des Buches
„Von der Taufe der Sachsen zur Kirche in Niedersachsen“
von Reinhart Staats
(Download als pdf hier)

Verehrter Herr Landesbischof, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitchristen!

Es war eine ausgezeichnete Idee von Bischof Friedrich Weber, die heute zur Präsentation des rein äußerlich schon schön anzuschauenden Buches unter dem Titel „Von der Taufe der Sachsen zur Kirche in Niedersachsen“ führte. Siebzehn Autoren, Frauen und Männer, haben es geschafft, die Meisten schon im Pensionsalter; einige mussten ihre Aufgabe neben ihrem kirchlichen Dienst schaffen. Freundlich und stets hilfsbereit wurden wir von der Archivleitung unter Birgit Hoffmann mit Hans-Jürgen Engelking im Wolfenbütteler Landeskirchenamt unterstützt. Wir alle fühlen uns aber mit unserer evangelischen und lutherischen Landeskirche in Braunschweig verbunden, was uns bei unserer Arbeit durchaus inspirieren konnte.

Der Aufbau des Werkes ist so, dass sich etwa die Hälfte der braunschweigischen Kirchengeschichte in chronologischer Ordnung widmet. Es folgt ein zweiter Teil über „unsere Kirche in der Gesellschaft“ mit einzelnen Themen wie Kirchenleitung, Predigtgeschichte, Lehrer – Kantoren- und Küstergeschichte, Frauen und vielem anderen Wichtigem, natürlich auch Kunstgeschichte, Missionsgeschichte und Ökumene. Das Buch schließt mit Karten, Tabellen und ausführlichen Registern. Gewiss gibt es bei solcher Mischung aus diachroner und synchroner Darstellung, noch dazu von mehreren Autoren mit verschiedenen Zugehensweisen, wie das so ist, wenn Theologen, Sozialhistoriker, Kunsthistoriker, Bauhistoriker und Juristen zur Feder greifen, eine gewisse Multiperspektivität des Ganzen. Doch nur scheinbar gibt es Wiederholungen. Denn man möge die einen interessierenden Dinge nur im Vergleich lesen, dann weitet sich der Horizont und man kommt zu einem eigenen Begreifen. Man muss das Buch also nicht von vorn bis hinten durchlesen. Man kann auch mit Hilfe der Überschriften in die Lektüre einsteigen oder von hinten bei den Registern anfangen, um erst einmal einen Einstieg in das Ganze zu erhalten. Vollkommenheit konnte allerdings nicht beansprucht werden. Ja, „Vollkommenheit ist kein wissenschaftlicher Grundsatz“, so habe ich es einmal bei meinem Göttinger Doktorvater gelernt. Auch dieses unser Werk ist, mit dem Apostel gesagt, nur Stückwerk. Vollkommen ist Gott allein. Daran sei im Zeitalter von Google mit seinem scheinbaren Perfektionismus ausdrücklich erinnert.

In der Einführung weist Bischof Weber zu Recht darauf hin, dass die Zeit des so genannten „Historismus“ vorbei sei, so dass sich mit der Erschließung von Fakten und Daten eine Weiterarbeit erübrige. Das sah man im deutschen neunzehnten Jahrhundert mit seinen allerdings unüberholten Leistungen bei der Entdeckung und Archivierung von Quellen doch etwas anders. Dazu eine Anekdote: Johannes Beste, so berichtete mit einmal ein Freund aus alter Braunschweiger Pastorenfamilie, hatte nach Fertigstellung seiner „Geschichte der Braunschweigischen Landeskirche“ im Jahr 1889 noch einige Urkunden zu Hause behalten. Auf die Bitte des Archivs, diese Blätter doch baldigst zurückzugeben, soll Beste geantwortet haben, das sei nun nicht mehr nötig, weil er die Akten endgültig bearbeitet habe. Dennoch muss ich betonen, dass Johannes Bestes damaliges Werk in seiner Treue zu den Quellen und in seiner literarisch gewinnenden Erzählweise auch nach unserer Veröffentlichung nie vergessen werden sollte. Ein gewisser Klageton, der sein Werk durchzieht, kann man freilich auch aus unserem Buch heraushören: Die braunschweigische Kirchengeschichte wurde seit dem achtzehnten Jahrhundert, nämlich seit dem Zeitalter der Aufklärung mehr und mehr zu einer Geschichte der Auseinandersetzung mit der Vernunftgläubigkeit und daher auch kirchlichen Entfremdung durch Vorherrschaft des „Rationalismus“. Kirchenaustritts- bewegungen und Feindlichkeit gegenüber der Amtskirche gab es hier schon sehr früh, was in unserem Buch in verschiedenen Kontexten auch zur Sprache kommen musste.

Doch gebildetete Braunschweiger dürfen auch stolz darüber sein, dass die Wissenschaft von der „Kirchengeschichte“ als ein selbständiges Fach in Lehre und Forschung in der europäischen Kulturgeschichte hier im Lande zum ersten Mal in Erscheinung getreten war. Denn schon seit 1650 wurde an der Universität Helmstedt „Kirchengeschichte“ gelehrt. Diese von Herzog Julius 1576 gegründete Landesuniversität war von Anfang an die drittgrößte Reichsuniversität (nach Leipzig und Wittenberg), und bis zu ihrem Ende unter Napoleon (181) blieb diese „Academia Iulia“ der Hort einer aufgeklärten Wissenschaft von der Kirchen- geschichte. Berühmt war Professor Lorenz von Mosheim nicht nur als späterer erster Kanzler der jungen Universität Göttingen (seit 1737), sondern davor schon viele Jahre als Theologe und Kirchenhistoriker in Helmstedt. Mosheim unterschied zwischen „heiliger“ Geschichte und „profaner“ Geschichte, und er begriff die Kirchengeschichtswissenschaft als einen Teil der „weltlichen“ Geschichte, ohne jedoch die innere Geschichte des Christentums, die Frömmigkeitsgeschichte im Rahmen der Kirchengeschichte zu missachten. Mosheim war auch ein evangelischer Prediger für seine Kirche. Auch gehört Mosheim in die für Helmstedts Universität typische Geschichte einer „Irenik“, das heißt, er betonte in der Kirchengeschichte nicht so sehr die moralischen Widersprüche, das Verwerfliche und das Gute, sondern die vermittelnden, versöhnenden Möglichkeiten, die aus der Kirchengeschichte erhoben werden können. Das sollte sogar mit unserem Buch einigermaßen gelungen sein. Was wir als Braunschweiger hiermit vorlegen, ist also, salopp formuliert, ein Heimspiel. Freilich gibt es ein Gebiet in der deutschen Geschichtswissenschaft, wo eine moralische und exklusive Apologetik vorherrscht der Art „ Das war gut“ und „Das war schlecht“. Es ist die deutsche Zeitgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, besonders die Zeit des Nationalsozialismus, in der unsere Landeskirche allein durch die Tatsache, dass hier zwar nur kurz, aber sehr heftig ein deutschchristlicher Nazi-Bischof regierte, auch berüchtigt geworden war. Ich habe aber nichts gefunden, was unser Buch hinsichtlich der deutschen Zeitgeschichte nach 1933, von der eigentlich keiner von uns Autoren ganz absehen konnte, als selbstgerecht und pharisäerhaft erscheinen ließe.

Schließlich hat sich diese „Braunschweigische Kirchengeschichte“ Mühe gegeben, lesbar zu sein. Auch kirchlich Interessierte ohne Vorkenntnisse, Kirchenvorstände etwa von Klein- und Groß Twülpstedt im Norden bis Wieda und Walkenried im Süden, sollten die Kapitel lesen können. Das war unser Ziel. Und schließlich ist das Buch sogar etwas für Lesefaule. Zahlreiche und prächtige Farbbilder dienen aber nicht nur zum Schmuck, sondern sind lehrreiche Bildzitate, welche verlocken, den daneben stehenden Text auch zu lesen. Hier war natürlich die mittelalterliche und noch die lutherische Ästhetik in der Sprache der Bilder und der Liturgie hervorzuheben. Trotz reicher kirchlicher Kunst in Neuzeit und Moderne tritt doch auch die Braunschweigische evangelisch-lutherische Kirche immer noch mit ihrer mittelalterlichen Ästhetik am sichtbarsten in Erscheinung, wie eben auch hier in dieser Stiftskirche St. Blasii und in so vielen romanischen und gotischen Stadt- und Dorfkirchen. Manches wurde in Norddeutschland wie auch in Skandinavien aus dem Mittelalter treu bewahrt, was in der römisch-katholischen Kirche der Neuzeit durch neuere dogmatische Festsetzungen und andere religöse Erfahrungen überdeckt wurde. Süddeutsche Protestanten und Katholiken mag es überraschen, wie hier die mittelalterlichen Kirchenpatrozinien beibehalten sind (meist mit lateinischem Genitiv: Nicht St. Martin-, sondern St. Martini, St.Jacobi, St. Stephani, St. Nicolai und so fort), und wie hier die Pfarrer vor dem Altar stehen und mit der Gemeinde das Gebet hin zum Kreuz Christi sprechen.

Wer soll nun dieses Buch künftig lesen? Sehen wir einmal ab von Ihnen, liebe Anwesende, die Sie der Einladung des Bischofs gefolgt sind. Denn Ihr Interesse ist offensichtlich und Herausgeber und Autoren danken für Ihr Erscheinen. Als künftige Leser stelle ich mir besonders zwölf Gruppen vor. An erster Stelle nenne ich die Gruppe: Wissenschaftlich engagierte und Theologiestudierende im Haupt- und Nebenfach. Endlich kann nun, auch zur Examensvorbereitung, ein Buch zur Hand genommen werden, welches zwölfhundert Jahre Braunschweiger Kirchengeschichte beschreibt. Sogar bei Johannes Beste fehlte das Mittelalter. Und so verdienstvoll die in jüngster Zeit erschienenen starken Bände zur Braunschweigischen Landesgeschichte und zur Braunschweigischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte sind – die eigentliche Kirchen- und Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte konnte dort kein großes Gewicht haben. Einprägsam z. B. ist bei uns die Reformationsgeschichte vorgestellt: Zuerst eine Reformation „von unten“, vom Volk aus, zumal 1528 in den Städten Braunschweig und Goslar. Dann 1542 – 1547 eine gewaltsame und gescheiterte Reformation „von außen“ durch das Schmalkaldische Militärbündnis und endlich die fast friedlich erfolgte Reformation „von oben“ 1568 mit der Einführung der Kirchenordnung von Herzog Julius. Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel wurde so das letzte Fürstentum nördlich Bayerns, welches evangelisch geworden war.

Zweite Gruppe: Bewusste Niedersachsen (ich tippe im Folgenden nur einige Sachen an). Das bekannte Lied „Wir sind die Niedersachsen“ (1926) stammt von einem Braunschweiger Lehrer. Seine erste Strophe wird gern gesungen, aber gegen die anderen Strophen wäre manches einzuwenden, besonders wo es heißt, unter Anspielung auf Karls des Großen Hinrichtung von angeblich 4500 Sachsen bei Verden an der Aller, dass diese gefallen seien „durch des Henkers Hand“. Karl der Große als Kaiser der Schwertmission? Man hat auch lange dieses norddeutsche Ereignis für eine Zwangstaufe der Sachsen durch die Franken gehalten, und bis heute lautet ein anscheinend unausrottbares Vorurteil, dass die Niedersachsen im Unterschied zu den West- und Süddeutschen, niemals wirklich zum Christentum bekehrt worden seien und daher die Unkirchlichkeit der niedersächsischen Bevölkerung bis heute herrühre. Weit gefehlt. Im Zeitalter der Karolingerherrscher waren die Sachsen unter fast denselben Bedingungen Christen geworden wie die Niederländer und die Dänen. Doch dort diffamiert wohl kaum jemand die Anfänge der Kirchengeschichte im eigenen Lande. Die stereotype Formel vom ungebrochenen Heidentum der Sachsen, die von den Nationalsozialisten begierig aufgenommen wurde, ist doch erst im neunzehnten Jahrhundert populär geworden, als sich tatsächlich die Norddeutschen mehr und mehr von ihrer Kirche als Amts- und Staatskirche entfremdeten. Nebenbei ist auch festzuhalten: Niedersachsen in der heutigen geographischen Umschreibung ist ein sehr später Begriff. Vor der Herrschaft der Welfen reichte das alte Sachsen fast vom heutigen Ruhrgebiet (Essen!) bis zur Elbe und zur Ostsee und gar nicht „von der Weser bis zur Elbe“.

Dritte Gruppe: Braunschweig-Patrioten. Unsere Landeskirche ist die letzte wirklich große und an Mitgliedern stärkste Institution, die an das alte Land und Herzogtum Braunschweig erinnert, welches bis 1918 bestand und dessen politische Autonomie 1946 von der englischen Besatzungsmacht abgeschafft wurde. Die Geschichte dieser Landeskirche war aber von Anfang an mit der Landesherrschaft verbunden. Nach dem Sturz Heinrichs des Löwen wanderte der Name „Sachsen“ weiter ins östlichere Deutschland. Es war der Stauferkaiser Friedrich II., der im Jahr 1235 mit einer Goldbulle „Otto das Kind“, einen Enkel Heinrichs des Löwen, zum Herzog über ein neues „Herzogtum Braunschweig“ erhob. Seit der Reformation wurde dann der Landesherr mit dem Titel eines höchsten Bischofs Summus Episcopus geehrt. Einen erste, nur „geistlichen“, theologisch gebildeten Landesbischof konnte es daher erst nach 1919 mit dem Ende des Staatskirchentums in Deutschland geben; es war Alexander Bernewitz. Der geographische Raum der Landeskirche entsprach also bis 1919 stets der des Herzhogtums. Und so kam es, dass man, nach 1989, wie ich hörte, in der alten, durch die Zonengrenze vom Westen abgeschnittenen Propstei Blankenburg, auf einmal wieder die alte Hymne sang: „Lust´gen Braunschweiger, das sind wir“. Vielleicht auch in Calvörde? Bemerkenswerte Weise aber nicht im alten Braunschweigischen Thedinghausen vor den Toren Bremens. Verständlicherweise auch nicht in Goslar. Diese berühmte alte Reichsstadt war ja erst 1942 im Tausch mit der ehemaligen Propstei Holzminden zu unserer Landeskirche gekommen. Das war eine Folge von Hermann Görings Salzgitter-Politik.

Vierte Gruppe: Politiker und politisch Interessierte. Das Christentum ist keine unpolitische Religion. Der Glaube an den „einen allmächtigen Gott“ in Jesus Christus bezeugt das. Die Lehre von den Zwei Gewalten als den beiden Regierweisen Gottes durch geistliche und durch politische Gewalt ist ein die gesamte Kirchengeschichte durchziehendes Thema, von der Frühen Kirche über die Reformation bis zur Barmer Theologischen Erklärung (1934. Art. 5). Aber zur Zeit Heinrichs des Löwen wirkte hierzulande noch nach eine christlich-germanische Gefolgschaftsidee, der zufolge der christliche Herrscher auch über die kirchlichen Stellenbesetzungen verfügte. Das uns immer wieder anrührende Imerward-Kreuz hier im Dom, welches auch den Deckel unseres Buches ziert, hat beispielhaft eine sowohl geistliche als auch politische Aussage. Auffallend ist nämlich die volle Gewandung des gekreuzigten Christus, der hier, als imperial Triumphierender, bekleidet mit der Tunica im kaiserlichen Purpur, zum Weltgericht zurückkehren wird (nach Haussherr). Eine Paulusstelle mag den Künstler inspiriert haben: „Jesus Christus …, ob er wohl in göttlicher Gestalt war…wurde er wie ein anderer Mensch….gehorsam bis zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,5-11). Im mittelalterlichen Investiturstreit kommt es dann erstmals zu einem Auseinandergehen von Kirche und Staat. Symbolisch-geographisch gesagt: Der eine Pol in diesem Gewalten-Streit war die päpstliche Gewalt, wie sie bei der Buße Heinrichs IV. in Canossa zum Ausdruck kam. Der andere Pol war die kaiserliche Gewalt, die besonders in Goslar zu Hause war. – Das positive Verhältnis von Staat und Kirche blieb ein Hauptthema in der europäischen Geschichte und auch in der Geschichte unserer Landeskirche. Es würde erst dann zu einem Nebenthema werden, wenn sich die evangelischen Landeskirchen zu Freikirchen veränderten. Aber ob das gut wäre?

Fünfte Gruppe: Wirtschafts- und Sozialhistoriker. Auch dieses Thema durchzieht unser ganzes Buch, obwohl es auch eigene Kapitel über die „Finanzen“ der Landeskirche und über ihre „Liebestätigkeit“ gibt. Man muss sich vorstellen: Vor hundert Jahren konnte es in einem Standardwerk für „Das evangelische Kirchenrecht im Herzogtum Braunschweig“ noch heißen: „Die Landeskirche als Gesamtheit besitzt tatsächlich kein Vermögen“ (Schmidt-Phiseldeck). Damals war ja auch unsere Kirche immer noch eine Staatskirche, und ihre Pfarrer waren Staatsbeamte. Die Aufhebung des Staatskirchentums mit der Weimarer Reichsverfassung gab den Kirchen aber auch eine Selbständigkeit und Freiheit zu eigener Vermögensbildung bei weiterhin bestehender subsidiärer Unterstützung durch den Staat, zumal in der Diakonie - bis heute. Das mag Manche, dem Geist des Heiligen Franziskus verbundene Protestanten stören. Andere mögen sich, so wie das bei den Benediktinern und Zisterziensern war, hinsichtlich der kirchlichen Vermögensverwaltung an das Gleihchnis Jesu von den „Anvertrauten Pfunden“ (Mt 25,13 – 40) erinnert fühlen.

Sechste Gruppe: Die Förderer von Bildung. Hier war das spannungsvolle Verhältnis zwischen Lehrern und Pfarrern ein zentrales Thema. Die Lehrer, meist mit sehr geringer Entlohnung, waren bis 1919 oft auch Küster und Kantoren in einer Person. Ihr distanziertes, ja auch abschätziges Verhältnis zum Pfarramt kam aus ihrer dienstrechtlichen Abhängigkeit und Unterstellung unter den Ortspfarrer und wohl auch aus Erfahrungen ihrer Ausbildung in kirchlichen Lehrerseminaren in Wolfenbüttel, Helmstedt und Braunschweig und überhaupt aus der Geistlichen Schulaufsicht. Es verwundert nicht, dass führende marxistische Politiker im Lande Braunschweig in den unruhigen Jahren seit 1919 aus dem Lehrerstand stammten und dafür sorgten, dass der Landeskirche staatliche Zuschüsse verweigert wurden. Es verwundert auch nicht, dass die Nazis zunächst die Kirche materiell stark förderten und daraufhin Kirchenleitung und Pfarrer in Erinnerung an eine rote sozialistische Vergangenheit des Landes auf eine angeblich „positiv christliche“ Propaganda der NSDAP hereingefallen sind. Dennoch: „Bildung“ und „Ausbildung“ unserer Jugend bleibt das große Thema nicht nur unserer Gesellschaft, sondern auch unserer Kirche. - Zur „Bildung“ gehört natürlich kirchlicherseits unbedingt auch eine musikalische Bildung und damit die Geschichte der Kirchenmusik. Welch kultureller Reichtum spricht allein aus der Tatsache von „fünf Gesangbuchgenerationen“ in der Geschichte unserer Landeskirche!

Siebte Gruppe: Die Freunde der Literatur. Auch dazu begegnet man in dieser Geschichte maßgeblichen Namen. Ich müsste ausführlich werden, erinnere hier nur kurz an drei Namen: Hermann Bote, der Ratsschreiber der Stadt Braunschweig, war um 1500 auch Autor der Eulenspiegelgeschichten, die, wie wir nun wissen, eine in Komik versteckte Warnung vor den Sieben Todsünden sind, von denen die erste die von Hermann Bote bzw. von Eulenspiegel karikierte Sünde des Hochmutes bei Theologieprofessoren gewesen sein soll. - Lessings, des Pastorensohns „Nathan“ mit der Ringparabel wurde in Wolfenbüttel gedichtet und zwar unter herzoglichem Schutz. Und: Joachim Heinrich Campe, ausgebildet an der evangelischen Klosterschule zu Amelungsborn, studierte in Helmstedt Theologie und wurde der Erzieher der Gebrüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, schließlich Gründer eines Schulbuch- verlages, dessen Haus hier neben dem Dom steht. Campes auch christlich und aufgeklärt fromm gemeinter Bildungsroman, die Bearbeitung des „Robinson Crusoe“ zu einem Jugend- buch wurde ein früher Bestseller der Weltliteratur.

Achte Gruppe: Die Ökumeniker. Das Bemühen um Vergleich und Ausgleich zwischen evangelischer und katholischer Kirche war vor dem eigentlichen Zeitalter der Aufklärung wohl nirgends in Deutschland so spürbar wie hier. Da ist wieder Helmstedts Universität zu nennen, wo Georg Calixt die Möglichkeiten eines konfessionellen Friedens erforschte und dabei die Beschlüsse der Alten Kirche der ersten Jahrhunderte als Modell vorstellte. Sein „Consensus Antiquitatis“ ist in der Ökumene unserer Zeit bedeutsam geworden. – Die Beziehung zu den Freikirchen und zu den Reformierten ist leider etwas kurz geraten. Dafür musste das Verhältnis zum Judentum in unserer Geschichte genauer verfolgt werden. Es ist eine Geschichte des Versagens und doch auch eine Geschichte weniger bekannter Taten barmherziger Frauen und Männer.

Neunte Gruppe: Die Förderer der christlichen Mission. Es fällt auf, dass in Neuzeit und Moderne die Vorstellung von einer „inneren Mission“ im Sinne der „Rettenden Liebe“ Johann Hinrich Wicherns dominiert. Stellvertretend sei „Neuerkerode“ genannt. Es ist aber zu hoffen, dass „äußere“ und „innere“ Mission wieder mehr zusammenkommen, wie in der älteren Kirchengeschichte, wo es die Unterscheidung zwischen „jungen“ und „alten“ Kirchen ja auch gar nicht gab. Menschen, die zum Christentum gefunden hatten, wurden sogleich völlig gleichrangige Brüder und Schwestern. Wo eine innere Mission war, konnte es dann auch zugleich eine äußere Mission geben.

Zehnte Gruppe: Die Frauen. Natürlich gehören Frauen ebenso in das Evangelium wie Männer. Doch ist bemerkenswert, dass in der historischen Arbeit unserer Generation die Frauen thematisch in den Vordergrund rücken. Und so sind auch aus der Braunschweigischen Kirchengeschichte beachtliche Erkenntnisse mitzuteilen: Von Anfang an die Kanonissenstifte (Gandersheim!) seit dem neunten Jahrhundert bis zu evangelischen Stiften auch heute: Kloster Marienberg in Helmstedt, das Marienstift in Braunschweig, die Frauengemeinschaft „Zur Ehre Gottes“ in Wolfenbüttel, ausführlich auch die Geschichte der Frauenhilfe im Lande. – Womöglich war sogar der „Heliand“, das wunderbare, große und älteste Evangelienepos in altsächsischer Sprache, in einem sächsischen Damenstift im neunten Jahrhundert gedichtet worden….Doch die Geschichte der Pastorin beginnt in unserer Landeskirche sehr spät. Erste Pfarrvikarinnen, wie sie zunächst hießen, waren 1946 Doris Gassmann und Bertha Schulze. Diese war vorher die letzte „Seniorin“ im Seminar Adolf von Harnacks und viele Jahre Sekretärin und wissenschaftliche Hilfskraft Dietrich Bonhoeffers gewesen.

Elfte Gruppe: Die kirchlichen Amtsträger. Diese Gruppe musste ja sehr ausführlich in unserem Buch vorkommen: Die Pfarrer und Mitarbeiter in kirchlichen Werken und Anstalten. Das bischöfliche Amt hatten de facto seit der Reformationszeit die Generalsuperintendenten wahrgenommen. Es war ein Ministerium, nach innen in die Landeskirche orientiert. Der Generalsuperintendent sollte vor allem Pfarrer der Pfarrer (Pastor pastorum) sein, wogegen das Bischofsamt nach 1919 stark nach außen wirken musste. Die evangelischen Bischöfe vertreten seitdem ihre Landeskirche auch in der VELKD, in der EKD und in der Ökumene, und sie müssen in einer unkirchlichen Öffentlichkeit und in der Welt der Medien wohl manchen Vergleich mit dem römisch-katholischen Bischofsamt aushalten.

Zwölfte Gruppe: Kirchenvorstände in den Gemeinden und Synodale. Ich nenne sie zuletzt als gewünschte Leser unseres Buches. Die Ortsgemeinde mit ihren treuen Mitgliedern bleibt in der Geschichte des Christentums seit apostolischer Zeit bis in die Gegenwart der eine geistliche Brennpunkt, der andere sind die weite Welt und die Christen in dieser Welt. Neben dem Taufgebot Jesu „Gehet hin in alle Welt….“ kann ja nie der andere Satz Jesu vergessen werden: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“, und das kann hauptsächlich vor Ort, wie ja auch im Gottesdienst, verwirklicht werden. Das gilt bei uns vom ältesten und kleinen christlichen Ort „Brunshausen“ bis zur großen Stadt „Braunschweig“. Sowohl die Kirchengemeinde am Ort als auch das Hinausgehen in eine unchristliche Welt (sowohl stabilitas loci als auch peregrinatio) gehören zu einem christlichen Leben. Das lehrt auch unsere Braunschweigische Kirchengeschichte.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitchristen!

Auch unsere Landeskirchengeschichte ist kein „Mischmasch von Irrtum und Gewalt“, was Goethe von der gesamten Kirchengeschichte zu behaupten wagte. Denn die Wissenschaft von der Kirchengeschichte verfügt im Unterschied zu manch anderen historischen Disziplinen über große Langzeiterfahrung. Den Kirchenhistorikern sind Kriterien zu Ordnung und Bewertung ihres Gegenstandes in der Bibel und in der Jesusgeschichte vorgegeben. Sie wollen möglichst wahrheitsgemäß „erinnern“ und damit schließlich auch „erinnern“ an die versöhnende, heilsame Kraft des christlichen Glaubens in dieser unserer Welt. So gesehen dürfen wir vielleicht sogar mit Dietrich Bonhoeffer sagen: „Die Kirchengeschichte ist das verborgene Zentrum der Weltgeschichte“ (Sanctorum Communio, Kap.5). – Ich schließe mit einer Liedstrophe, die in allen evangelischen Gemeinden Deutschlands und in der Welt bekannt war und wohl noch ist. Sie stammt von einem lutherischen Generalsuperintendenten in Wolfenbüttel, Nikolaus Selnecker, und sie ist ein Gebet: „Lass mich Dein sein und bleiben, Du treuer Gott und Herr. Von Dir lass nichts mich treiben, halt mich bei Deiner Lehr. Herr, lass mich nur nicht wanken, gib mir Beständigkeit. Dafür will ich Dir danken, in alle Ewigkeit“. Amen.




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