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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 131 - Oktober/November 2010


NICHT IN MEINEM NAMEN!

ein offener Brief von Christian Arndt
AN DIE KIRCHENLEITUNG UND SYNODE, AN CHRISTINNEN UND CHRISTEN DER NORDELBISCHEN KIRCHE
(Download als pdf hier)

KvU veröffentlicht den Anfang eines längeren Offenen Briefes von Pastor Arndt, Hamburg, den wir unterstützen. Auch nicht in unserm Namen!

Sehr geehrte Damen und Herren,
„der Einsatz militärischer Gewalt (ist) in Afghanistan weiterhin ethisch legitim“!
So äußerte sich der höchste theologische Repräsentant der Nordelbischen Kirche (NEK), Bischof Gerhard Ulrich am 3. Mai 2010 auf dem „Forum Nordelbien“. In Afghanistan wurde bzw. wird mit der militärischer Gewalt der US- und NATO-Besatzer das Völkerrecht gebrochen, Kriegsverbrechen und schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen.
Herr Bischof Ulrich sanktioniert als „Christ und Bürger“ diese Gewalt, nur so kann ich seinen Beitrag verstehen. Die afghanischen Opfer werden kommen überhaupt nicht vor - auch nicht das Bundeswehrmassaker an Zivilisten am 4. September 2009 bei Kundus.
Trotz aller, von den öffentlich-rechtlichen und den Konzernmedien fast kritiklos verbreiteten Kriegspropaganda spricht eine Zweidrittel-Mehrheit der Bevölkerung sich weiterhin gegen diesen Krieg aus.

Vielleicht ist im kollektiven Gedächtnis noch präsent, was im Urteil des Nürnberger Kriegsverbrecherprozess festgehalten wurde:
"Die Entfesselung eines Angriffskriegs ist das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft."

Dieses Urteil war im Gründungsprozess der UNO die wichtigste Grundlage für die UN-Charta, die jeglichen Angriffskrieg ausnahmslos verbietet. Bundesregierung, die den Krieg befürwortenden Parteien im Bundestag, die Bundeswehrführung und die Militärseelsorge beklagen diese Ablehnung seit Jahren und fordern vom Volk mehr Unterstützung, Rückhalt und Verständnis für den Krieg. Vor diesem Hintergrund kann ich den Beitrag von Bischof Ulrich auch als unmissverständliches Signal verstehen: Seht her, die kirchliche „Heimatfront“ steht! Das Kirchenvolk, dessen Repräsentant er ist, wird erst gar nicht gefragt. Diskutiert wird nicht! Schon gar nicht öffentlich! In einem demokratischen Meinungsbildungsprozess könnten sich Stimmen einmischen, die den Frieden zwischen Kirche und Staat stören könnten. Mit Sicherheit!

Den Pazifisten (was ist ein prinzipieller P.?) und den Kriegsdienstverweigerern unter ihnen liest Herr Bischof Ulrich kräftig die Leviten – ich verstehe mich nicht als Pazifisten, sondern als Antimilitaristen:
„Was aus meiner Sicht theologisch und ethisch nicht geht, ist die Haltung eines ‚prinzipiellen’ Pazifismus, der prinzipienfest, aber wirklichkeitsfern jegliche Anwendung militärischer Gewalt ablehnt!“

Ihm liegt nicht die Arroganz der herrschenden Eliten gegenüber dem kriegsunwilligen Volk, sondern das „ethische Dilemma“ der Kriegswilligen im Bundestag, am Herzen:
„Ich sehe sehr wohl das ethische Dilemma der Abgeordneten im Deutschen Bundestag z. B., die über Auslandseinsätze der Bundeswehr zu entscheiden haben. Das ethische Dilemma heißt zugespitzt: Wollen wir uns raushalten – und damit ggf. schwerste Menschenrechtsverletzungen oder gar Völkermord hinnehmen? Oder wollen wir reingehen – und also ‚uns die Hände schmutzig machen’ – um Schlimmeres zu verhindern?“
Herr Bischof Ulrich erklärt damit Völkerrechtsbruch, Kriegsverbrechen, Beihilfe zur Folter und andere Menschenrechtsverbrechen als „Hände-Schmutzig-Machen, um Schlimmeres zu verhindern“.

Sehr geehrte Damen und Herren,
da ich weder Proteste, noch öffentlichen Widerspruch oder öffentliche Distanzierung aus der NEK wahrnehmen konnte und kann, muss ich davon ausgehen, dass Herr Bischof Ulrich ausspricht, was in den kirchenleitenden Gremien der NEK offensichtlich Konsens ist.

Ich will zunächst eine unter vielen Stimmen aus Afghanistan zu Wort kommen lassen. Vielleicht lässt sie erahnen, was dort das „Hände-Schmutzig-Machen, um Schlimmeres zu verhindern“ für die Menschen dort konkret bedeutet.

Malalai Yoja – ein Stimme aus Afghanistan
Es ist die Stimme von Malalai Yoja (oder auch Dschoja). Sie war Abgeordnete im afghanischen Parlament. Dort hatte sie die Warlords der Nordallianz und Drogenbarone, die das afghanische Parlament beherrschen und in der Regierung Karsai saßen und sitzen, wegen ihrer Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen unter NATO-Schutz offen angegriffen.
Diese Kriegsverbrecher – wie Dostum - und Drogenbarone waren von den Besatzern 2001 (Konferenz von Petersberg) in die Regierung gesetzt worden. Zu ihrem Schutz wurde das ISAF-Mandat der UN erteilt.
Malalai Joya erhielt mehrfach Morddrohungen und lebt seitdem versteckt und wechselt täglich ihren Aufenthaltsort. Sie hielt am 10. April 2007, wenige Tage nachdem die NEKKirchenleitung für die Tornado-Besatzungen in Afghanistan beten ließ, in der Universität Los Angeles eine Rede, die auf der Internetseite von ZNet veröffentlich ist:

„[…] Die US-Regierung hat das ultrareaktionäre und brutale Regime der Taliban beseitigt. Statt sich aber auf das afghanische Volk zu stützen, hat sie uns vom Regen in die Traufe gestürzt und ihre Freunde unter den schmutzigsten und berüchtigtsten Kriminellen der „Nordallianz“ gesucht, in der sich geschworene Feinde von Demokratie und Menschenrechten versammelt haben, und die nicht weniger übelgesinnt, böse und grausam sind wie die Taliban.“

Einschub - ein Beispiel zum Verständnis:
Im Herbst 2001 wurden in Nordafghanistan über 2000 Taliban-Kämpfer, die sich der US-Armee ergeben hatten, an die Nordallianz unter Führung von General Dostum übergeben. Diese sperrte die Gefangenen in luftdichte Eisencontainer, die der prallen Sonne der Wüste ausgesetzt waren, die fast alle grausam erstickten oder verdursteten. Die Mehrzahl der Container wurde dann mit Maschinengewehrfeuer durchsiebt bis Blut heraussickerte, um den Eingepferchten "Luft zu verschaffen". Einige der Gefangenen wurden "menschlicher" behandelt und sofort erschossen. Das geschah alles mit stillschweigendem Einverständnis der anwesenden US-Truppen. General Dostum stand damals auf der CIA-Gehaltsliste und wurde als Verteidigungsminister von den Besatzern eingesetzt die wichtigste Stütze von Karsai. (Quelle: Dokumentarfilm "Massaker in Masar" des irischen Regisseurs Jamie Doran. Die ARD und andere Medien berichteten darüber.)

„Die westlichen Medien sprechen von Demokratie und der Befreiung Afghanistans, stattdessen sind die USA und ihre Verbündeten damit beschäftigt, unser verwundetes Land in ein Land der Kriegsherren, der Verbrecher und der Drogenbarone zu verwandeln.

Jetzt sind die Führer der Nordallianz die entscheidenden Machtinhaber, und unser Volk ist eine Geisel in den Händen dieser rücksichtslosen Killerbande. Viele von ihnen sind verantwortlich für das Abschlachten von zehntausenden unschuldiger Menschen in den vergangenen zwei Jahrzehnten, und doch sind sie an der Macht und nehmen wichtige Regierungsämter ein.
[…] Siebenhundert Kinder und 50 bis 70 Frauen sterben täglich auf Grund mangelnder Gesundheitsversorgung. Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist immer noch sehr hoch - 1.600 bis 1.900 von 100.000 Frauen sterben bei der Entbindung. Die Lebenserwartung liegt unter 45 Jahren.
Die Zahl der Selbstmorde unter afghanischen Frauen war nie so hoch wie heute. Vor einem Monat hat sich die achtzehnjährige Samija mit einem Strick erhängt, weil sie an einen sechzig Jahre alten Mann verkauft werden sollte. Eine andere Frau namens Bibi Gul hat sich in einem Stall eingeschlossen und verbrannt. Ihre Familie fand von ihr nur noch ihre Knochen.
Die Studie der Regierungsbehörde Afghanistan Independent Human Rights Commission weist eine deutliche Zunahme von berichteten Fällen auf: Danach gab es in der Provinz Farah vor zwei Jahren 15 Fälle von Selbstverbrennungen von Frauen. Diese Zahl ist allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2006 auf 36 hochgeschossen. In der Provinz Kandahar wurden vor zwei Jahren 74 Fälle verzeichnet, dagegen 77 Fälle in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres. Die wirklichen Zahlen sind noch viel höher.
Nach einer Studie von UNIFEM betrachten 65 Prozent der 50.000 Witwen in Kabul den Suizid als einzige Möglichkeit, ihrem Elend zu entkommen. UNIFEM schätzt, dass mindestens eine von drei afghanischen Frauen geschlagen, zu Sex gezwungen oder auf andere Weise misshandelt wurde.
Gruppenvergewaltigungen junger Mädchen und Frauen durch Warlords der Nordallianz finden nach wie vor gerade in den Nordprovinzen Afghanistans statt. Es ist immer wieder zu Massenprotesten dagegen gekommen, aber niemand schert sich um den Schmerz und die Tränen der Menschen. Nur wenige Vergewaltigungsfälle landen in den Medien.
Ein schockierender Fall war der der elfjährigen Sanobar, der einzigen Tochter einer unglücklichen Witwe, die entführt, vergewaltigt und dann von einem Warlord gegen einen Hund getauscht wurde. In einem Land, wo Würde keinen Preis hat, kann der bösartige Vergewaltiger eines armen Mädchens immer noch den Landrat spielen.

[…] Ein Bericht von Human Rights Watch über Kriegsverbrecher in Afghanistan und das Hängen Saddam Husseins hat vielen afghanischen Verbrechern Angst gemacht, und jetzt versuchen sie, jede Strafverfolgung zu unterbinden. Vergangenen Monat haben die Parlamentskriegsherren im Namen der „nationalen Versöhnung“ ein Gesetz verabschiedet, wonach gegen niemand wegen Kriegsverbrechen in den vergangenen 25 Jahren Klage erhoben und niemand strafrechtlich verfolgt werden darf.
[…] Für die afghanischen Menschen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten so gelitten haben, ist dieses Gesetz ein Schlag ins Gesicht. Nach einer Untersuchung der unabhängigen afghanischen Human Rights Commission sind über 80 Prozent der Afghanen für eine Strafverfolgung derjenigen, die für die vergangenen Verbrechen und Grausamkeiten verantwortlich sind, und sie halten das für die einzige Möglichkeit, wenn Afghanistan eine bessere Zukunft erleben soll.

[…] Liebe Freunde, die USA interessieren das Leiden und die verheerenden Lebensbedingungen unseres Volks nicht; es liegt in den strategischen und wirtschaftlichen Interessen der USA, unser Volk so lange wie möglich all der Gefahr auszusetzen. Deshalb betrachtet unser Volk die USA nicht als „Befreier“ unseres Landes. Die USA sind in Afghanistan im Namen von Menschenrecht und Demokratie einmarschiert, heute jedoch sind wir von diesen Werten genauso weit entfernt wie vor fünf Jahren.
Stattdessen hat sich die Zahl der seit 2001 im „Krieg gegen den Terror“ getöteten unschuldigen Zivilisten verfünffacht im Vergleich zu der Zahl derjenigen, die in der Tragödie vom 11. September umkamen.“
2009 erschien Buch 'A Woman Among Warlords: The Extraordinary Story of an Afghan Woman to Raise Her Voice' von Malalai Joya und Derrick O'Keefe (Scribner-Verlag, 2009). Auf Deutsch erschienen: 'Ich erhebe meine Stimme' Malalai Joya (2009).

Am 6.12.09 war von ihr dazu ebenfalls auf der Internetseite von ZNet zu lesen:
„Vielleicht schockt es Sie, das zu hören - denn die Wahrheit über Afghanistan wird versteckt hinter Rauchschwaben aus Worten und Bildern, die die USA und deren Nato-Verbündete sorgfaltig geschaffen haben, häufig unkommentiert von den westlichen Medien. Vielleicht haben Sie sich einreden lassen, dass - gleich nach dem Sturz der Taliban -, die Gerechtigkeit einzog in Afghanistan. Afghanische Frauen wie ich, die wählen gehen und sich selbst wählen lassen, müssen als Beweis herhalten, dass das amerikanische Militär Afghanistan die Demokratie und den Frauen die Frauenrechte gebracht hat.
Doch das alles ist Lüge. Man streut der Welt Sand in die Augen.
[...] Das Traurige an Afghanistan ist, dass die Ermordung einer Frau hier wie das Töten eines Vogels ist. Die USA haben versucht, ihre Besatzung rhetorisch zu rechtfertigen und sprachen von der "Befreiung" der afghanischen Frauen. Dabei sind wir in unserem Land noch immer eingesperrt wie in einem Käfig. Wir haben keinen Zugang zum Recht und werden nach wie vor von frauenfeindlichen Kriminellen regiert. Die Fundamentalisten predigen nach wie vor, die "Frau gehört in ihr Haus oder ins Grab". An vielen Orten ist es für eine Frau immer noch gefährlich, sich unverschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen oder ohne einen männlichen Verwandten auf die Straße zu gehen. Jeden Tag kommt es zu Vergewaltigungen, die nicht geahndet werden.
Unser Leben in Afghanistan ist kurz und oft durch Gewalt, Verlust und Angst geprägt. Das gilt sowohl für Frauen als auch für Männer. Die Lebenserwartung liegt unter 45 Jahren. Im Westen würde man von der 'mittleren Lebensphase' sprechen.
Wir leben in verzweifelter Armut. Es ist unglaublich: 70% der afghanischen Bevölkerung leben von weniger als 2 Dollar am Tag. Laut Schätzungen sind etwas mehr als die Hälfte aller afghanischen Männer und 80 Prozent der Frauen Analphabeten. In den vergangenen zwanzig Jahren haben sich Hunderte Frauen selbst verbrannt - sie haben sich buchstäblich verbrannt, bis sie tot waren. Auf diese Weise wollten sie ihrem Elend entrinnen.

[…] Afghanistan wurde lange als 'tödliches Spielfeld' im 'Todesspiel zwischen den Supermächten' benutzt – angefangen vom Britischen Imperium über das Sowjetreich bis hin zu Amerika und seinen Verbündeten in heutiger Zeit, die versuchen Afghanistan zu beherrschen, indem sie es spalten. Schurken, Kriegsherren und Fundamentalisten gaben sie Geld und Macht. Diese Schurken haben die Menschen in schreckliches Elend getrieben. Doch wir wollen nicht missbraucht und nicht falsch gegenüber der Welt vertreten werden. Wir brauchen Sicherheit und eine helfende Hand (von Menschen) rund um die Welt - aber nicht diesen 'Krieg gegen den Terror' unter Führung der USA.

Dieser Krieg ist im Grunde ein Krieg gegen das afghanische Volk. Das afghanische Volk besteht nicht aus Terroristen. Wir sind Terroropfer. Heute ist der Boden Afghanistan gespickt mit Landminen, Kugeln und Bomben. Was wir wirklich brauchen, ist eine Invasion von Kliniken, Hospitälern und Schulen für Jungen und Mädchen.“

Wie will Herr Bischof Ulrich dieser mutigen Frau gegenüber die militärische Gewalt in Afghanistan als aus christlicher Sicht weiterhin ethisch legitimiert, „um Schlimmeres zu verhindern“, erklären?




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