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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 131 - Oktober/November 2010


Die Heilung des Gelähmten

Predigt über Markus 2,1-12
von Herbert Erchinger
(Download als pdf hier)

Liebe Gemeinde
Die Masse ist uns wichtig, in der Werbung, im Sport, in den Medien. Möglichst viele viele Menschen müssen dabei sein. Die Quote muss stimmen. Bei “Wetten dass“ von Thomas Gottschalk: 9,5 Millionen Zuschauer sind das Minimum. Auch beim Kirchentag ist es so: 100000 Besucher. Weniger geht gar nicht. Die Masse ist uns wichtig. Aber sie blockiert uns auch.
Jesus liebte eigentlich die Einsamkeit. Immer wieder zog er sich zurück in die Wüste, in die Meditation, in das Gebet. Dort kam er zu sich selbst und konnte sich vorbereiten auf seine Aufgaben.
Aber dann gibt es schon wieder die Masse der Menschen, die Jesus bedrängen, als er sein Haus in Kapernaum besucht. Dieser Wanderprediger löst Neugierde aus. Was wird er wieder für Sensationen anstellen? Dämonen austreiben, Schweine ins Meer treiben, den Frauenversteher geben? Ja, alle wollen wieder dabeisein und dazugehören, wie in der Volkskirche, wie beim Kirchentag.
Es entsteht eine gefährliche Massensituation wie im Stadion, wie bei der Love Parade. Die Eingänge sind verstopft, die Masse der Gaffer blockiert sich gegenseitig.

Nein, liebe Gemeinde. Jesus hat mit der Masse nichts zu tun. Hütet euch vor den Massen. Das riecht immer ein bisschen nach Reichsparteitag.
Wer Jesus wirklich braucht, wem er wirklich helfen soll, wer ein ernsthaftes Problem hat, der muss der Masse entrinnen. Besonders wenn er gelähmt ist.(Und sind wir nicht alle irgendwie gelähmt?)
Er braucht direkten Kontakt zu Jesus.

Aber wie findet der Mensch die Nähe zu Jesus? Soll er sich auch in die Masse drängeln auf die verstopften Eingänge zu?
Wer damals wie heute die Nähe zu Jesus sucht, der braucht unkonventionelle Zugänge. Und er braucht Helfer.
Das geht manchmal ohne Tabubruch nicht ab. Schon als Kind hat mich das beeindruckt, wie die Helfer einfach das Dach abgedeckt haben, um zu Jesus zu kommen. Ein Dachschaden entsteht, sozusagen das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Das möchte ich mir mal bei St Katharinen vorstellen, o weh, wo uns doch Gebäude und Denkmalpflege so wichtig sind.
Wie stark haben wir unsere spirituellen Bedürfnisse und Sehnsüchte zugedeckt mit immer neuen Folien und Dachpfannen des Selbstschutzes! Nur ja nicht das Licht des Himmels eindringen lassen! Es fällt uns schwer, ganz neue Wege zu gehen im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung. Mit meterdicken Dämmplatten haben wir uns zugedeckt.
Ich wünsche uns allen ganz neue unkonventionelle Zugänge zu Jesus. „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab auf die Erde“ (Jes 64,1,)

Und jetzt, als das Dach abgedeckt ist und der Gelähmte ihm zu Füßen liegt, kommt Jesus, der Arzt in den Blick. Er erkennt sofort, dass die Lähmung des Gelähmten seelische Ursachen hat.
Und das betrifft uns alle.
Wir alle sind gelähmt durch unsere Normen, die uns einschnüren, durch die Zwänge unserer Konventionen, durch Leistungs- und Erfolgsdruck, durch Habgier und Zwänge, die wir uns selbst auferlegen. Gelähmt durch schlechte Gewohnheiten. Durch Festlegungen, wie alles sein muss, so und nicht anders!
Das alles zwingt uns auf die Matte. Das alles macht uns bewegungsunfähig. Wir sind gekettet an unsere Vergangenheit.
Welche Lähmungen hast du? Wo knirscht es bei dir in den Knochen? Was fesselt dich und macht dich bewegungsunfähig?

Jesus erkennt die seelischen Ursachen unserer Lähmung und spricht das erlösende Wort: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Vergebung ist unbedingte Annahme eines Menschen. Der Gelähmte wusste sich akzeptiert. Das schließt ihn auf. Die wunderbare Erfahrung: Ich bin Jesus wichtig. Wichtiger als die Massen, die ihn umstehen und umlagern. Jesus wendet sich mir zu. Diese Erfahrung heilt. Die Zuwendung ist der erste Schritt zur Heilung. Jeder von uns kann im Kleinen diese Rolle Jesu einnehmen. Wussten Sie, dass die Nähe und Zuwendung eines Menschen eine heilende Wirkung hat? Wenn das schon bei uns so ist, wieviel mehr erst bei Jesus!
„Dir sind deine Sünden vergeben.“ Vergebung, dieses alte Wort dürfen wir nicht nur moralisch verstehen. Es geht um unbewältigte psychische Belastungen, die nicht verarbeitet sind. Es geht um die Überwindung dessen, was uns an die Vergangenheit kettet. Denn die Vergangenheit belastet uns oft sehr und macht uns unfähig für die Zukunft und bewegungsunfähig.
Die Empörung der Schriftgelehrten ist übrigens verständlich. Wir sollten uns vor jedem antisemitischen Affekt hüten. Nur Gott kann tatsächlich Sünden vergeben. Und genau das ist der Knackpunkt: Jesus vertritt hier Gott, er schafft die unmittelbare Nähe Gottes. Gott ist Mensch geworden. Jesus holt ihn vom Himmel auf die Erde. Dazu passt auch das abgedeckte Dach.

Die Empörung der Schriftgelehrten ist ein tragischer Konflikt, der uns bis zur Kreuzigung Jesu begleiten wird. Hier steht Judentum gegen Judentum. Gesetz gegen Gnade. Aber wir brauchen beides. Gnade im Sinne von Zuwendung, Verzeihung, Vergebung und Versöhnung, wie Jesus sie hier zuspricht und das Gesetz der Aktivierung, das nun folgt. Steh auf, nimm dein Bett und geh. Steh endlich auf!.
Das ist übrigens ganz modern: Fördern und fordern.

Denn jetzt ist Schluss mit dem sanft segnenden und streichelnden Thorvaldson- Jesus. Steh auf und geh! Viel zu lange haben wir eine ausschließlich weiche Seelsorge vertreten voller Verständnis und Anteilnahme. Ach du Armer! Das ist ja nicht falsch: Aber immer wichtiger ist mir in der Seelsorge geworden, Menschen zu aktivieren, sie aus ihrer Apathie und Opferrolle herauszuholen. Steh auf und geh! Steh endlich auf und geh! Du kannst es. Bleib nicht bei deinem Selbstmitleid stecken. Verhake dich nicht in deiner Opferrolle. Im Sinne von Fördern und Fordern glaube ich sogar: Der konnte schon laufen. Er wusste es nur nicht. Er traute sich nichts mehr zu. Er hatte es sich auf seiner Matratze bequem gemacht.

Ja, Jesus aktiviert uns. Er befähigt uns, unser gelähmtes Potential wieder in Gang zu setzen.
Steh auf und geh!
Jetzt wird deutlich: Die Heilung des Gelähmten ist eine Auferstehungsgeschichte, wie bei Lazarus, dem Jüngling zu Nain und des Jairus Töchterlein. Steh auf aus deiner Matratzengruft, komm heraus aus der Lähmung deiner Vergangenheit hinein in das Neue Leben des Evangeliums.
Es ist eine Exodus- und eine Ostergeschichte.
Amen




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