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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 132 - Dezember 2010


Seminar der Flüchtlingshilfe Refugium

von Herbert Erchinger
(Download als pdf hier)

Nach längerer Zeit hat Uwe Salzmann unter dem Thema: „Du sollst den Fremdling nicht bedrängen“ im Rahmen der EEB wieder ein Bildungsurlaubsseminar zu Flüchtlingsfragen durchgeführt. Da wir beide im Vorstand des Refugiums tätig sind, bat er mich, als Referent mitzufahren. So fuhren wir Mitte November mit 12 Teilnehmern für eine Woche nach Borkum und beschäftigten uns intensiv mit aktuellen Fragen der Flüchtlingsarbeit.
Das Refugium und der Verein Flüchtlingshilfe e.V. sind vor über 20 Jahren aus der Arbeit der Pauligemeinde BS hervorgegangen, wo ich damals Pfarrer war. Seinerzeit kamen viele Tamilen aus Sri Lanka in das Aufnahmelager in der ehem. Husarenkaserne und besuchten sonntags den Gottesdienst in der Paulikirche. Es bildete sich schnell eine Initiative, die sich um diese Menschen kümmerte.
Inzwischen beschäftigt das Refugium mehrere Hauptamtliche in seiner Beratungsstelle am Steinweg und wird durch EU-Projektmittel, das Land Niedersachsen, die Stadt Braunschweig und besonders auch durch die Landeskirche unterstützt. Im Zusammenwirken mit Pax Christi und dem Kloster Albertus Magnus wurde ein Rechtshilfefonds aufgebaut, der uns in schwierigen Asylfällen ermöglicht, einen Anwalt einzuschalten.
In Borkum waren wir sehr gut in der Bildungsstätte „Blinkfüer“ der reformierten Kirche untergebracht. Uwe Salzmann berichtete sehr eindrücklich von seiner Arbeit als Streetworker der Propstei Wolfenbüttel, wo er u.a. geduldeten Migrantenfamilien hilft, der drohenden Abschiebung zu entgehen und unter schwersten Bedingungen sich eine eigene Erwerbstätigkeit aufzubauen und so ein Bleiberecht zu erhalten.
Meine Aufgabe war es, Migration und Flucht historisch einzuordnen. Die Menschheitsgeschichte ist Migrationsgeschichte. So schlug ich einen weiten Bogen von der Wiege der Menschheit im Hochland von Äthiopien vor 4 Millionen Jahren, von wo aus der homo sapiens im aufrechten Gang sich die ganze bewohnbare Welt erwanderte. Immer auf der Flucht vor Feinden, Gefahren und Klimaveränderungen, immer aufbrechend zu neuen Ufern. Besonders schmerzhaft dann die steinzeitliche Revolution vor ca 28 000 Jahren, wo der Mensch in einem äußerst schmerzhaften Prozess gezwungen war, vom Jäger und Sammler zum Ackerbauer und Viehzüchter zu werden. Diesen Schock beschreibt die Bibel in der Austreibung aus dem Paradies im Quellgebiet von Euphrat und Tigris. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dich von deinem Acker ernähren, Dornen und Disteln soll er dir tragen. Die Geschichte von Kain und Abel reflektiert den mörderischen Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern, zwischen Sesshaften und Nomaden. Flucht und Vertreibung waren die Folge. Die 12 Stämme Israels waren ein Sammelbecken von Flüchtlingen und entlaufenen Sklaven. So entwickelte Israel eine besondere Solidarität gegenüber Fremdlingen mit vielen Schutzvorschriften vom Ährensammeln bis zum Asyl am Heiligtum. Auch das Römische Reich löste viele Fluchtbewegungen aus, zB die Diaspora der Juden. Der Zusammenbruch des Römischen Reiches im 5.Jh verstärkte die Völkerwanderung, die in ganz Europa die Völkerschaften durcheinander wirbelte.
Dass Emigranten nicht nur ein Problem darstellen, sondern für das Aufnahmeland auch oft ein Segen sind, beschrieb ich am Beispiel der Hugenotten, deren Aufnahme in Brandenburg eine große Bereichung und einen Entwicklungsschub für das durch den 30 jährigen Krieg verwüstete und entvölkerte Land bedeuteten.
Exemplarisch für die massenhafte Auswanderung von Deutschen nach Amerika schilderte ich die Geschichte von Jürn Jacob Sween, dem Amerikafahrer, die mich schon als Kind beeindruckte.
Den Abschluss meines Referats bildete das Schreckenszenario der Vertreibung und des Genozids an den Armeniern 1915-17 und des unfassbaren Völkermords an den Juden.

Einen ganzen Tag lang führte uns dann der hauptamtliche Flüchtlingsberater des Refugiums, Ketema Woldegeorgis in den Dschungel der Asylgesetzgebung und der aktuellen Bleiberechts- Duldungs- und Abschiebebestimmungen ein. Für viele Asylbewerber ist es ganz schwer möglich, einen tragfähigen „Aufenthaltstitel“ zu erreichen. Sie können aber auch aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden. So hängen sie oft jahrelang in einer Duldung mit der ständigen Angst vor Abschiebung. Erst nach einem Jahr dürfen sie arbeiten. Immerhin müssen die Kinder zur Schule gehen. Auch finanziell geht es ihnen sehr schlecht, da sie oft nur Gutscheine erhalten und der Sozialhilfesatz für Flüchtlinge um 30% gekürzt ist. So ist es kein Wunder, dass es viele illegal Lebende gibt, die untertauchen und schwarz arbeiten.
Ein Tatort-Krimi und eine Anne Will- Sendung haben sich kürzlich dankenswerterweise direkt vor unserem Seminar mit diesem Thema der „Unsichtbaren“ oder „Illegalen“ beschäftigt.
Die Vermutung steht im Raum, dass viele der geduldeten Ausreisepflichtigen bewusst in die abgetauchte Illegalität gedrängt werden. Dann tauchen sie in der Statistik nicht mehr auf und kosten auch kein Geld.
Die dreiste Behauptung des Innenministers Schünemann, der Rechtsweg stehe den Geduldeten doch offen, übersieht, dass der Rechtsweg über eine anwaltliche Vertretung Geld kostet, das die Betroffenen nicht haben. Gäbe es unser Refugium noch nicht, so müsste es schnellstens erfunden werden.
Wir hoffen, dass unsere Beratungsstelle noch lange für Not leidende und ratlose Flüchtlinge da sein kann. Dazu erhoffen wir uns die weitere Solidarität der Landeskirche.
Besonders empörend fanden wir alle die neue zynische Kumpanei zwischen Berlusconi und Ghaddafi. Gegen einen Milliardenbetrag und technische Hilfe durch Polizeitechnik schottet der lybische Diktator Europa von den Flüchtlingsströmen aus der Sahara ab. Sie kommen nicht mehr nach Lampedusa, ertrinken auch nicht mehr im Mittelmeer, aber dafür werden sie brutal in die Wüste zurückgeschickt oder in Lybien versklavt und landen in völliger Rechtlosigkeit. Beschämenderweise profitieren wir alle davon.
Der Kopf rauchte uns, als wir Freitag mittag die Rückreise mit Schiff und Bahn antraten. Schön war es, dass ich meine Gitarre zum Einsatz bringen konnte und die SeminarteilnehmerInnen Lust hatten zum Singen. Bei diesem Thema erschloss sich der Sinn manchen alten Liedes ganz neu: „How many years must some people exist, before they allowed to be free? The answer my friend is blowing in the wind“....




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