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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 132 - Dezember 2010


Im Wind der Veränderung – der Pfarrberuf im Wandel

Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Impulsreferats
zur Klausurtagung des Pröpstekonvents am 24.04.2007
sowie zur Klausurtagung des Pfarrkonvents der Propstei Wolfenbüttel (8.-10.10.2007)

von Hans-Christian Knüppel
(Download des Textes mit Fußnoten als pdf hier)

Wind der Veränderung – „Wind of change“! Ich muss in diesen Jahren viel an die Wendezeit Ende der 1980er Jahre denken, für die das Lied der Scorpions inzwischen zur Hymne geworden ist:
Während die einen längst spürten, dass da ein ganzes System im Zerfall begriffen war, klammerten sich die andern bis zum bitteren Ende an die Hoffnung auf dessen Fortbestand. Sie nährten sich von Durchhalteparolen und beschworen bei jeder Gelegenheit die angeblich guten alten Zeiten.
Wie wir alle wissen, wurden sie auf diese Weise zu ersten Adressaten und bleibenden Exempeln für Gorbatschows denkwürdige Sentenz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Ich erinnere mich noch intensiv an die makabere Mischung aus Erleichterung, Abfälligkeit und Mitleid, die ich empfand, als jene lernunfähigen, greisen Männer ihren Abschied nehmen mussten.

Werden wir es besser machen? Die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkennen und den Wandel aktiv gestalten, bevor uns die Geschichte überholt? Der Vergleich mag vielen überzogen scheinen. Damals 1989/90, das war schließlich eine Zeitenwende!
Tatsächlich meine ich, dass die Zeichen der Zeit unserer Kirche nichts Geringeres bedeuten – als eben eine Zeitenwende!

Das entscheidende Deutewort verdanke ich dem Wiener Pastoraltheologen Paul M. Zulehner. Er erzählt davon, wie der greise Kardinal König ihn wenige Wochen vor seinem Tod zum Gespräch lud mit der Frage: „Glauben Sie nicht, dass die Konstantinische Ära der Kirche vor unseren Augen zu Ende geht?“
Zulehner macht sich diese Deutung zu eigen und führt sogleich aus, was dies im Kern bedeutet:

„Konstantinische Ära: Das war die Zeit der engen Verflechtung von Kirche, Staat und Gesellschaft. In solchen Zeiten gehörten die Menschen ohne ihr Zutun zur Kirche. Noch mehr: Die Menschen hatten, zumal in den nachreformatorischen Staaten, zu deren Grundverfassung das Christentum gehörte, gar keine andere Wahl, als dazuzugehören – oder sie mussten damit rechnen, ins Jenseits oder ins Ausland ausgewiesen zu werden. Zu einer Konfession zu gehören, war unentrinnbares Schicksal.
Heute hingegen sind Kirche, Staat und Gesellschaft in unterschiedlichen Varianten weithin voneinander getrennt. Jetzt herrscht verbriefte Religionsfreiheit. Ob Menschen in solchen “modernen“, „freiheitlich-pluralistischen“ Gesellschaften Mitglied einer Kirche sind oder nicht, kann der Einzelne für sich selbst entscheiden. Immer mehr machen von dieser Wahlfreiheit Gebrauch.“

Konstantinische Ära – erst dieses Deutewort scheint mir den Blick für die historische Größenordnung der aktuellen Entwicklungen zu eröffnen. Statt irgendwelche Zahlen hinter dem Komma zu interpretie-ren und uns an regionalen Unterschieden aufzuhalten, geht es zunächst einmal darum, die geschichtliche Dynamik zu verstehen, die sich da „vor unseren Augen“ vollzieht. Dass sie die einen früher, die anderen später ereilen wird, ist vergleichsweise unwichtig gegenüber der Erkenntnis, dass sie uns alle betrifft:
Die Kirche im alten Europa verwandelt sich unaufhörlich aus einer solchen, in die man hineingeboren wird, in eine solche, der man durch freie Wahl angehört – oder eben auch nicht. Die mir zugänglichen Prognosen besagen, dass wir als Christen – bezogen auf ganz Deutschland – bereits 2025 in eine Minderheitensituation geraten werden. Spätestens dann wird von Volkskirche allenfalls noch in regionalen Bezügen die Rede sein können.

Demnach sind wir nun also selber Repräsentanten eines Systems, das in jener Form, wie wir – und Generationen zuvor – es von Kindheit an kannten, seinem Ende entgegengeht.

Im Unterschied zu jener politischen Wendezeit der späten 1980er Jahre fegt diese Veränderung allerdings nicht wie ein Sturm über uns hinweg, sondern schreitet – eher der Gemächlichkeit eines Gletschers vergleichbar – recht langsam voran. Das macht sie für uns als Hauptbetroffene relativ komfortabel – die meisten Anwesenden brauchen um ihre Positionen und Pensionen kaum zu fürchten.
Andererseits nötigt sie zu einem kräftezehrenden Spagat, der auf Dauer kaum zu leisten ist: Auf der einen Seite das Alte erhalten – es ist ja in vielem durchaus noch vital! Also in die Breite wirken, Schwellen senken, Quote machen, Masse binden!
Auf der anderen Seite Professionalität und Qualitätsbewusstsein entwickeln, sich selbst und die eigene Gemeinde fit machen für eine Zukunft, die – auch innerkirchlich – mehr durch Konkurrenz als durch Solidarität bestimmt sein dürfte.

Eine doppelte Wirklichkeit, die viele doppelte Botschaften hervorbringt! Dass die innerkirchliche Reformdiskussion im Verhältnis zu aller Aufgeregtheit und Geschäftigkeit vergleichsweise bescheidene Ergebnisse produziert, liegt womöglich daran, dass sich die Kräfte gegenseitig aufheben. Ich jedenfalls bekomme je länger je mehr den Eindruck, dass da mindestens so viel zu- wie aufgedeckt wird. Mal wird getrieben, mal gebremst, mal dramatisiert, dann wieder beruhigt. M. E. ein deutliches Indiz dafür, wie sehr in diesen Zeiten die Angst das Verhalten bestimmt – in jenen extremen Reaktionsformen, wie sie uns auch aus anderen Situationen vertraut sind: Flucht oder Angriff – Ignoranz, Leugnung, Regression oder blindwütiger Aktionismus.

Diese widersprüchlichen Impulse bekommen Pfarrerinnen und Pfarrer ganz besonders zu spüren, da sie im Schnittpunkt der gegenläufigen Erwartungslinien stehen: Eben noch zu innovativem Aufbruch und quasi-unternehmerischer Initiative gedrängt, sehen sie sich im nächsten Moment auf das Festhalten an Tradition und Gewohnheit eingeschworen oder durch konsistoriales Gebaren von Kirchenleitung ausgebremst. Und obendrein treten die konkurrierenden Zielvorstellungen nicht selten mit dem fundamentalistischen Anspruch der reinen Lehre oder des besseren Wissens auf.

Wo also geht es hin mit dem Pfarrberuf? Ich werde im folgenden weniger versuchen, Antworten und Konzepte vorzulegen, als vielmehr einige besonders markante Alternativen herauszuarbeiten, die sich in der gegenwärtigen Diskussion herauskristallisiert haben. Dabei interessieren mich insbesondere diejenigen Aspekte, die im öffentlichen Diskurs eher verschwiegen werden.

Beginnen möchte ich mit einer für unruhige Zeiten wie diese erstaunlichen und, wie ich finde, heilsam beruhigenden pastoraltheologischen Entdeckung:

1. Veränderungsresistenzen:
Der Pfarrberuf als Profession

Nachdem das Berufsbild des Pfarrers / der Pfarrerin jahrzehntelang Objekt einer ausgeprägten Experimentierfreude war, wächst neuerdings das Bewusstsein für die Grenzen seiner Veränderbarkeit. Dies hat vor allem mit der Wiederentdeckung seiner archaischen, tief in der Menschheits-,Religions- und Kirchengeschichte verwurzelten Anteile und deren Beharrungsvermögen zu tun.
Ich denke hier beispielsweise an Manfred Josuttis´ Rückwendung zur Kategorie des Heiligen und den daraus gewonnenen „energetischen“ Ansatz seiner Pastoraltheologie oder an Fulbert Steffensky´s Plädoyer für Überlieferung und liturgische Form als notwendige Begrenzung pastoraler Subjektivität („dass wir nicht alles Brot selber backen müssen, von dem wir leben“ ). Und ich denke schließlich an die sozialwissenschaftlich orientierte und in jüngerer Zeit besonders vieldiskutierte Untersuchung von Isolde Karle, auf die ich im folgenden näher eingehen möchte:

Karle rehabilitiert in ihrer 2001 erschienenen Habilitationsschrift „Der Pfarrberuf als Profession“ ein erstaunlich konventionelles Pfarrer/innen/bild. Dafür macht sie die Auswirkungen einer Tradition geltend, die bis ins späte Mittelalter zurückreicht. Damals sprach man denjenigen akademischen Berufen, die für die zentralen Lebensfragen zuständig sind, also Medizinern (Krankheit), Juristen (Schuld) und Theologen (Seelenheil), den Sonderstatus der Profession zu, weil sich hier jeweils über die Person (in ihrem „wahrnehmbaren sozialen Erscheinungsbild“ ) die Vertrauens-
würdigkeit eines ganzen Funktions- und Wertesystems vermittelt. Insofern nehmen die Professionen in ihrem jeweiligen System eine Schlüsselfunktion wahr.
Wenn der Pfarrberuf als Profession bezeichnet wird, heißt dies also u.a.:

  • Der Pfarrer / die Pfarrerin stellt „für die große Mehrheit der Kirchenmitglieder ... die Schlüssel-figur für ihren Kontakt zur Kirche“ dar.
  • Vertrauenswürdigkeit ist für den Beruf des Pfarrers / der Pfarrerin unabdingbare Voraussetzung.
  • PfarrerInnen haben deshalb „mit ihrem wahrnehmbaren sozialen Erscheinungsbild die Glaub-würdigeit ihrer beruflichen Tätigkeit zu unterstützen“ .
  • Dies erfordert ein hohes Maß an Rollensicherheit im öffentlichen Auftreten, auch und gerade in zufälligen Begegnungssituationen (z.B. beim Einkaufen), und die Fähigkeit, die eigene Person zwar nicht zu verleugnen, aber reflektiert zurückzustellen. Dadurch wird beispielsweise die Mögichkeit, „Freundschaften in der Gemeinde zu pflegen“ , empfindlich eingeschränkt.
  • Das Erfordernis eines situativ angemessenen Verhaltens setzt ein hohes Maß an Eigenverant-wortung in der Berufsausübung voraus. Das geltende Pfarrerdienstrecht räumt diesen Frei-raum ausdrücklich ein.
  • Die Eigenverantwortung erstreckt sich auch auf das persönliche Zeitmanagement und die Balance zwischen Beruflichem und Privatem.

Karles Theorie des Pfarrberufs überzeugt mich insofern, als sie mir Erfahrungen einzuordnen hilft, die meinen eigenen Berufsweg ganz wesentlich geprägt haben, ohne dass Studium und Ausbildung mich je darauf vorbereitet hätten. Insofern möchte ich sie Ihrer und unserer Diskussion als Orientierungsrahmen voranstellen, der mir andererseits weit genug scheint, um Ergänzung und Kritik aufzunehmen.

2. Zwischen Autonomie und Überforderung

Dass Karle gute Gründe hat, mit der Autonomie ausgerechnet denjenigen Aspekt des Pfarrberufs manifest herauszustellen, der in der gegenwärtigen Praxis die größten Probleme bereitet, dürfte deutlich geworden sein. Wenn es darum geht, Auswege und Lösungen aufzuzeigen, lässt uns der sozialwissenschaftliche Ansatz allerdings schmerzlich allein.

Im folgenden werde ich insbesondere immer wieder die Frage anstoßen, ob und inwieweit das Amt nicht doch darauf angewiesen ist, dass die Institution einen überindividuellen Rahmen zur Verfügung stellt, der Erwartungen präzisiert, begrenzt und dadurch entlastet. Tragende Kraft kann das Amt jedenfalls niemals aus sich selbst heraus beziehen, sondern immer nur aus dem sozialen Ganzen, das es autorisiert. Indem wir nach den Möglichkeiten der Institution fragen, kommen wir allerdings nicht umhin, uns auch mit ihren Grenzen zu befassen. Und dies bedeutet für uns als Protestanten schließlich: uns mit unserem traditionell eher gespaltenen Verhältnis zur institutionell verfassten Kirche auseinander zu setzen. Dem auszuweichen hieße, die Probleme des Amtes in bequemer, aber unangemessener Einseitigkeit zu personalisieren, also den Pfarrer/innen anzulasten.
Uns allen nur zu gut erinnerlich ist dann natürlich auch noch die andere große Erosionsbewegung, die seit Ende der 1960er Jahre über alles Amtliche und Institutionelle hinweggegangen ist und „unter den Talaren den Muff von tausend Jahren“ hinwegfegen wollte.

Die – objektiv „falsche“ – Einstellung vieler Pfarrer/innen, mit ihrer Person das Amt tragen zu müssen, sollte insoweit zumindest niemanden überraschen. Sie hat eben jene Entwicklungen verstärkt, die uns heute über das Pfarrerbild sorgenvoll diskutieren lassen:

Nach der Seite der Stärke eine Tendenz zur Selbstdarstellung bis hin zu Auswüchsen von Pfarr-herrlichkeit und Einzelkämpfermentalität:
  • Profilierung der eigenen Person auf Kosten von Mitarbeitern, Kollegen, der Kirche als ganzer
  • Zielloser Aktionismus
  • Ausrichtung an quantitativen Maßstäben (Quote machen!) zu Lasten von Inhalt und Qualität
Nach der Seite der Schwäche tiefe Verlassenheitsgefühle und Überforderungszustände bis hin zur Zerrüttung privater Lebensverhältnisse, Sucht und Burnout – oder einfach nur resignativer Rückzug auf den Dienst nach Vorschrift und die vermeintlich sichere Bastion beruflicher Privilegien.

3. Zwischen Person und Institution

Während die Institution also mehr denn je auf die Stärke der Persönlichkeit setzt, sind unter dem Einfluss betriebswirtschaftlicher Führungsmodelle gleichzeitig diejenigen Stimmen lauter gewor-den, die eine straffere Führung und Reglementierung des Pfarrerstandes fordern. Geht beides aber überhaupt zusammen – und wenn ja, wie?

Isolde Karle weist die Einflussnahme betriebswirtschaftlicher Führungsmodelle ebenso klar wie differenziert zurück, mit Gründen, denen ich mich nur anschließen kann: „Die professionelle Arbeit der Pfarrerin ist ... nur begrenzt zu technisieren und zu normieren. Die professionellen Methoden eines Wirtschaftsunternehmens sind deshalb auch nicht unbesehen auf den pastoralen Berufsalltag zu übertragen. ... Sie unterstellen zu viel lineare Kausalität in gemeindlichen Zusammenhängen und pastoral-interaktiven Begegnungssituationen, in denen es um Fragen des Glaubens und Lebens und nicht um den Verkauf eines bestimmten Produktes geht. ... Gerade die Brisanz und Riskanz der interaktiven Kommunikation des Evangeliums setzt aber die Autonomie des Pfarrers und der Pfarrerin voraus.“

Mentalitätsveränderungen in Kirche werden beim theologischen Nachwuchs erfahrungsgemäß besonders frühzeitig spürbar. Teilen Sie meinen Eindruck, dass dort seit einigen Jahren der Trend zunimmt, sich einen betont pastoralen Habitus zuzulegen? Dann wäre zu fragen, ob damit eher Rollensicherheit demonstriert oder Rollenunsicherheit kompensiert werden soll.

Dass unsere Kultur generell dazu neigt, Identität über Image und Design zu definieren, ist bekannt. Von daher liegt es durchaus nahe, dass ein technisches, an der „linearen Kausalität“ von Machbarkeiten orientiertes Denken versucht sein könnte, pastorale Identität sozusagen von außen nach innen zu konstruieren. Was aber sollte dabei herauskommen als Gehabe und Attitüden – geliehene Identität ohne Überzeugungskraft? Und vor allem: Was sollte daran protestantisch sein? Natürlich wirkt auch das Außen in gewissem Maße auf das Innen zurück. Dies ändert jedoch daran grundsätzlich nichts, dass Identität ursprünglich von innen nach außen wächst. Wenn ich recht sehe, macht dies doch gerade den Kern protestantischen Freiheitsverständnisses aus. Es geht um Haltungen und innere Einstellungen, die sich bestimmter Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten bedienen, nicht umgekehrt.
Pastorale Bildung wird deshalb tunlichst den persönlichen Entwicklungsprozess in den Mittelpunkt stellen und Lernen als Integrationsvorgang und nicht etwa als Antrainieren gestalten. Denn unsere Kirche braucht Pastoren und keine Pastorendarsteller.

Sie braucht allerdings auch keine Selbstdarsteller! Dass der Pastor ein Amt innehat, in das er berufen wurde, dass er also Repräsentant eines größeren Ganzen und als solcher in dieses vielfältig eingebunden ist, soll hier selbstverständlich nicht in Abrede gestellt werden. Fraglich indessen scheint mir, inwieweit der Protestantismus noch im Stande ist, seine Einheit als etwas Lebendiges, Wirksames und im positiven Sinne Bindendes darzustellen. Autoritäre Führungskonzepte, garniert mit abgegriffenen theologischen Schlagworten und den einschlägigen Bibelzitaten, reichen da sicher nicht aus. Diese heutzutage immer wieder gern angeratene Mixtur steht in so eklatantem Widerspruch zu protestantischem Ursprung und Wesen, dass sie allenfalls die Größe des Problems, nicht aber dessen Lösung indiziert.
Und noch einen zweiten weiterführenden Gedanken möchte ich anfügen, den Begriff der „Darstellung“ selbst betreffend. Die institutionelle Seite des Pfarrberufs zeigt, dass dieser in einem höheren – nämlich reflektierten, an Person und Gewissen gebundenen – Sinne durchaus mit Darstellung und Inszenierung, mit Spiel und Schein, Konvention und Kalkül zu tun hat. Das Nachdenken darüber hat I. Karle mit der Einschränkung auf das „wahrnehmbare soziale Verhalten“ unüberhörbar angestoßen: Der Rolle zu geben, was ihr gebührt, also der Form zu genügen, ohne sich damit immer auch als Person zu geben, wäre demnach als Teil pastoraler Professionalität wiederzuentdecken und zu würdigen. Damit wird das Denken an eben jenem Punkt von neuem angestoßen, an dem es während der letzten Jahrzehnte weitgehend zum Erliegen gekommen war: Bei der Annahme, die eigene Person und sie allein sei das (einzig verbliebene) Medium pastoraler Wirksamkeit und das immer neue und immer tiefere Schöpfen eigener Potenziale deren wichtigste, wenn nicht einzige Kraftquelle. Immerhin hat die Beobachtung, dass immer mehr Pastor/inn/en über der rastlosen Jagd nach der eigenen Kreativität, Virtuosität und Authentizität inzwischen die Luft auszugehen droht („Burnout“), die Nachdenk-lichkeit an diesem Punkt schon erheblich erhöht.
Dieser kritische Impuls trifft nicht zuletzt jene Kultur der Selbstreflexion, die sich in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluss von Seelsorgebewegung und Pastoralpsychologie entwickelt hat. Leider zieht sich M. Klessmann in seiner Reaktion auf die Wiederholung altbekannter Positionen zurück, statt sich auf einen lebendigen Diskurs einzulassen. Die von Karle angesprochenen Professionalitätsaspekte scheinen mir nämlich in einen pastoralpsychologisch fundierten, wenn-gleich erweiterten Begriff „personaler Kompetenz“ sehr wohl integrierbar zu sein.

4. Zwischen Kirche und Gesellschaft

Keine Generation kann sich die Zeit aussuchen, in die hinein sie geboren wird. Unserer – anson-sten vielfach privilegierten – Generation scheint es, wie eingangs bereits dargestellt, aufge-geben, einen signifikanten Bedeutungsverlust der Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft miterleben und verarbeiten zu müssen. Selbstverständlichkeiten brechen weg, die Jahrhunderte lang christliches Bewusstsein und Selbstbewusstsein geprägt haben, und dies löst gerade unter Pfarrer/innen große Verunsicherung aus:
  • Im Stammland der Reformation haben die Protestanten inzwischen den Status der konfessio-nellen Mehrheit verloren.
  • Nach derzeitiger Einschätzung wird der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung etwa 2025 unter 50% sinken.
  • Die demographische Entwicklung wird diesen Trend vermutlich noch begünstigen, da unsere dramatisch überalternde Gesellschaft dringend auf Zuwanderung angewiesen ist, um lebens-fähig zu bleiben.
Im Zuge dieser Entwicklungen geht der Staat gegenüber der Kirche und christlichen „Werten“ spürbar auf Distanz. Die fortschreitende Aushöhlung des Sonn- und Feiertagsschutzes ist m.E. ein drastisches Zeichen für die Verdrängung des Christlichen aus dem öffentlichen Leben und Bewusstsein. Sie trägt dazu bei, dass christliche Lebens- und Weltdeutung weiter an gesellschaftlichem Einfluss verliert und unter einen von den meisten Lebenden nicht gekannten Plausibilisierungsdruck gerät.

Im Blick auf Pfarrer/innen bedeutet dies, dass sie einer gefährlichen Zerreißprobe ausgesetzt sind: Einerseits befinden sie sich in einer Situation des Abschieds und der Trauer, in der es vor allem um das Hergeben lieb gewonnener Sicherheiten und Privilegien und innere Neuorientierung geht. Andererseits sehen sie sich täglich gerufen, den Wandel – wie auch immer – aktiv zu gestalten und das, was heute gern „protestantisches Profil“ genannt wird, in eine neue Zeit hinüberzuführen. Bei der Konfirmation meines zweiten Sohnes konnte ich vor einiger Zeit wieder einmal hautnah miterleben, welchen Balanceakt es bedeutet, auf eine immer stärker entkirchlichte Klientel einzugehen und ihr gleichzeitig einen verbindlichen geistlichen Rahmen gegenüberzustellen. Alle Achtung, wenn dies halbwegs gelingt!

Wenn allerdings der innere Prozess des Loslassens hier und Aneignens dort übersprungen wird, werden sich m.E. die oben beschriebenen Extreme unweigerlich verschärfen: Bekämpfung eigener Ohnmachtsgefühle durch Mehrarbeit – um den Preis möglicherweise ruinöser Folgen. Oder Abstumpfung und Rückzug auf den Dienst nach Vorschrift und überkommene Standesprivilegien.

5. Zwischen Geist und Geld

Dass die aktuellen Veränderungen neben den ideellen auch handfeste materielle Aspekte haben, verleiht ihnen nochmals ganz besondere Brisanz. Zumindest für unsere materiell so sorglos aufgewachsene Nachkriegsgeneration bedeutet es eine epochale Erfahrung, uns ernsthaft darüber Gedanken machen zu müssen, wovon Pfarrer/innen künftig leben und kirchliche Arbeit bezahlt werden soll. Hatten wir uns doch in magisch-infantiler Naivität daran gewöhnt, dass Geld bei Kirche kein Problem ist und immer irgendwie zu bekommen, wenn man nur laut genug schreit und die richtigen Verbindungen hat.
Doch nun gibt Mutter Kirche unumwunden Zeichen, dass sie ihre Kinder nicht mehr in dem gewohnten Umfang versorgen kann, dass diese sich also um ihren Gelderwerb vermehrt selbst kümmern müssen.
In der Folge steht zu erwarten, dass die Emanzipationsbestrebungen von Pfarrer/innen und Gemeinden gegenüber der Gesamtkirche und ihren Leitungsebenen zunehmen werden. Wie also wird sich das Gesamtgefüge von Kirche verändern, wenn Pfarrer/innen und Gemeinden anfangen, selbstständig zu wirtschaften?

Eine andere Frage scheint mir mindestens ebenso wichtig: Wie weit darf der Einfluss betriebswirt-schaftlichen Denkens in der Kirche reichen? Was die pastorale Identität angeht, stehen wir hier sicher vor einer ganz wichtigen Weichenstellung. Angesichts der Vielschichtigkeit des Problems beschränke ich mich an dieser Stelle auf einen kurzen Zwischenruf:

Was mich beunruhigt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Begriffe wie Produkt, Angebot (und Nachfrage), Kerngeschäft, Alleinstellungsmerkmale usw. inzwischen für die Selbstdeutung von Kirche gebraucht werden. Sollten wir tatsächlich auf dem Weg sein, das Evangelium als marktförmige Ware feilzubieten?
Der Pfarrer würde damit zu einer Art Religionshändler oder Religionsverkäufer und, jedenfalls in meiner Vorstellung, vom Versicherungsvertreter, Anlageberater, Manager oder auch Entertainer immer weniger unterscheidbar: seriös und vertrauenerweckend, psychologisch und rhetorisch geschult, professionell erfolgsorientiert, aber als Mensch mit Gewissen und Überzeugungen, mit Leidenschaft und Sehnsucht, ja, sagen wir es ruhig: mit einer Mission, kaum noch erkennbar – und sein Gegenüber vom gewöhnlichen Kunden kaum noch unterscheidbar. Es unterläge unweigerlich der ökonomischen Verzweckung, an ihm Geld verdienen zu wollen, und würde damit gerade um dasjenige gebracht, was ihm als Evangelium zugesprochen wird: Zweck an sich selbst, nämlich um seiner selbst willen geliebt zu sein.
Der Versuch, Kirche im betriebswirtschaftlichen Sinne zu vermarkten, führt also paradoxerweise gerade zur Preisgabe des einen und einzigen, was ihre Existenz begründet. Er bedeutet die konsequente Selbsterübrigung.
Natürlich bin ich mir im klaren, dass damit über die positive Beziehung der Kirche zum Geld (dass sie Geld braucht, um ihre vielfältigen Aktivitäten und die daran mitarbeitenden Menschen zu finanzieren usw.) noch nichts gesagt ist. Darum wenigstens noch eine Andeutung:
Das Stichwort Fundraising eröffnet m.E. interessante Perspektiven, weil es den der Kirche genuinen Aspekt der Freiwilligkeit des Gebens betont und die Unterscheidung zwischen ideellem und materiellem Engagement im Grundsatz aufhebt.

6. Zwischen Haupt- und Ehrenamt

Wie viel soll uns die Ordination in Zukunft wert sein und an welche Voraussetzungen wollen wir sie knüpfen? Ist der Pfarrdienst eine hochprofessionelle Tätigkeit oder kann man auch auf kurzem Wege an seinem Glanz und Status Anteil bekommen?

Das öffentliche Meinungsbild erweckt bei mir an diesem Punkt einen zutiefst zwiespältigen Eindruck: Einerseits konzentrieren sich Fehleranalyse und Qualitätsanstrengungen von Kirche in auffälliger Weise auf den Pfarrberuf. Aus diesem nicht uneingeschränkt schmeichelhaften Umstand kann man immerhin schließen, dass er tatsächlich noch immer als die Schlüsselfunktion von Kirche wahr- und ernstgenommen wird. Darüber herrscht in der pastoraltheologischen Diskussion denn auch weit gehend Einigkeit, nicht selten allerdings mit dem kritischen Unterton, dass die evangelische Kirche bis heute eine „Pfarrerkirche“ geblieben sei.
Um so mehr fällt dann allerdings auf, welche Bedeutung dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen / Getauften neuerdings für die Zukunft der Kirche zugeschrieben wird. Woher dieses plötzliche Zutrauen, wenn doch selbst Protagonisten dieses Gedankens unumwunden einräumen, dass er sich im Protestantismus nie wirklich durchsetzen konnte. Offensichtlich klafft hier im Protestantismus eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die angesichts der anste-henden Zukunftsfragen dringend nach Aufklärung verlangt.

Dem kirchlichen Arbeitsklima wäre für´s erste allerdings schon gedient, wenn die Propagierung des „allgemeinen Priestertums“ von dem Geruch befreit werden könnte, durch betriebswirtschaft-liche Rationalisierungsabsichten motiviert zu sein. Andernfalls wird sie bei Ehrenamtlichen und Pfarrer/inne/n gleichermaßen Verunsicherungen und Kränkungen hervorrufen. Bei den Ehrenamt-lichen, weil sie sich als Billigarbeitskräfte missbraucht fühlen, bei den Pfarrer/inne/n, weil sie sich auf subtile Weise zur Disposition gestellt sehen könnten.

7. Zwischen Geist und Geist

Zum Schluss möchte ich Sie an einer Irritation teilhaben lassen, die mir Anfang des Jahres 2007 widerfuhr: In den „NDR-Glaubenssachen“ lief am 21. Januar 2007 ein Beitrag von Paul Oestreicher, dem langjährigen Leiter des Versöhnungszentrums an der Kathedrale von Coventry, der mir sehr zu denken gab. Oestreicher behauptet, „dass das Grundproblem im deutsch-evangelischen Raum in der starren Tradition liegt, dass der Pfarrberuf letztlich nur eines voraussetzt: eine theologisch-akademische Ausbildung.“ Denn, so Oestreicher weiter: „Wer sein 2. Theologisches Examen bestanden hat und eine einigermaßen anständige Lebensführung im bürgerlichen Sinne nachweisen kann, ist ordinationsfähig und – jedenfalls bis vor kurzem – berechtigt, bis zum Ruhestand ein Pfarramt zu verwalten.“

Aus dieser Diagnose kann man im Blick auf den Ausbildungsgang von Pfarrer/inne/n durchaus unterschiedliche Konsequenzen ziehen:
Man kann Oestreicher folgen und im Sinne des anglikanischen Ordinationsverständnisses den Zugang zur Ordination primär als einen geistlichen Bildungs- und Reifungsprozess beschreiben,
der vor allem über persönliche, mentorierende Begleitung vermittelt ist.
Im Sinne der „deutsch-evangelischen“ Tradition kann man diese Kritik aber auch dahingehend wenden, dass eine starke Betonung der akademischen Ausbildung in der Tat nur Sinn macht, wenn diese in der Berufsausübung dann auch wirklich als ein herausragendes Qualifikations-merkmal deutlich wird.
Dies ist nach meiner Beobachtung allerdings immer weniger der Fall. Oestreichers Behauptung einer „gefährlichen Intellektualisierung“ des deutschen Protestantismus kann ich jedenfalls nicht folgen. Sie mag für die Zeit bis Ende der 1960er Jahre zutreffen. Aber in den 1970er Jahren erlebte die Theologie unter den Studierenden nach meiner Erinnerung dann doch einen rapiden Plausibilitätsschwund. Im Blick auf die nachfolgenden Generationen würde ich deshalb – jeden-falls hinsichtlich ihrer Beziehung zur Theologie – viel eher von einem bedenklichen Antiintellek-tualismus reden. Jedenfalls haben seither doch sehr viele den Abschluss des Studiums als das erlösende Ende gedanklicher Übungen erlebt, deren Sinn und Nutzen für ihr Pfarrersein ihnen im wesentlichen fremd geblieben ist.
Unter dieser Entwicklung hat, wie ich finde, vor allem die Fähigkeit gelitten, die biblische Tradition mit den Entwicklungen der modernen Welt und Gesellschaft auf eine spannungsvolle und fruchtbare Weise ins Gespräch zu bringen. Stattdessen scheint mir im zeitgenössischen Protestantismus die Neigung vorzuherrschen, der säkularen Vernunft das Feld (die Welt!) zu über-lassen. Sei es, dass man ihre Denk- und Sprachformen mehr oder weniger ungefiltert (ja nicht selten mit einer an Peinlichkeit grenzenden Beflissenheit ) übernimmt, oder sei es, dass man sich mit der eigenen Frömmigkeit in die Nischen und Biotope einer Anderswelt zurückzieht.

Damit wäre am Ende noch einmal ein „großes Fass“ aufgemacht und viele neue Fragen angestoßen: rund um die Entfremdung zwischen akademischer Theologie und kirchlicher Praxis, den Gel-tungsrang humanwissenschaftlicher und anderer (neuerdings vor allem ökonomischer) Erklärungsmodelle im Kontext von Kirche und damit ganz grundsätzlich um die Beziehung von Glaube und Vernunft, Spiritualität und Rationalität im Kontext abendländischer, insbesondere protestantischer Tradition.

Mit diesem offenen Ende will ich schließen. Denn mehr als Impulse zu geben, sollte hier nicht ja meine Aufgabe sein. Und so kann ich nur hoffen, Sie haben nun reichlich Gesprächsstoff.




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