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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 133 - Februar 2011


Klischeés hinterfragen, Vor-Urteile überprüfen

von Herbert Erchinger
(Download als pdf hier)

Beim intensiven Lesen in der vorliegenden umfangreichen Geschichte unserer Landeskirche werden nach und nach ganz nebenbei einige Vor-Urteile und Klischeés aufgebrochen, die ich als linksliberal kritischer Christ so internalisiert hatte und für bare Münze nahm..

So war ich erstens lange der Meinung, die Fürsten hätten die Reformation meist nicht aus innerer Überzeugung, sondern in erster Linie aus egoistischen Motiven, also interessengeleitet in ihren Herrschaftsgebieten eingeführt, nicht zuletzt, um sich die Klöster, Stifte und Geistlichen Güter zur eigenen Bereicherung anzueignen.
In vielen deutschen Landen war das auch der Fall, zB in Ostfriesland, wo die dortigen Grafen nach Einführung der Reformation die Klöster in Besitz nahmen und ausplünderten, so dass oft kein Stein auf dem andern blieb und die ehemaligen Klöster heute oft nur noch als Wüstungen an Flurnamen oder einsamen Schutt- Hügeln in Wald und Landschaft erkennbar sind. Und natürlich an den Backsteinen im Klosterformat, mit denen die räuberischen Grafen ihre Herrenhäuser danach schamlos errichtet hatten.
Doch nicht so in Braunschweig:
Nach dem Tode des stock- katholischen Herzogs Heinrichs des Jüngeren 1568, der sich der Reformation lebenslang schroff verweigert hatte, führte sein Sohn Julius aus lang gehegter Überzeugung, für die sein Vater ihn sogar zeitweise verstoßen hatte, behutsam und mit allen Beteiligten gut beraten und abgestimmt die Reformation im Herzogtum Braunschweig ein.(Die Stadt Braunschweig war längst seit 1528 lutherisch.) Der Herzog war lobenswerterweise „keineswegs gesinnet, die Klöster umb und einzureißen, sondern vielmehr in den alten christlichen Brauch zu bringen.“ (S 162) Die Klöster und Stifte wurden also nicht säkularisiert und vom Herzogtum vereinnahmt, sondern als Sondervermögen bewusst im ursprünglichen Sinne für christliche Bildung, Erziehung und Kultur nutzbar gemacht. Sogar eine Universität entstand später in Helmstedt im Grauen Hof des ehemaligen Zisterzienserklosters. In der ganzen Landeskirche freuen wir uns bis heute an den altehrwürdigen Gebäuden, die als Predigerseminar, Paramentenwerkstadt, Damenstift oder Kultureinrichtung genutzt und erhalten werden. Durch den Kloster- und Studienfonds, die heutige Braunschweigische Kulturstiftung profitieren wir alle noch davon. Dass allerdings die „VW Coaching“ sich ca 1980 opulente Teile des Klosterguts Riddagshausen unter den Nagel riss, war sicher nicht im Sinne dieses Herzogs und schmerzt mich bis heute.

Ein zweites Klischeé, das ich seit meiner Jugend verinnerlicht habe, ist die Behauptung, die weit verbreitete Unkirchlichkeit im Braunschweiger Land habe ihren tieferen Grund darin, dass es hier nie einen Pietismus und auch keine Erweckungsbewegung wie in anderen Landeskirchen gegeben habe. Dazu gibt es sogar eine immer wieder gern gehörte Anekdote: ?in Bauer aus dem Hannöverschen verheiratete seine Tochter ins Braunschweiger Land. Nach der Hochzeit lud er die Mitgift, den vererbten Hausstand und alle Habseligkeiten seiner Tochter samt derselben auf einen Leiterwagen und fuhr in Richtung der neuen Heimstatt. An der Grenze zum Braunschweiger Land ( vielleicht vor Meerdorf oder Kaierde?) hielt er den Wagen an, sprach ein Vaterunser und ermahnte seine Tochter: „Mädchen, wir kommen nun ins Heidenland. Gedenke stets deiner frommen Eltern und fall´ mir ja nicht vom Glauben ab!“
Aber auch dieses Vorurteil ist nicht die ganze Wahrheit. Trotz verbreiteter Unkirchlichkeit, die es durchaus auch in anderen Regionen gab, haben Pietismus und Erweckung in unserer Landeskirche durchaus Einfluss genommen und Wirkung entfaltet.
Schon der irenische Theologe Georg Calixt (1586-1656) hatte die strenge lutherische Orthodoxie aufgebrochen mit seiner Unterscheidung von Theologie und persönlichem Glauben sowie seiner versöhnlichen Haltung gegenüber anderen christlichen Konfessionen. Ganz in seinem Geiste bildete dann Gesenius, der 1629 an die Braunschweiger Magnikirche berufen wurde, die Brücke zu frühpietistischer Frömmigkeit. Ein mildes, liberales, auf persönliche Frömmigkeit und konfesionelle Eintracht gerichtetes Luthertum wurde sichtbar, auch beeinflusst vom „Paradiesgärtlein“ des Celler Generalsuperintendenten Johann Arndt (1555-1621). Diese neue Innerlichkeit und Herzenswärme brach viele Verkrustungen auf und beeinflusste auch die frühpietistische Frömmigkeit des gebildeten Herzog August d.J. (reg 1635-66). Das Unbehagen an der rigorosen Orthodoxie beförderte in adligen und gebildeten Kreisen die Bemühungen um eine „praxis pietatis“ und Versammlungen nebst frommen Traktaten von Laientheologen. Dies alles beförderte den dringend notwendigen geistlichen Neuaufbau der Landeskirche nach den Schrecken des 30jährigen Krieges. Die anheimelnden Titel damals erschienener Erbauungsschriften berühren noch heute: „Paradiesgärtlein“ „Der Vorgeschmack göttlicher Güte“ „fromme Sehnsüchte“. Herzog Rudolf August (1627-1704),der „Pietist auf dem Welfenthron“ verfasste eine Erbauungsschrift mit dem schönen Titel:“Einer andächtigen Seelen Gedancken: Von Gott, zu Gott, in Gott.“ Leider entstand bald die Angst, dieses pietistische Treiben könnte außer Konrolle geraten. Bis heute spielt ja das Kontrollbedürfnis in der Amtskirche eine große Rolle. Trotzdem veranstaltete der Braunschweiger Lakenmacher Hans Engelbrecht in seinem Haus erweckliche Bußpredigten. Trotz baldiger Exkommunikation entfaltete er große Wirkung.
Und weiter schwappte der Pietismus von außen herein: Beeinflusst durch Speners fromme Sehnsüchte „Pia Desideria“ entstanden erweckte Zirkel an den Fürstenhöfen und auch in Wolfenbüttel. Besonders die Hofdamen und Prinzessinnen waren verständlichrweise der steifen Orthodoxie müde und empfänglich für die Wärme und Emotionalität des Pietismus. Hätte man doch schon damals mehr auf die Frauen gehört! Gern wäre ich damals deren Beichtvater gewesen.
Ich selbst habe, was den Konflikt zwischen der lutherischen Orthodoxie und dem Pietismus des 17. Jh betrifft, zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits hat mir die klare Struktur der altprotestantischen Dogmatik, die ich als Student fleißig memoriert habe, immer geholfen, wie auf einer Seekarte theologische Standortbestimmungen vorzunehmen. Von der Schöpfung über das Heilswerk Christi bis zum Wirken des Hl Geistes, der Kirche, der Ethik und den letzten Dingen. Der lutherische Katechismus ist ja eine volkstümliche Kurzfassung dieser Systematik. Und es ist schon eine tolle Sache, wenn man auf die Frage „Was ist das?“ eine klar definierende Antwort erhält. In ihrer stringent intellektuellen Systematik ist auch die protestantische Orthodoxie ein Vorläufer der Aufklärung. Aber all das hilft nichts ohne Gemeinschaftsbildung, Frömmigkeit, Wärme, Gefühl und gelebten Glauben..Den gleichen Konflikt habe ich übrigens als Theorie- gesättigter 68er Studentenpfarrer in den 70er Jahren hautnah durchlebt und bin nicht ohne Grund in Taizé gelandet.
Doch zurück ins 17.Jh . Das Kontrollbedürfnis gegenüber den pietistischen Umtrieben und seinem ausufernden Konventikelwesen führte zu repressiven Maßnahmen.Gegen den Protest des Pietismus- freundlichen Rudolf August setzte ausgerechnet der später katholische Herzog Anton Ulrich das Anti-Pietisten- Edikt von 1692 durch..(Soviel Porzellan hätte er in seinen Kunstsammlungen wohl kaum zerbrochen!) In 16 Artikeln wurden Konventikel, Kanzelpolemik und pietistische Traktate verboten. Eine strenge Zensur wurde eingeführt. Sämtliche Geistliche mussten das Edikt unterschreiben. Wo blieb da die Gewissensfreiheit Luthers? Das Edikt blieb bis 1832 in Kraft. So hat man den Heiligen Geist abgewürgt, von dem doch eigentlich auch in der orthodoxen Theologie die Rede ist. Aber eben nur auf dem Papier. Schade .
Da ich im Harz geboren bin, ist es mir besonders sympathisch, dass dort im Harz trotz alledem auch weiterhin radikal- pietistische Bestrebungen im Zuge sozialer Unruhen aufkochten.Man tröstete sich trotzig bei frommen Zusammenkünften und inbrünstigen Glaubensliedern mit chiliastischen Endzeithoffnungen über das soziale Elend hinweg nach dem Vorbild der in Offb 3 beschriebenen Gemeinde von Philadelphia. Es lebe die Sprengkraft der Eschatologie!
Das Anti-Pietistenedikt war insgesamt dann leider doch erfolgreich. Es hat der Frömmigkeit bis heute geschadet. Von Erweckungsbewegungen im 19. Jh wie in Berlin, Württemberg, im Bergischen Land, am Niederrhein, in Bremen, Hamburg, Ostfriesland und in der Lüneburger Heide habe ich in der vorliegenden Braunschweiger Kirchengeschichte nichts mehr gefunden. Nur ja keine Unruhe! Mit diesem Grundbedürfnis der Braunschweiger Kirche bin ich besonders als Studentenpfarrer noch ständig konfrontiert worden.
Das Abwürgen des Pietismus im Herzogtum Braunschweig schadete nicht nur der Kirche und der Frömmigkeit, sondern auch dem gesamten Staatswesen. Preußen mit seinem spartanischen König Friedrich Wilhelm I (reg 1713-40) verstand es dagegen, sich die Gewissenhaftigkeit und Aufrichtigkeit seiner Pietisten staatsfördernd nutzbar zu machen. Sie halfen ihm, u.a. durch die pietistisch beeinflusste Universität Halle, einen vorbildlichen, bildungshungrigen, effektiven und korruptionsfreien Beamtenstaat aufzubauen, der Preußen bald zur Großmacht in Europa heranreifen ließ. (Vgl dazu: Peter Watson „Der deutsche Genius“ Bertelsmann 2010, S. 63ff)

Ein dritter Irrtum, den ich sogar noch als Industrie- und Sozialpfarrer unserer Landeskirche vertreten habe, ist die gängige Behauptung, die ev. Kirche habe generell die soziale Frage des 19.Jh verschlafen bzw nicht ernst genommen und sei so mitschuldig an der Verelendung des Proletariats und der weitgehenden Entkirchlichung der Arbeiterschaft.
Auch das ist so nicht zu halten.
Da war zB der Pfarrer Eduard Schall(1844-1913), der mit großer Leidenschaft und Hartnäckigkeit die soziale Frage als christliches und biblisches Anliegen im Sinne Jesu zur Sprache brachte.Ein Pfarrer mit Ecken und Kanten, schroff und unbeugsam konfliktbereit, sicher nicht ohne Irrtümer und Fehler. Wirklich eine sehr interessante Persönlichkeit, ein einsamer Rufer in der Wüste der damaligen Staatskirche. Schall war in Essen geboren, wo er sicher schon als Kind die Not und Benachteiligung der Arbeiterschaft kennenlernte. Die ersten 10 Jahre als Geistlicher verbrachte er in Amerika. Die dortige Trennung von Staat und Kirche und die sozial- christliche Bewegung (social gospel) prägten seine Überzeugung auch nach der Rückkehr nach Deutschland. Schließlich wurde er Pfarrer in Bahrdorf, wo er sich massiv in die sozialen Konflikte der beginnenden Industrialisierung einbrachte und die daraus resultierende kirchliche Parteinahme einforderte Theologisch eigentlich orthodox, politisch sogar kaisertreu, erkannte er trotzdem die Berechtigung des Kampfes der Sozialdemokraten für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft auch aus biblischer und theologischer Sicht. Er hielt viele Vorträge, schrieb Traktate und scheute keine Kontroverse. Er hoffte, die Arbeiterschaft durch seine religiös begründete Solidarität aus ihrer kirchenfeindlichen Haltung herausholen zu können. Diesem Ziel dienten auch seine Predigten, sein Konfirmandenunterricht und seine Jugendarbeit.Auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen in den USA warb er für eine „Freie Kirche im freien Staat“, also für die Trennung von Staat und Kirche. Er forderte eine am Gemeinwohl orientierte, sozial gerechte Wirtschaftsordnung. Er begründete dies geschickt aus der Bibel und sogar aus den Bekenntnisschriften. In seinem Engagement für die Schwachen legte er sich heftig mit dem Konsistorium und sogar mit dem Regenten an. Nach schweren Anfeindungen und Disziplinarverfahren wurde Eduard Schall 1897 suspendiert und 1899 aus dem Pfarrdienst entlassen. Im Zurückschlagen war er nicht kleinlich. Reichsweit publizierte er eine Kampfschrift über seinen Konflikt mit der Landeskirche: „Das moderne Papsttum in den Kirchen der Reformation . Meine Dienstentlassung vor der Ersten Disziplinarkammer in Braunschweig.“ Er beendete seine Karriere in Schleswig als Lehrer für die nach Amerika auszusendenden Pfarrer.
Heute ist uns vieles von dem, was Eduard Schall vertreten hat, selbstverständlich: Die Trennung von Staat und Kirche, der Öffentlichkeitsauftrag und das Wächteramt der Kirche in sozialen Fragen, die Vereinbarkeit von kirchlichem und parteipolitischem Engagement. Er war ein Vorreiter, leider hatte er wenig Mitstreiter in unserer Region. Vieles an seinen Anschauungen war auch autoritär und vordemokratisch. Doch er hat einen wichtigen Punkt der Korrektur kirchlicher Arbeit glaubwürdig und unbeirrbar vertreten. Seine Ausnahmestellung bestätigt aber leider auch die Regel, dass die Braunschweiger Landeskirche insgesamt die soziale Frage des 19.Jh unzureichend beachtet und bearbeitet hat. Und auch, dass die Landeskirche unbequeme Leute schwer ertragen konnte und kann.

Ein viertes Vorurteil, das ich revidieren musste, war die Vorstellung, auch in Braunschweig seien die Menschen im August 1914 voller vaterländischer Kampfbegeisterung in den Ersten Weltkrieg gezogen.
Das Gegenteil war der Fall. Diese angebliche Kriegsbegeisterung war eine grandiose und bis heute wirkungsmächtige Lüge der Zensurbehörden in Berlin, mit der sie den militärischen Gegner einschüchtern wollten. In Wahrheit herrschte bei der Verlesung der Kriegserklärung am 2.8.1914 auf dem Schlossplatz betretenes Schweigen und tiefe Bestürzung und Beklommenheit. Im kollektiven Bewusstsein der Menschen waren die Schrecken der vielen vorangegangenen Kriege, auch des 30jährigen noch durchaus vorhanden, nicht zuletzt bewahrt durch die Choräle Paul Gerhardts. „Durch so viel Angst und Plagen, durch Zittern und durch Zagen, durch Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken.“(EG 58,3). Der Krieg wurde als Heimsuchung erlebt, der man sich demütig und durchaus beklommen beugte. Gehorsam, nicht begeistert verabschiedete die Bevölkerung die ausrückenden Soldaten. Zum Abschied sang man nicht etwa „Heil Dir im Siegerkranz“, sondern durchaus den folgenden Schrecken angemessen: „Befiehl Du Deine Wege und was dein Herze kränkt.“(EG 361) Diese Korrektur versöhnt mich richtig mit der damaligen Generation. Besonders auf dem Lande war den Menschen durchaus bewusst, dass Krieg wieder einmal Hunger, Teuerung und Konfiszierung der Pferde, des Viehs und der Ernte bedeutete. Noch besser wäre es allerdings gewesen, auch die Frommen und Gutbürgerlichen hätten sich der klaren Ansage der 5000 Braunschweiger angeschlossen, die schon am 28.7.1914 im Konzertsaal gegen den „Wahnwitz des Massenmordes“ protestierten. Bei 50000 mit der Bergpredigt in der Hand in vielen Hauptstädten hätte der Kaiser vielleicht das Schwert in der Scheide gelassen und die „Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts“ wäre uns allen erspart geblieben.
Nur bei der Jugend war es teilweise gelungen, auf dem Umweg über Abenteuerlust und Vorschusslorbeeren so etwas wie Kriegsbegeisterung zu erzeugen. Aber spätestens nach den Stahlgewittern von Langemarck, wo die Blüte der Jugend reihenweise niedergemäht wurde, war auch das vorbei.
Insgesamt hilft mir die neue Kirchengeschichte Braunschweigs, immer wieder das eigene Urteil zu überprüfen und neu zu bilden.Jede Phase ihrer Geschichte hält auch wieder nützliche Lehren für uns heute bereit.
Das eben liebe ich an unserer armen Kirche: Dass in, mit und unter schlimmen Verkrustungen und Fehlentwicklungen doch immer wieder Erneuerung, Wagemut, Wahrheit und Widerstand aufleuchten.




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