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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 134 - Dezember 2011


Eine Kirche dritten Typs
oder „Frisch gewagt ist halb gewonnen“

Zur Lage der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig
Rede vor der Synode am 17. November 2011

von Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber
(Download als pdf hier)

I. „Frisch gewagt ist halb gewonnen“
Der badische Pfarrer und Literat Johann Peter Hebel (1760-1826) war ein Meister des sinnfälligen Wortes. Im „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“ publizierte er neben Anekdoten, Kalendergeschichten und Schwänken auch Sprichwörter.
Letztere vermitteln erprobte Volksweisheit, lehren Moral und fordern mitunter auch Widerspruch heraus. Auch die Bibel ist ja voller solcher Weisheit. So heißt es in Sirach 41,15 „Sieh zu, dass du einen guten Namen behältst; der bleibt dir gewisser als tausend große Schätze Gold.“ Oder 19,6 „Hörst Du etwas Böses, das schwatze nicht nach, denn solches Schweigen schadet dir nichts.“
Ein Sprichwort, das Hebel entfaltet, mag ich besonders gern. Ich lasse ihn zu Wort kommen: „Frisch gewagt ist halb gewonnen. Daraus folgt: Frisch gewagt ist auch halb verloren. Das kann nicht fehlen. Deswegen sagt man auch: Wagen gewinnt, Wagen verliert. Was muß also den Ausschlag geben? Prüfung, ob man auch die Kräfte habe zu dem, was man wagen will, Überlegung, wie es anzufangen sei, Benutzung der günstigen Zeit und Umstände und hintennach, wenn man sein mutiges A gesagt hat, ein besonnenes B und ein bescheidenes C. Aber so viel muß wahr bleiben: Wenn etwas Gutes soll unternommen werden und kann nicht anders sein, so ist ein frischer Mut zur Sache der Meister, und der muß dich durchreißen. Aber wenn du immer willst und fangst nie an oder du hast schon angefangen und es reut dich wieder und willst, wie man sagt, auf dem trockenen Lande ertrinken, guter Freund, dann ist schlecht gewagt ganz verloren.“

II. Der Bezugsrahmen
Gefordert ist also nicht Tollkühnheit, sondern ruhige Abwägung der Chancen und Risiken. Die Verhältnisse werden geklärt, die Belastungsgrenzen angesprochen, aber der Grundton ist die Ermutigung. (Hermann Barth) Mir gefallen dieses Sprichwort und die in ihm aufgehobenen Lebenserfahrungen. Sie dienen mir – neben biblischen Leitworten - zur Orientierung auch für meine kirchenleitende Verantwortung: Prüfung der Kräfte, Überlegung, wie man es anstellen will und Nutzung günstiger Momente und Umstände. Vorausgesetzt ist allerdings, dass klar ist, worauf sich Prüfung, Überlegung und Umsetzung beziehen.
Es geht heute, wie immer in der Landessynode, um unsere Kirche und ihre Gemeinden, um die Menschen, die haupt-, neben- und ehrenamtlich in ihr beschäftigt sind und sich für Gruppen und Kreise, Einrichtungen und Ausstattungen, die wunderbaren Gebäude und die Kirchenmusik engagieren. Vor allem geht es uns aber um die gute Botschaft, die Kirche erst zur Kirche macht, ihren Auftrag also. Ich werde deshalb nicht müde, ihn in der für mich klarsten Form aus 1. Petrus immer wieder zu wiederholen: Gebt Rechenschaft einem jeden, der euch fragt, von der Hoffnung, die in Euch ist.
Die Hoffnung, liebe Schwestern und Brüder, hat ihren Grund im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi, sie hat ihren Grund in dem Gott, der zu diesem Jesus „Ja“ sagte und der unser Leben will, der uns gerecht macht. Im Reformationsgottesdienst der Landeskirche in Königslutter vor wenigen Wochen habe ich es so gesagt: „Du bist mir Recht, sagt Gott zu uns. Du bist mir Recht, weil Christus es für Dich Recht gemacht hat, ich nehme Dich voraussetzungslos an, Liebe und Vertrauen bestimmen unser Miteinander, nicht Schaffen und Tun. Und es ist nicht nur eine behauptete Gerechtigkeit, sondern dies Wort hat schöpferische Kraft, es bewirkt, was es zusagt.
Wenn Gott den Menschen gerecht spricht, dann ist er es auch, dann sind Sie und ich es.
Es gibt nur eine Bedingung, glauben muß man´s, sich auf die bedingungslose Liebe Gottes einlassen. Und die stellt mich in den weiten Raum der Freiheit. Einer Freiheit, die nichts von Zwang und Angst weiß, die die Zukunft öffnet. Es ist der Glaube an das Evangelium, der diese Veränderung bewirkt, oder noch präziser, es ist der Glaube nicht an irgendeinen Gott, sondern an Jesus Christus, in dem sich unser Gott gezeigt hat. Dieser Glaube macht frei und diese Freiheit wirkt sich aus im Leben in der Kirche, genauso wie in unseren üblichen Lebenszusammenhängen.“
Also um diese Kirche geht es, und diese Kirche ist zugleich die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig. Wenn ich nun im Blick auf sie sage: „Frisch gewagt ist halb gewonnen“, dann geht es auch darum, wie ich diese Kirche im Augenblick sehe. Natürlich ist dies nur ein selektiver Blick, er muß ergänzt werden durch Ihre Sichtweise, aber die Synode hat mich um meine Sicht gebeten, so will ich sie beschreiben.

III. Wie sehe ich die Landeskirche?
Immer mal wieder werde ich gefragt: „Wie sehen Sie eigentlich die Landeskirche, wie steht sie im Kontext der anderen evangelischen Kirchen in Deutschland, gibt es Momente, die sie besonders machen?“ Wir suchen, wie wir Kirche sein können. Wir suchen einen neuen Anfang und einen neuen Zugang und wir fragen, wie wir Menschen gewinnen und bei der Kirche halten können. Kirche ist nicht vor allem Struktur, sondern Ort und Erfahrung der lebendigen Gegenwart Gottes, der seine Leute sammelt.
Wie sehe ich die Landeskirche?
Es sind verschiedene Ebenen, von denen aus ich die Landeskirche wahrnehme. Zwei beschreibe ich näher.

a. Die Gemeindearbeit
Zunächst und vor allem aus der Ebene der Gemeinden und der dort Tätigen.
Bornhausen vor nicht allzu langer Zeit: Die neuen Glocken kommen an. Das ganze Dorf ist auf den Beinen, gespendet haben viele, die Landeskirche und die Stiftung Braunschweiger Kulturbesitz haben etwas dazu getan, das Pfarrerehepaar hat mit dem KV eine wunderbare Gelegenheit zum Gottesdienst geschaffen – und die Menschen kommen, freuen sich, singen, beten mit und spüren, hier geschieht etwas, Horizonterweiterung, ein Gespür für lange Zeitläufe, ein Gefühl für Zusammengehörigkeit. Noch Wochen später werde ich in Braunschweig und andernorts darauf angesprochen.
Erntedankfest in Wahle – mit der Taufe eines Kindes – eine wunderbare Feier: Dank für das Geschenk des Lebens, hier wird er formuliert. Wo sonst, das ist Kirche.
Reformationsfest in Hasselfelde und im Dom zu Königslutter: Bewegend die Musik, anregend die Gespräche später, die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen und seiner Verantwortung für die Freiheit verbindet uns.
Am Tag zuvor Rübeland und Feier von 75 Jahre Männerarbeit in der Landeskirche. Gottesdienste – alle gut besucht, alle gut vorbereitet, eine Freude, die anhält.
Wie sehe ich die Landeskirche? Ich sehe sie als eine Kirche, die an vielen Orten mit Gottesdiensten und Andachten, mit Verkündigung und Seelsorge differenziert wirkt.
Gotteslob und Menschenwerk – wunderbare Kirchengebäude, Kirchenmusik, Menschen, die den Verkündigungsdienst ausfüllen, Pfarrer und Prädikanten, Kirchenmusiker, Vorsteher und Küster – sie alle stehen für unsere Kirche, geben ihr Gestalt und Gesicht.
Darum bin ich überzeugt: solange wir von unseren Gottesdiensten her, solange wir mit Singen, Beten und Hören auf Gottes Wort unseren Glauben leben, ist mir nicht bange um unsere Kirche. Das andere, all das andere, was uns so oft so intensiv beschäftigt, kommt dann auch – aber erst dann.
Während der VELKD- und EKD-Synode in Magdeburg hat der dortige Ministerpräsident, ein Physiker und im Fernstudium theologisch Gebildeter gesagt: Ein Sonntag ohne Gottesdienst ist für mich unvorstellbar. Ein wichtiges Wort, auch gut für evangelische Ohren, auch gut, es denen zu sagen, die in einer säkularisierten Gesellschaft versuchen – immer wieder neu versuchen – die Gottesdienstzeiten mit irgendwelchen anderen Dingen zu besetzen.
Ich erlebe so, dass die Arbeit in den Gemeinden gelingt und bei der Sache ist. Und ich nehme wahr, dass viele Gemeindeglieder, vom Glauben bewegt, Verantwortung in ihrem Dorf, ihrem Stadtteil und der nahen und fernen Ökumene übernehmen und mit dafür sorgen, dass ein Dorf, ein Stadtteil lebenswert bleibt.
In einem Visitationsbericht lese ich: „Die evangelische Kirchengemeinde im Dorf wird für viele neuer Ort kirchlicher Verbundenheit.“ Zuvor hatte der Kollege beschrieben, wie in anderen Organisationsmodellen die Stärke, „Wohn-, Lebens- und Glaubensort zu verbinden“, vertan wird. (Gemeindebericht zur Visitation der Kirchengemeinden Bettmar und Sierße 2011)
Dem ist nichts hinzuzusetzen.

b. Aus Sicht der Situation in Niedersachsen und mit Blick auf die konkreten Herausforderungen unserer Region:
Sie wissen, dass es nach meinem Impuls über die Fortentwicklung der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen 2009 heftige Diskussion auf sehr unterschiedlichen Ebenen gegeben hat. Ich bin noch immer verwundert über die Abwehrängste, die auch in unserer Kirche gegenüber einer selbstkritischen und realistischen, auf sorgfältigen Analysen beruhenden perspektivischen Planung der Zukunft unserer Landeskirche bestehen.
Dazu sage ich nicht zum ersten Mal: Wer sich jetzt den notwendigen Reformen, auch Strukturreformen verweigert, tut das, obwohl in unserer Kirche seit 2004 die Daten zur Gemeindegliederentwicklung und den damit einhergehen Folgen für die Finanzausstattung, bekannt und veröffentlicht sind.
Es gilt eigentlich seitdem „frisch gewagt“ und ich bin allen dankbar, die diesen Weg eines geprüften Wagnisses mitgegangen sind. Es geht nach wie vor um die Eigenständigkeit der Landeskirche und um Kooperationen in Niedersachsen und darüber hinaus. Der Ad-hoc-Ausschuss des Rats der Konföderation hat unter der Moderation von Bischof Ulrich aus Schleswig gearbeitet und ein Modell zur Fortentwicklung der Konföderation vorgelegt, das am 29. November 2011 dem Rat der Konföderation vorgelegt werden wird.
Es geht darum, ohne Berührungsängste, ohne ideologische Scheuklappen das jetzt Nötige anzugehen – und dies gilt auch für anstehenden Veränderungen und Entscheidungen innerhalb unserer Kirche.

IV. Landeskirche dritten Typs
Mir ist in den letzten Monaten gerade auch im Blick auf unsere Locierung in Niedersachsen zunehmend klar geworden, dass unsere Landeskirche eine Landeskirche dritten Typs ist. Sie ist keine Landeskirche, die den westdeutschen Landeskirchen vergleichbar wäre, oder sich als Westkirche zu verstehen hat, sie ist keine Ostkirche, obwohl sie wichtige Teile in Sachsen-Anhalt hat. Sie ist schließlich auch keine Landeskirche, die eigentlich nur die Summe ihrer Gemeinden ist, denn wir haben eine ganze Reihe von Diensten, Einrichtungen und Fachbereiche als Dienstleister zwar für die Gemeinden aber auch als eigenständig Agierende. Unsere Landeskirche ist etwas Eigenes. Das macht sowohl ihren Charme als auch ihre Chance und Gefährdung aus.
Sie ist insofern speziell, als sie Ost und West vereinigt und seit 1945 durch die Lage an der Zonengrenze bzw. seit 1991 durch die neue Situation der Wiedervereinigung bestimmt ist. Zudem wirkt sie nach wie vor – fast passgenau – im Gebiet des alten Braunschweiger Landes, was immer wieder zu der Redewendung führt, sie sei doch mit der Öffentlichen Versicherung, der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz und der Braunschweigischen Landessparkasse Garant für die Identität dieser Region.
Für unsere Kirche typisch ist es, dass sie sich in gut 400 Einzelgemeinden gliedert. Natürlich hat schon lange nicht mehr jede dieser Gemeinden eine eigene Pfarrstelle. In vielen Gemeinden hat nie ein Pfarrhaus gestanden. Dies liegt wesentlich daran, dass die Gemeindegliederzahlen höchst unterschiedlich sind. So gibt es Gemeinden mit weniger als 70 Gemeindegliedern und andere mit mehr als 2900 – aber beide mit eigenem Kirchenvorstand, eigenem Haushalt und eigenem Budget.
Die besondere geographische Lage hat ihren Preis, nämlich den Verlust von jährlich ca. 5000-6000 Gemeindegliedern überwiegend durch Wanderungsbewegung und die ungünstige Demographie. In den letzten 10 Jahren waren das mehr als 50000 Mitglieder. Die Folgen sind, dass unsere Gemeinden zunehmend eine einseitige Altersstruktur haben, dass damit einhergehend die Zahl der Menschen, die sich mittelfristig aktiv ehrenamtlich einbringen kann, schon aus Altersgründen überproportional zurückgehen wird und dass zugleich auch die finanzielle Leistungskraft im Vergleich zu anderen Landeskirchen überproportional sinken wird. Denn wir haben, anders als Hannover, das ja auch Gebiete hat, die von dieser ehemals grenznahen Lage betroffen sind, keine Kompensationsgebiete, die die Verluste zumindest in einem gewissen Umfang wieder ausgleichen. Wir haben kein Emsland. Auch in Mahlum, so die Pfarrerin am Freitag letzter Woche, ziehen die jungen Menschen weg.
Problematisch ist es auf diesem Hintergrund, dass wir nach wie vor in vielen Bereichen - wenn auch mit erheblich weniger Personal - wie eine große Kirche aufgestellt sind, ein Kollege sprach davon, wir seien „Vollsortimenter“.
Damit meinte er: Wir haben ein ARPM, wir haben ein Theologisches Zentrum, wir haben einen Männerpfarrer, demnächst ein Frauenpfarramt, Bibliotheken mit entsprechendem Personal, umfängliches Archiv, Kantine, Bauabteilung, drei dezentrale Verwaltungsstellen, das Landeskirchenamt, eine Jugendkirche, ein großes Tagungshaus, Landeskirchenmusikdirektor, Pastoralkolleg, Kollegium, Diakonisches Werk, Beratungsangebote, zwei EFB´s und leisten hohe Umlagen an die VELKD, die EKD und die Konföderation und im Grunde alles, was auch in einer großen Kirche vorhanden ist, nur mit erheblich weniger Fachpersonal ausgestattet.
Die Ev.-luth. Kirche in Schaumburg Lippe hat dies alles nicht, benötigt allerdings auch keine Rücklagenentnahme zur Finanzierung ihres Haushalts.
Hier tröstet ein wenig das Luther-Wort – wohl auch ein Sprichwort - :
„Unser Herrgott gibt gemeiniglich den Reichtum den …. , denen er sonst nichts gönnt.“
Nun haben wir in den zurückliegenden Jahren diese Situation nicht einfach beobachtet, sondern auf sie und auf andere Notwendigkeiten reagiert.

V. Wir haben „frisch gewagt“ und gewonnen
Einiges, mit dem wir uns in den letzten Jahren besonders beschäftigt haben, will ich benennen, Vieles fehlt hier:

  • Personalförderung und –entwicklung
  • Einführung eines jährlichen Pfarrertages
  • Regelmäßige Rundbriefe an die Pfarrerschaft
  • Entwicklung eines Ehrenamtskollegs
  • Einführung von Personalgesprächen
  • Erneuerung der Visitationspraxis
  • Durchführung einer ökumenischen Visitation
  • Ausführung mit der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz und dem Diakonischen Werk einer Sozialberichterstattung
  • Entwicklung und Gründung einer Jugendkirche
  • Neuausrichtung der Gesamtkirchlichen Dienste
  • Neufassung der Propsteiordnung
  • Weitere Qualifizierung der religionspädagogischen Arbeit
  • Fortentwicklung der Angebote im Konfirmandenunterricht (KFS u.a.)
  • Religionspädagogische Qualifizierung fast aller Erzieherinnen
  • Jahr der Taufe
  • Gründung der Evangelischen Akademie Abt-Jerusalem
  • Stiftung des Abt-Jerusalem-Wissenschaftspreis gemeinsam mit der TU und der Wissenschaftlichen Gesellschaft
  • Entwicklung eines Gebäudestrukturplans
  • Personelle und finanzielle Kooperation mit dem „Haus der Stille“ in Drübeck
  • Grunderneuerung und Ausbau des Intranets und der EDV
  • Entwicklung einer landeskirchlichen Informationsschrift
  • Ausbau und Stabilisierung der ökumenischen Beziehungen
  • Begründung einer Cathedral-Partnerschaft mit der Diöcese Blackburn
  • Sanierung des Tagungshauses Hessenkopf
  • Inhaltlicher und architektonischer Ausbau des Theologischen Zentrums in Braunschweig zugleich Kooperationen mit dem Predigerseminar in Loccum
  • Entwicklung des Kuratorenamtes
  • Finanzreform
  • Rücknahme von Stellenbeschränkung für Pfarrehepaare
  • Publikationen: Kirchengeschichte, Kirche im Wandel, Gemeindebild, Kirchennutzung, Gemeinschaft und Rechenschaft, Sterbehilfe, FAG u.v.m.
  • Erklärung zum Verhältnis zu den Juden
  • Segnung gleichgeschlechtlich Lebender
  • Sicherung der Pensionen
  • Anstoß zur Prioritätendiskussion mit Gruppe 2012
  • Einrichtung einer Projektsteuerungsgruppe ab 2011
  • Mitbegründung der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
  • Mitinitiative zur Gründung einer Härtefallkommission in Niedersachsen
  • Einführung der Vocatio für Religionslehrerinnen in Niedersachsen
  • Gründung einer Dombaustiftung
  • Zahlreiche „Aufbruch-Projekte“
  • Projekt „Erwachsen Glauben“
  • Hinzu kommen eine Fülle von Gesetzen, Kirchenverordnungen etc.
  • Intensive Diskussionsprozesse, die noch nicht abgeschlossen sind, betreffen: Verwaltungsreform, Propsteistrukturreform, Gemeindebild, Pfarrerbild, Neue Finanzverteilung (FAG).

Zwischendurch waren immer wieder heftige Steuerungsprozesse nötig, um bei wegbrechenden finanziellen Mitteln durch die Steuerreformen und Konjunktureinbrüche handlungsfähig zu bleiben. Dies ist uns gelungen.
Diese vorläufige Bilanz müssen wir nicht verstecken.
Dabei sind es vor allem die kreativen Projekte in den Gemeinden (Stiftungsgründungen etc.), samt der ganz normalen Arbeit vor Ort, die unserer Landeskirche Gesicht verleihen. Es ist also durchaus nicht hinreichend, wenn wir die Situation unserer Kirche stärker unter dem Aspekt des Verlustes als unter dem des Wachsens sehen.
Mir zeigen die Auswertungsbesuche anlässlich von Visitationen, wie vital, begeisternd und dem Menschen dienend die von der Botschaft des Evangeliums geleitetet Arbeit in unserer Gemeinden ist. Es ist gut, dass so viele diese nüchterne Selbsteinschätzung teilen und mit ganzem Herzen die Arbeit unserer Kirche tragen. Es geht darum das Gelingende und dem Auftrag Gemäße zu entdecken und sich auch entschiedener vom dem zu trennen, was das Gelingen erschwert und die Erfüllung des Auftrags stört. Ich kann Sie nur dazu ermuntern: Machen Sie mutigere Schnitte. Trennen wir uns von dem, von dem schon lange wissen, dass es nicht zu dem gehört, was unserer Kirche aufgetragen ist.

VI. Nötige Leitfragen und Prüffragen
Bei diesem Klärungsprozess können Leit- und Prüffragen solche sein, die klären, was
Menschen für eine gelingende Lebenspraxis benötigen,
was sie zu Recht von ihrer Kirche und Gemeinde erwarten können und
was zur Bilanzierung der jetzt geleisteten Arbeit hilfreich ist:

a. Menschen
  • benötigen Erlebnisse einer spirituellen und geistlichen Praxis, die ihre eigenen Alltagserfahrungen deutet
  • benötigen Begegnungen mit glaubwürdigen und authentischen Personen, die im Dialog mit ihnen ihre eigene Spiritualität leben und entsprechend theologisch sprachfähig sind
  • benötigen Orte, an denen ihre eigenen religiösen Themen und Fragestellungen, ihre Sehnsucht nach Frömmigkeit zum Ausdruck kommen kann
  • benötigen Formen für spirituelle Erfahrungen, die sich ihrer Kulturform und ihrer Geselligkeitsform annähern
  • benötigen Ermutigungen und Orientierungen aus dem christlichen Glauben zur Mitverantwortung in dieser Welt.

Sind wir hierauf eingestellt?

b. Fragen zur Bilanzierung
Im Jahre 2004 habe ich die nachfolgenden Fragen als Hilfe zur Bilanzierung in den einzelnen Arbeitsfeldern und -ebenen der Landeskirche formuliert. (Kirche im Wandel, S. 39) Ich wiederhole sie erneut:
  • Ist die Arbeit öffentlich erkennbar am kirchlichen Auftrag orientiert?
  • Ist die Arbeit öffentlich erkennbar mit der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig verbunden, und steht sie in erfahrbarem Zusammenhang mit dem Identitätszentrum der christlichen Kirche, also mit dem Gottesdienst?
  • Trägt die Arbeit dazu bei, dass (potentielle) Glieder der Kirche in ihrer Zeugnisaufgabe für die Welt unterstützt werden, also zu handlungsfähigen, befreiten Christenmenschen wachsen können?
  • Inwiefern ist die Arbeit auf Neugewinnung von Mitgliedern ausgerichtet? Worin liegt die besondere Leistungsfähigkeit der Arbeitsstelle?
  • Dient die Arbeit der Integration von Glauben und Handeln?
  • Ist die personelle und finanzielle Ausstattung der Arbeit – im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel - hinreichend?
  • Sind die Pfarrer und Pfarrerinnen des funktionalen Diensts, Sonderpfarrämter und gesamtkirchlichen Dienste am Verkündigungsdienst ihrer Propstei beteiligt?
  • Ist eine nicht zu den „Gesamtkirchlichen Diensten“ gehörende Arbeitsstelle einer der drei kirchlichen Ebenen mit Steuerungskompetenz (Kirchengemeinde, Propstei, Landeskirche) zugeordnet?
  • Wie wird die Qualität der kirchlichen Arbeit festgehalten, überprüft und verbessert? An welchen Indikatoren kann die Qualität gemessen werden? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Kirchensteuerzuweisung an die Rechtsträger, wenn Qualitäten nicht eingehalten werden?

Ich halte diese Fragen noch immer hilfreich bei der Entscheidungsfindung über das, was bleibt und das, wovon wir uns trennen müssen.

VII. Die nötige Neuausrichtung
Mein Ansatz ist nun nicht, wegen der schwierigen Prognosen im vorlaufenden Gehorsam den Weg zur reinen Gemeindekirche zu gehen, sondern alle Verantwortlichen zu bitten, die Aufgabe anzunehmen, denn „frisch gewagt ist halb gewonnen“, diese andere Kirche dritten Typs, die bisher so noch nicht in der EKD identifiziert und beschrieben ist, zu entwickeln. Eins ist klar, weiter so wie bisher geht nicht mehr, denn nicht einmal die vor einiger Zeit von Ihnen beschlossenen Sparbeschlüsse und Prioritätensetzung reichen aus, um als gut ausgebaute Kirche dritten Typs auch noch 2030 existent zu sein.
In der westfälischen Landeskirche hat letzte Woche der scheidende Präses Alfred Buß zu deren Situation ausgeführt: "Im Jahr 2030 werden wir noch ungefähr zwei Drittel der Mitglieder und halb so viel Geld wie im Jahr 2000 haben", erläuterte Buß. Deshalb werde die Landessynode, die am Montag zu ihrer einwöchigen Jahrestagung in Bielefeld zusammenkomme, über Personalplanung beraten. … Mit der Maßnahme solle sichergestellt werden, dass trotz sinkender Einnahmen für die Bezahlung und Versorgung von Theologen weiterhin nicht mehr als die Hälfte der Kirchensteuermittel verwendet werden, betonte Buß, der im März in den Ruhestand geht. "Die anderen 50 Prozent sind für andere Aufgaben und Berufe da." (Kirche nicht allein nach Kassenlage gestalten)

Ich rechne nicht damit, dass unsere Situation 2030 sehr viel anders sein wird. Wir gehen allerdings bei unseren Berechnungen davon aus, dass nur zwischen 35 und 41 % der Kirchensteuereinnahmen für die Pfarrerbesoldung – laut Empfehlung der EKD – ausgegeben werden sollten. Natürlich gibt es in diesem Zusammenhang Unwägbarkeiten wie die Euro-Krise und deren Folgen, die Entwicklung des Staats/Kirchen-Verhältnisses und die Zukunft der Kirchensteuer. Anders ist es mit den Konsequenzen aus dem demographisch bedingten Mitgliederrückgang oder auch der Altersstruktur der Pfarrerschaft – hierauf können und müssen wir uns einstellen. Mein Eindruck ist, dass es nicht mehr ausreicht das Vorhandene zu verdünnen, um mit weniger zu Recht zu kommen, aber ansonsten im alten System zu bleiben. Strukturmaßnahmen erscheinen so als Kleinkürzen und downsizing, downsizing aber macht depressiv.
Für mich folgt aus alledem, dass wir eine fundamentale Neuausrichtung brauchen, die die regionalen Zuordnungen und Strukturen, Gemeindeformen und Berufsbilder neu denkt und beschreibt. Die Zuordnung der Hauptamtlichen, insbesondere der Pfarrer und Pfarrerinnen zu diesen gemeindlichen Räumen, die neu beschrieben werden müssen, ist zu klären. Was dazu bisher entwickelt wurde, ist ein erster Schritt.
Ist damit zu viel gefordert?

a. Die nötige Vision
Ich erinnere an ein anderes Sprichwort aus dem Buch der Sprüche:
„Ohne Vision verkommt das Volk.“ (Spr 29,18) und an eine Verheißung unseres Gottes: „Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht?“ (Jesaja 43,19)
Wir wissen, dass Menschen, die kein Zukunftsbild haben, nur der revisionistische Blick zurück bleibt oder „jener utopische Blick nach vorn, der aus eigener Kraft vorausschaut, eigene Ziele verwirklichen möchte – und dabei doch in den eigenen Prägungen der Vergangenheit gefangen bleibt“.
Dabei ist es immer wieder wichtig, den Blick auf die biblische Ursprungssituation zu richten und möglichst viele Menschen in die Visionsarbeit eintreten zu lassen, denn:

„Wehe der Welt, in der es keinerlei
Utopisten und Träumer mehr gibt.
Wenn jemand alleine träumt,
ist das eben nur ein Traum.
Wenn wir aber zusammen träumen,
dann ist das der Beginn
der Wirklichkeit“ (Dom Helder Camara)

b. Probleme auf dem Weg
Fixierung auf das, was ist, führt nicht mehr weiter. Denn hier werden die visionären Blicke verknüpft mit einer bestimmten geschichtlichen Verwirklichungsgestalt, und umgekehrt sind die Betroffenen sich nicht über den Unterschied zwischen grundlegender Vision und zeitgebundener Gestalt im Klaren. Die Rückschau auf die bisherige Gestaltwerdung ist oft nichts anderes als der Versuch, einen Entwicklungsprozess zu stoppen. Aber die Neuaufbrüche brauchen „den Halt und den schützenden Raum der bisherigen Struktur.“ (Christian Hennecke, Glänzende Aussichten, Münster 2010) Darum ist der würdigende Blick auf alles, was ist, höchst geboten.

c. Ein Beispiel:
Der Film „Wie im Himmel“ ist ein Kinoerfolg aus Schweden, der bei den Bad Gandersheimer Domfestspielen auf die Bühne gebracht wurde. Szenen daraus wurden in einem Rundfunkgottesdienst aus der Stiftskirche aufgenommen. „Wie im Himmel“ erzählt von einem Musiker, dessen Lebenstraum sich erfüllt, als er nach langer Irrfahrt lernt, die Menschen und sich selbst zu lieben. Der international erfolgreicher schwedische Dirigent erleidet einen Herzinfarkt und zieht sich zurück an den Ort seiner Kindheit, ein Dorf im Norden Schwedens. Dort übernimmt er ausgerechnet die Leitung des Kirchenchors und lehrt, was Musik bedeuten kann. Im Theaterstück weist die alte Gemeinde in der Gestalt des Pfarrers die neue hinaus. Und die findet ihre Heimat und wird eine tragfähige solidarische Gemeinschaft für andere. Wir beobachten und wir leiden darunter, dass sich die Gestalt auch unserer geliebten Kirche verändert, manches scheint sich förmlich aufzulösen, aber ich sehe, dass trotz aller Veränderungen die Substanz, das, was Kirche ausmacht, nicht verloren geht, sondern neu wird. Der eigentliche Erneuerungsprozess der Kirche ist nicht von Menschen geplant, er ist Geschenk wie der Oster- und Pfingstmorgen und verheißt uns „glänzende Aussichten“. (Christian Hennecke)

VIII. Fazit:
Mir ist schon immer eine Geschichte aus dem Buch Genesis 12 wichtig gewesen. Sie macht exemplarisch deutlich, worum es geht und was nötig ist:

1 Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. 2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. 4 Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.


Mit 75 lässt sich da einer auf ein Abenteuer ein, weil er gehorsam ist, denn Gott hat ihn ausgesucht. Er legt eine große Aufgabe vor ihn, ein langer Weg, kein schneller Erfolg.
Christian Hennecke sagt hierzu: „Nicht nur bei Abraham, auch an anderen Schlüsselaufbrüchen des biblischen Gottes, wird deutlich, dass das Alter oder die unfruchtbare Aussichtslosigkeit kein Kriterium für den weiteren Weg sind. Die Fruchtbarkeit der von Gott eröffneten Zukunft liegt nicht bei der Jugend, auch nicht beim Alter, sondern darin, ob Menschen sich auf ihn einlassen, gerade auch in Grenzsituationen. Sich auf einen Weg in das Unbekannte einzulassen – ohne dabei absehen zu können, wie lange der Weg dauert und wo genau er hinführt, das wirft Abraham und auch uns zurück auf die Frage, ob und wie intensiv wir uns auf Gottes Gegenwart und Macht einlassen mögen.“ (Christian Hennecke)
Im Namen Gottes „Frisch gewagt“, liebe Schwestern und Brüder, das ist „halb gewonnen“ oder vielleicht sogar ganz?




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