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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 138 - Dezember 2015


Einmal Kralenriede rauf und runter

von Klaus Pieper
(Download als pdf hier)

Kürzlich dachte ich, alle reden von Flüchtlingen - besonders in Kralenriede (jedenfalls hier in Braunschweig) Das ist für mich abstrakt. Fahr doch einfach mal hin und geh den Weg vom Einkaufszentrum zur Landesaufnahmebehörde (LAB): Dann erlebst du leibhaftig, was die Anwohner tagtäglich erleben.
Ich begann bei Penny. Dort waren weniger Flüchtlinge als erwartet. An der Kasse standen einige vor mir und dabei ging es immer um Beträge von etwa 1 Euro.
Auf dem Weg zur LAB ging ich im Strom von meist jungen Männern. Der Gegenverkehr war entsprechend. Einheimische fehlten fast ganz. Es war gut, dass ich durch unser kürzlich absolviertes halbes Jahr in Südafrika geübt war im hautnahe Kontakt mit Fremden. Fast alle waren ordentlich bis gut gekleidet, teilweise etwas zu sommerlich. Ich fühlte mich zwar als fremder Außenseiter, aber nicht unsicher oder gar bedroht.
Dann kam der Bahnübergang, an dem wir ziemlich lange warten mussten. Die Menge wuchs von Minute zu Minute. Es war eine entspannte Atmosphäre, und ich konnte nun auch Gruppen und Familie beobachten. Die meisten wirkten gelöst und fast fröhlich.
Auf dem letzten Abschnitt des Weges durch ein Waldstück brach vor mir in einer Gruppe von jungen Männern Streit aus und sofort mischten sich einige ein und trennten den aggressiven Mann von den übrigen.
An der Bushaltestelle vor der LAB standen rund 25 Menschen. Ich hatte eine kleine Mädchentasche mit, die ich verschenken wollte. Hier stand u.a. ein Ehepaar mit ca. 5-jähriger Tochter, der ich die Tasche gab. Sie vergewisserte sich bei den Eltern, ob sie die Tasche nehmen dürfte und strahlte dann. Als ich wenig später den Rückweg antrat, standen sie immer noch da und grüßten mich lachend. Das Mädchen hatte stolz das Täschchen umgehängt.
Zwischendurch hatte ich bei der Ecclesia - Gemeinde (gegenüber von der LAB) reingeschaut und gelesen, dass dort donnerstags nachmittags immer ein .Kaffee angeboten würde.
Dorthin fuhr ich ein paar Tage später. Im Gruppenraum standen etwa 7 Tische, an denen jeweils 6-8 Menschen saßen: Flüchtlinge und Mitarbeiter der Ecclesia. Sie identifizierten mich als möglichen Helfer und schickten mich an einen Tisch, an dem 2 Männer und 2 Jungen saßen. Kein Deutsch, kein Englisch, kein Französisch. Ich versuchte ein Gespräch. Es war schwierig. Der 8-Jährige begriff schnell, dass ich offenbar nach dem Herkunftsland gefragt hatte und sagte "Aleppo". Aber bei dem Erfolgserlebnis blieb es dann auch für mich. Ich war hilflos.
Plötzlich hörte ich am Nachbartisch jemanden auf Englisch reden. Ich wechselte an den Tisch. Dort saßen drei Männer ca. 25-jährig. Einer sprach auch weder Deutsch noch Englisch. Die anderen beiden waren fit in Englisch. Einer erzählte mir, er sei Syrer und Informatiker, seine Frau Ärztin in Aleppo. Er interessierte sich für die Bibel. Er würde nächste Woche nach Großburgwedel zu einer festen Bleibe kommen. Wir tauschten unsere Email - Adressen aus. Drei Tage später bekam ich von ihm eine Email mit seiner neuen Adresse. Daraufhin suchte ich das Pfarramt heraus, rief dort an und sandte seine Email dorthin weiter. Die Pfarrerin wollte meine Informationen an die Gruppe aus der Gemeinde weitergeben, die sich für Flüchtlinge einsetzt.
Der andere Tischgenosse sprach deutsch und englisch mit mir. Er habe 4 Jahre in Frankreich studiert. Es gefalle ihm dort nicht mehr wegen zunehmender Fremdenfeindlichkeit; darum sei er jetzt nach Deutschland gekommen.
Eine wahrhaft bunte Mischung von Menschen, die in keine Schublade passten und viele Fragen aufwarfen.

Aphoristische Nachbemerkungen:

UND DAS PASST NICHT ZU MEINEM SELBSTBILD: Wir gehen am Sonntagnachmittag im Theaterpark spazieren und treffen auch einige (vermutlich ) Flüchtlinge, die dort den Spätherbst genossen. Ich aber dachte: „Auch unser Park gehört mir nicht mehr.“

AUCH DAS WILL ICH NICHT WAHRHABEN: Bekannte sammeln wochenlang Bücher und Spielsachen für die Spielstube in der LAB. Die beiden Frauen kommen in die LAB und bitten 2 dort stehende Männer um Hilfe beim Tragen. Die tun das bereitwillig. Als sie zum Wagen zurückkommen, ist der leer geräumt. Alle Spenden sind verschwunden.

AUCH DAS PASST NICHT ZU DEM BILD, WAS ICH MIR GEMACHT HABE:
Letzte Woche stand in der ZEIT:
Nur ca. 10 % der syrischen Flüchtlinge sind Akademiker oder Abiturienten. (Aus den Medien hatte ich bisher entnommen, dass fast die Hälfte Gebildete oder Fachkräfte sind. ) Die dortigen Abschlüsse sind nicht mit unseren vergleichbar. Und die Abiturienten hinken im Vergleich mit unserem ABI rund 3 Jahre hinterher.. 2/3 der Flüchtlinge haben keinen unserem Hauptschulabschluss vergleichbaren Abschluss. (Pisa-entsprechend) Auch hier gilt: Etwa 3-4 Jahre
Rückstand. D.h. sie sind selbst wenn sie die Deutsche Sprache erlernt haben, nicht unbedingt fähig, eine „normale“ deutsche Ausbildung ( mit großen theoretischen Anteilen )zu absolvieren. 80 % aller Flüchtlinge aus den letzten Jahren, die eine Lehre begonnen, haben, brechen sie vorzeitig ab.

Wenn die Medien solche Dinge verschweigen (was ja zunächst ehrenwert ist) dürfen wir uns nicht wundern über den Zulauf bei Pegida und AfD.

Ein syrischer Christ kommt jeden Sonntag zum Gottesdienst nach St. Petri. Er will studieren und ist noch bei den Sprachstudien. Er hat Kontakt zu einigen aus der Gemeinde und wird auch unterstützt.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, was Geraldine Chaplin so ausdrückt: Die Wahrheit ist selten so ODER so, sondern meistens So UND so.
Tröstlich ist auch: Mit jedem Gespräch haben wir eine Schublade weniger.

PS. Wieso hört man gar nichts vom Diakonische Werk!? - Aber immerhin von der Dankeskirche vor Ort.




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