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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 138 - Dezember 2015


Die Ostdenkschrift
Ein Beitrag der ev. Kirche zu einer Kultur des Friedens

Vortrag auf Einladung des Friedenszentrums am 17. September 2015 in der „Waage“
von Dietrich Kuessner
(Download als pdf hier)

Es wird als Literaturhinweis zur Einsicht herumgegeben Martin Greschat „Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005)“ 2010 als Beitrag aus der Mitte, Hans Prolingheuer „Kleine politische Kirchengeschichte“ 1984 als Beitrag von links, ein Exemplar der Ostdenkschrift.
Frau Gabriele Canstein begrüßte für das Friedenszentrum Anwesenden und den Referenten und leitete die Aussprache.


Liebe Freundinnen und Freunde des Friedenszentrums und der Friedensarbeit hier vor Ort, es ist keine Besonderheit, dass in dieser Vortragsreihe „Wege zu einer Kultur des Friedens“ auch kirchliche Mitarbeiter auf Einladung des Friedenszentrum referiert haben, so z.B. Harald Welge über Konzepte der Friedensethik. Klaus Burkhardt über Medien und Jugendgewalt, Goswin Clemen über die Landlosenbewegung in Brasilien.
In der letzten Zeit ist meinem Eindruck nach die Kirche als gesellschaftliche Tatsache immer mehr in den Hintergrund getreten. Das fiel mir besonders beim Vortrag des Hamburger Referenten über den Ostermarsch auf, wo über die Rolle der Kirche kein Sterbenswörtchen verloren wurde. Mein Erlebnis von den Ostermärschen seit 1964 ist geprägt von dem Bündnischarakter des Ostermarsches. Da marschierten alle Denkrichtungen nebeneinander her: Humanistische Union, Kommunisten, Christen, Gewerkschaftler und kirchendistanzierte Liberale. Das gemeinsame Ziel „Gegen die Militarisierung der westdeutschen Gesellschaft“ ließ ideologische Gegensätze in den Hintergrund treten.
Dieser Bündnischarakter eines Miteinander auf gleicher Augenhöhe darf dem Friedenszentrum nicht verloren gehen. Ein Artikel in „Braunschweig konkret“ im September der Linken von Dr. Erwin Petzi über „Der Ersten Weltkrieg und die christlichen Kirchen“ wirkt auf mich ärgerlich, weil darin zum wiederholten Male über die kriegsfördernde und den Krieg rechtfertigende Rolle der ev. Kirche berichtet wird, obwohl dazu gerade aus dem Raum der Kirche zahlreiche schriftliche Arbeiten vorliegen.

Beiträge der ev. Kirche zu einer Kultur des Friedens sehe ich auf folgenden Themenfeldern: in der Frage einer Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, in der Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit seinen östlichen Nachbarn, in der Beseitigung der Apartheid in Süd-Afrika, bei der Installierung von Atomkraftwerken in der Bundesrepublik und bei sexualethischen Fragen. Aus Anlass des 50. Jahrestages der Veröffentlichung der sog. Ostdenkschrift im Oktober beschränke ich mich heute auf das zweitgenannte Themenfeld: die Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit seinen östlichen Nachbarn. Dieser, wie alle anderen Beiträge, waren in der Kirche heftigst umstritten.
Auf denjenigen, der das Verhalten der christlichen Kirchen im vorigen Jahrhundert während der beiden Weltkriege zu Recht als skandalös oder als „Bankerott der Christenheit“ versteht, mag das heutige Thema irritierend wirken. Aber wo viel Schatten ist, muss auch irgendwo Licht sein.

Der Vortrag gliedert sich in drei Teile:
1. Beiträge der ev. Kirche zu einer Friedenspolitik bis 1965,
2. Die Ostdenkschrift 1965,
3. das stürmische Jahr der Ratifizierung der Ostverträge 1972.

Die von mir genannten Beiträge haben als roten Faden einen deutlichen „antifaschistischen“ Charakter, stehen jedenfalls im Zusammenhang mit einer entschlossenen ablehnenden Haltung zum Nationalsozialismus.
Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung hatte sich in zwölf Jahren nicht von Hitler und seiner Vernichtungspolitik trennen können. Hitlerdeutschland musste militärisch von außen besiegt werden. Aber auch nach 1945 wollte sich die deutsche Bevölkerung den Blick zurück nicht vermiesen lassen. Das mit den Juden hätte der Führer lassen sollen, aber sonst fanden sehr viele den Führerstaat nicht so schlecht.
Jedoch: ohne einen klaren Blick auf Verbrechen und allgemein geduldeten Staatsterror im Nazireich war kein Weg zum Frieden, zu einer Kultur des Friedens möglich. Es war eine Gruppe evangelischer Pfarrer und Persönlichkeiten, die im Blick zurück öffentlich erklärte: „Wir sind in die Irre gegangen..“ Vier Mal beginnt das Darmstädter Wort von 1947 mit dieser Einsicht: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, eine christliche Front aufzurichten, eine Front der Guten gegen die Bösen, der Gerechtem gegen die Ungerechten im politischen Leben bilden zu müssen...Wir haben die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen..“. Gibt es Ärzte, Lehrer, Juristen, die damals Ähnliches formuliert haben?
Diese Einsicht in die Verbrechen des Hitlerstaats war der westdeutschen Bevölkerung außerdem durch den Kalten Krieg verbaut. Die Siegermächte standen sich blockartig und hochgerüstet gegenüber und das ehemalige Deutsche Reich war auf die beiden Blöcke aufgeteilt und zwischen sie eingeklemmt. Die 1948/49 anhaltende Berlin Blockade war ein erstes Kräftemessen. Das Kriegsrisiko war sehr hoch.
Da tagte im April 1950 die Synode der EKD, jedoch nicht im Westen, in Bonn, Frankfurt, Hannover oder München, sondern im Osten und dort, wo er am meisten zerstört war, in Berlin. Nicht in Westberlin, sondern in Berlin Ost, in Weißensee, „gleichsam am Wundrand unserer politischen Aufspaltung“. Der Ort symbolisiere nicht nur jene bedrohliche Unsicherheit der deutschen Lage, die mindestens theoretisch jeden Augenblick in eine Katastrophe umschlagen könne, sondern signalisiere die bedrohliche Lage unseres Kontinentes und der Welt überhaupt,“ so Bischof Lilje. (Tagungsbericht 85f) Es drohte ein dritter Weltkrieg.
In Berlin Weissensee besaß die Kirche ein Ausbildungsstätte, die die 100 Synodalen aus den 20 Landeskirchen aufnahm. Ein Drittel von ihnen waren aus den Landeskirchen in der Ostzone.
Der Tagungsort Weißensee war eine politische Entscheidung. Die ev. Kirche wollte sich vom Westen nicht und nicht vom Osten vereinnahmen lassen. Sie stand neutral zwischen den Fronten.
Sie machte die Weltlage zum Tagungsthema und fragte: „Was kann die Kirche für den Frieden tun?“
Das Thema hätte angesichts des strammen historischen Materialismus und erklärten Atheismus in der Ostzone auch lauten können: Was kann die Kirche für den Glauben tun? Die Synodalen fragten dagegen, was die Kirche für den Frieden tun könne und meinten nicht den persönlichen Seelenfrieden des Frommen, sondern sie appellierten an die beiden Großmächte sowie an die deutschen Regierungen in Pankow und Bonn, „sich nicht in den Wahn treiben zu lassen, als ob ein Krieg eine Lösung und Wendung unserer Not bringen könnte“... „dass sie nicht in einen Krieg willigen, in dem Deutsche auf Deutsche schießen..“ „Wir legen es jedem auf das Gewissen zu prüfen, ob er im Falle eines solchen Krieges eine Waffe in die Hand nehmen darf..“ (KJ 1950 9) In dieser eindeutigen Weise hatte sich die Kirche bisher noch nicht für die Kriegsdienstverweigerung ausgesprochen. „Wer um des Gewissens willen den Kriegsdienst verweigert, soll der Fürsprache und der Fürbitte der Kirche gewiss sein.“

Aber der Krieg ging los: im Juni 1950 eröffneten die USA und China auf koreanischem Boden einen mehrjährigen Stellvertreterkrieg. Der Koreakrieg wurde für die westdeutsche Regierung die Hauptbegründung für eine „Wiederbewaffnung“. Worauf mochte das verdächtige Wörtchen „wieder“ verweisen? Die Wiederbewaffnung löste eine heftige Kontroverse aus, in deren Verlauf der CDU Innenminister Gustav Heinemann im November 1950 aus dem Kabinett Adenauer ausschied. Sein Ausscheiden war Protest, und ein Signal für eine andere Politik, ein Signal gegen den Krieg.

Der Rat der EKD hatte sich schon bald nach Ausbruch des Koreakrieges im Sommer 1950 erneut gegen eine Remilitarisierung in der Ostzone und in den Westzonen gewandt. „Einer Remilitarisierung Deutschlands können wir das Wort nicht reden, weder was den Westen noch was den Osten anlangt.“ Und er wiederholte die Möglichkeit, den Dienst mit der Waffe verweigern zu dürfen. (KJ 1950 160).

Aber Kanzler Adenauer hatte bereits die Aufstellung militärischer Verbände den Westalliierten zugesagt. Als der hessische Kirchenpräsident Martin Niemöller (1892-1984), der seit 1938 bis 1945 in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert gewesen war, das Vorgehen Adenauers in einem sehr scharfen Ton öffentlich machte, bestritt Adenauer die Behauptungen Niemöllers im Rundfunk und erklärte in einer Kabinettssitzung den Kirchenpräsidenten für geisteskrank, der „nackten Landesverrat“ geübt habe und eigentlich hinter Schloss und Riegel gehöre.
Das Schlagwort der anwachsenden linken Opposition aus Gewerkschaftlern und Teilen der SPD lautete: „ohne mich“, keine Remilitarisierung. Es schien bedrohlich, als sich Niemöller mit dieser Opposition zu informellen Treffen verabredete.
Aber die Initiative Niemöllers blieb in der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik eine Minderheitenposition. Die Mehrheit wurde repräsentiert von Hermann Ehlers (1904-1954), Jurist, zur ns. Zeit Mitglied der BK, Oberkirchenrat in der Oldenburgischen Landeskirche, Mitbegründer des einflussreichen evangelischen Arbeitskreises der CDU/CDU und Präsident des Bundestages. Er zog im Hintergrund die Fäden für eine regierungskonforme Position, die von einem anderen juristischen Oberkirchenrat, Eugen Gerstenmaier, (der nach dem frühen Tod von Ehlers - er starb mit 50 Jahren - sein Nachfolger wurde,) so formuliert wurde: die Freiheit der Bundesrepublik dürfe keinesfalls der Einheit geopfert werden.

Die Adenauersche Politik der Westbindung veränderte die Demarkationslinie zwischen den Zonen zu einer unüberwindlichen Grenze. Das war 1952. Ein Überschreiten war bis dahin immer noch möglich, jetzt wurden Stacheldraht und Minenfelder angelegt. Die Teilung war perfekt.
Vergeblich suchte man nach verbliebenen gemeinsamen Organen. Die beiden deutschen Staaten standen sich wie Parallelwelten schroff feindlich gegenüber. Die einzige verbliebene „gesamtdeutsche Klammer“, so nannte man das damals – war: die evangelische Kirche. In der Synode der EKD trafen sich nach wie vor Delegierte aus den Landeskirchen in der Ostzone und den drei Westzonen. Der zwölfköpfige Rat der EKD bestand ebenfalls aus Mitgliedern aus Ost und West. Die Kirchentage wurden zu enorm besuchten gesamtdeutschen Veranstaltungen. In Berlin (Ost und West) kamen 1951 200.000, zur Schlussversammlung, beim Kirchentag in Leipzig 1954 fanden sich 650.000 Gemeindemitglieder aus allen vier Zonen zur Schlussversammlung. Die geistige Füllung dieser gesamtdeutschen Klammer waren das gemeinsame Gesangbuch, die Herrnhuter Losungen, das Kirchenjahr, die sonntäglichen Lesungen – man darf nüchtern feststellen: für die ev. Kirche gab es ideologisch keine Grenze. 1957 wurden jedoch für den Kirchentag in Erfurt keine Einreiseerlaubnisse mehr erteilt.
In dieser Zeit endete auch die eingangs erwähnte Position der Neutralität zwischen den Blöcken. Der Ratsvorsitzende Otto Dibelius und Konrad Adenauer, sowie Franz Joseph Strauss und OLKR Heinz Brunotte unterzeichneten am 22. Februar 1957 einen Militärseelsorgevertrag, ohne die Synode zu informieren. Das war kein Beitrag zum Frieden, viel schlimmer: ein Beitrag zur moralischen Unterstützung der Moral der Truppe. War eine solche Unterstützung noch möglich beim Einsatz westdeutscher Soldaten an Atomwaffen? Der Berliner Theologieprofessor Helmut Gollwitzer nannte in seiner Broschüre „Die Christen und die Atomwaffen“ den Einsatz von Atomwaffen einen Massenmord und hielt eine Beteiligung der Kirche für unverantwortlich. Ende April 1958 diskutierte die EKD Synode in Ost-Berlin über diese Frage und war vollständig gespalten. Eine Gruppe befürwortete einen Einsatz von Atomwaffen „um der Nächstenliebe willen“, die andere lehnte einen Einsatz ohne wenn und aber ab. Ohne Abstimmung ging die Synode auseinander. Das war wiederum kein Beitrag zu einer Kultur des Friedens, sondern ein Zeichen der Ohnmacht der Kirche. Diesen Gegensatz spitzte der Kirchenpräsident Martin Niemöller bei einer Kundgebung der Gruppe „Christen gegen Atomgefahr“ am 25. Januar 1959 in Kassel noch zu und erklärte: „Darum ist heute die Ausbildung zum Soldaten..die Hohe Schule für Berufsverbrecher. Mütter und Väter sollen wissen, was sie tun, wenn sie ihren Sohn Soldat werden lassen. Sie lassen ihn zum Verbrecher ausbilden.“ Verteidigungsminister Strauss verklagte den Kirchenpräsidenten, aber das Verfahren wird eingestellt.

Was die Kriegsdienstverweigerung betraf, blieb es nicht bei verbalen Beteuerungen. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen richteten Beratungsstellen ein, z.B. VVN, die Gewerkschaften, auch die Evangelische Kirche. 1957 wurde die Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Bremen gegründet, eine ursprünglich kirchliche Einrichtung, dessen Geschäftsführer später (ab 1971) jahrzehntelang der Bremer Pfarrer Ulrich Finckh, Jahrgang 1927, war (bis 2003).
Das ist eine Erfolgsgeschichte, denn die Kriegsdienstverweigerer nahmen langsam aber kontinuierlich von Jahr zu Jahr zu, von fast 6.000 1967 auf ca 12.000 1968, 33.791 1972.
In allen Landeskirchen wurden Pfarrer zur Beratung der Antragsteller abgeordnet. Die Pfarrer gingen oft in die mündlichen Verhandlungen als Beistand mit hinein, in denen das Gewissen des Antragstellers geprüft werden sollte, oft mit abstrusen und grotesken Fragen. Dieser Beratungsdienst war zermürbend und aufreibend. Das Gewissen der einberufenen künftigen Soldaten blieb ungeprüft.
Im Jahr 1984 erhielt Ulrich Finckh den Fritz Bauer Preis der Humanistischen Union. Die Beratungsstelle – ein Beitrag zu einer Kultur des Friedens.
Seit 1964 gab es auch in der DDR die Möglichkeit, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Sie wurden sog. „Bausoldaten“. In keinem anderen sozialistischen Land gab es eine solche Möglichkeit. Es gab auch keine Gewissensprüfung, aber die Verweigerer wurden oft schikaniert, sie wurden auf gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze in der chemischen Industrie eingesetzt, ein Studienplatz wurde sehr vielen verweigert. Die Quäker und die ev. Kirche waren am Zustandekommen dieses Einrichtung beteiligt. Ein Kreis Prenzlauer Bausoldaten wandte sich beunruhigt über die wachsende Aufrüstung in einem Offenen Brief „An alle Christen“. Die Militarisierung nehme im erschreckendem Maße zu durch die vormilitärische Ausbildung, durch die Erziehung zum Haß in der Schule. Der 10. Gründungstag der Nationalen Volksarmee sei kein Tag zur Freude, sondern Anlass zur Buße, dass wir Christen es nicht verstanden haben, die Wiederaufrüstung in beiden deutsche Staaten zu verhindern.“ Der Aufruf stammte vom März 1966: ein selbstkritischer Beitrag zu einer Kultur des Friedens. Die Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR erklärte den waffenlosen Dienst als das deutlichere Zeichen für den Frieden. In der Bundesrepublik galt dagegen lange darüber hinaus der Dienst mit und ohne Waffe als gleichwertig, zeitweise wurde sogar diese Gleichwertigkeit bestritten. In der DDR bildeten einige Bausoldaten nach Beendigung ihrer Dienstzeit Diskussionsgruppen, die später einen Kern der kirchlichen Friedensgruppen bildeten, aus denen u.v. a: die friedliche Revolution entstanden ist. Insgesamt gab es in DDR ca 70.000 Bausoldaten.

Neben der Begleitung von Kriegsdienstverweigerern entstand 1958 auf Beschluss der Synode der EKD die sog. „Aktion Sühnezeichen.“ Es war eine Initiative von Lothar Kreyssig (1898-1986), einem Juristen, der sich, von Beruf Amtsrichter, unmissverständlich gegen die Nazis ausgesprochen hatte, den ranghohen SS Obergruppenführer Philipp Bouhler, Beauftragten Hitlers für die Euthanasiemorde, verklagte, erst 1942 als Amtsrichter in den Ruhestand versetzt wurde und nach 1945 zahlreiche Ämter in der Ev. Kirche übernahm.
„Im Bewusstsein der Folgen des Nationalsozialismus, die immer noch spürbar sind und nur durch einen intensiven Dialog überwunden werden können, setzt sich die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste für die Verständigung zwischen den Generationen, Kulturen, Religionen und Völkern ein. Verwurzelt im christlichen Glauben bemühen sich ASF dabei um die Zusammenarbeit mit allen, die sich für eine friedlichere und gerechtere Welt einsetzen.
Dialog, Verständigung, Zusammenarbeit, Versöhnung war der Akkord dieser Initiative, die allmählich an Boden gewann. Zahlreiche Jugendgruppen arbeiteten in Israel, Frankreich, Sowjetunion, Holland, also in den Staaten, die von Deutschland im 2. Weltkrieg überfallen worden waren, an sozialen Projekten und leisteten einen beachtlichen Beitrag zu einer Kultur des Friedens. Die Aktion wurde keine Massenbewegung, auch nicht in den Landeskirchen, aber sie hinterließ bei den Teilnehmern die Biografie prägende Spuren. Sie wurde fortgesetzt durch mehrwöchige Informations- und Arbeitsfahrten, die von der Evangelischen Jugend und von Schulpfarrern aus unserer Landeskirche mit Schülern und Jugendlichen nach Auschwitz, Treblinka, Stutthof und andere Vernichtungsorten unternommen wurden.

2. Die Ostdenkschrift
Neue Überlegungen zur Überwindung des fest betonierten status quo gingen von einem Juraprofessor der Universität Tübingen, Ludwig Raiser, aus. Er veröffentlichte im Februar 1962 zusammen mit den Atomphysikern Werner Heisenberg und Carl Friedrich v. Weizsäcker, dem Pädagogen Georg Picht, dem Intendanten des Westdeutschen Rundfunkes Klaus von Bismarck und anderen das sog. Tübinger Memorandum. Das Tübinger Memorandum wurde als Dokument aus der Feder protestantischer Christen empfunden. Darin forderten sie die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Bundesregierung und den Verzicht auf eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr.
„Wir sagen nichts Neues, wenn wir die Ansicht aussprechen, dass das nationale Anliegen der Wiedervereinigung in Freiheit heute nicht durchgesetzt werden kann, und dass wir den Souveränitätsanspruch auf die Gebiete jenseits der Oder Neiße Gebiete werden verloren geben müssen.“
Das Memorandum wurde rasch publik durch die wohlwollende Veröffentlichung in der ZEIT, die als protestantisches Gegenstück zum katholischen Rheinischen Merkur und dem Bayernkurier galt.
Aber es wurde zum größtenteils wütend abgelehnt. Es galt als Verzicht deutscher Gebiete und als Vorwegnahme eines immer noch erwarteten deutschen Friedensvertrages, „Verzicht“ wurde zum Kampfwort der westdeutschen Rechten, die immer noch an den Grenzen von 1937 festhielten.
Egon Bahr bezeichnete in einem Vortrag in Bonn 2006 die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als den ersten Schritt zur deutschen Einheit. Danach wurzelt die deutsche Einheit unter vielem anderen in diesem Beitrag der evangelischen Kirche, im Tübinger Memorandum von 1962.

Ein Jahr nach Erscheinen des Memorandums schlug auch ein SPD Politiker eine grundlegende Änderung der Ostpolitik vor, nämlich, wie er es nannte, durch einen „Wandel durch Annäherung“. Diese damals gewagte These trug er nicht in einem Parteigremium oder Parteivorstand vor, weil er dort auf kein akzeptables Echo rechnete, sondern 1963 in der Evangelischen Akademie im bayrischen Tutzing. Die ev. Akademien waren in den 60er Jahren oftmals Vorreiter für reformerische Ansätze in Kirche und Gesellschaft gewesen. Der Verfasser, Egon Bahr, Jahrgang 1922, war damals 41 Jahre alt und rechte Hand des Regierenden Bürgermeister in Berlin, Willy Brandt, der ihn gegen innerparteiliche Attacken deckte. Das war nötig, denn Herbert Wehner nannte den Vortrag „Bahren Unsinn“.
Eine Politik des „Wandels durch Annäherung“ war die Gegenthese zur der von der CDU praktizierten „Politik der Stärke“ und nahm mit den Begriffen „Dialog“, „Verständigung“ unausgesprochen die Ziele der Aktion Sühnezeichen auf.
Die Scharfmacher, die Falken, auf beiden Seiten hofften, durch jeweilige vermehrte Rüstung die fest betonierten Positionen beider Blöcke gewaltsam aufbrechen zu können .

Das Tübinger Memorandum war keine kirchliche Eintagsfliege. Zwei Arbeitskreise der ev. Kirche formulierten zu diesem Thema zwei gegensätzliche Standpunkte. Eine Lübecker Arbeitsgruppe betonte in ihrem Papier das Recht auf Heimat, und verstand die Heimat als eine Gottesgabe wie Ehe und Staat und beharrte auf der Notwendigkeit, die Vertreibung der Deutschen als Unrecht anzuerkennen.
Die andere, die Bielefelder Gruppe, stellte den Begriff der Versöhnung in den Mittelpunkt und empfahl eine Anerkennung der Oder-Neiße Linie. „Die Frage nach der Heimat, nach dem Lebensrecht der einzelnen wie der Völker, nach Schuld und Krieg, nach Frieden und Völkersversöhnung müssen im Licht des Evangeliums geklärt werden.“

Der mit dem Tübinger Memorandum eingeschlagene Weg wurde nun ganz offiziell von der Kirche aufgenommen. Die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, in der Mitglieder der drei Parteien vertreten waren sowie Historiker und Soziologen, gab eine Denkschrift heraus, die vor 50 Jahren im Oktober 1965 veröffentlicht wurde. Vorsitzender jener Kammer war Prof. Ludwig Raiser, der Initiator des Tübinger Memorandums. Die Denkschrift gliedert sich in sechs Abschnitte: „Die Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche“ (Teil II), Zur gegenwärtigen Lage in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße- Linie (III), Völkerrechtliche Fragen (IV), Theologische und ethische Erwägungen (V) und die deutschen Ostgrenzen als politische Aufgabe (VI)
In der Denkschrift, genauer Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“, wandte sich die Kirche vor allem an die Vertriebenen in der Bundesrepublik, bezeichnete ausdrücklich die Aussiedlung aus der ostdeutschen Heimat als Völkerrechtswidrigkeit, und würdigte vor allem die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft. Die Denkschrift machte zugleich klar, dass ein Recht auf Heimat nicht bedeuten könnte, dass die inzwischen in den Ostgebieten ansässigen Polen ihrerseits nun vertrieben werden dürften. Die sog. Ostdenkschrift war im Grunde eine Vertriebenendenkschrift. Am Ende der Denkschrift wird als zentraler Begriff der der Versöhnung genannt.
„Die ethischen Erwägungen führen zu der notwendigen Konsequenz, in klarer Erkenntnis der gegenseitigen Schuld und ohne Sanktionierung von Unrecht, das nicht sanktioniert werden darf, das Verhältnis der Völker, namentlich das zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk, neu zu ordnen und Begriff und Sache der Versöhnung auch in das politische Handeln als einen unentbehrlichen Faktor einzuführen“ (41).

Die Diskussion dieser Vertriebendenkschrift in der Öffentlichkeit verlegte sich auf die Frage der Oder-Neiße Grenze und die unter polnischer Verwaltung stehenden ehemals deutschen Ostprovinzen. Die Braunschweiger Zeitung veröffentlichte die Denkschrift unter der Überschrift „Proteste der Vertriebenen gegen Kirchendenkschrift. EKD plädiert für Lebensrecht des polnischen Volkes“ (BZ 18.10.65). Der Leser sollte die Nachricht durch die Brille der Vertriebenenverbände lesen und die lautete: „die Denkschrift sei „ein eklatantes Beispiel für den Dilletantismus, mit dem in manchen Kreisen der Bundesrepublik Politik betrieben wird.“ Die Denkschrift sei „ein Missbrauch kirchlicher Autorität“. Der Vorsitzende der Vertriebenverbände, Dr. Wenzel Jaksch, Mitglied der SPD, stellte lakonisch fest, die Denkschrift arbeite dem Kommunismus in die Hände. Den Ratsvorsitzenden Bischof Kurt Scharf, erreichte eine Flut von Leserzuschriften, die einen Einblick in die Gefühlslage der Vertriebenen vermittelt. „Ich bin Heimatvertriebener aus Schlesien“, schrieb ein Architekt, „und warte seit 20 Jahren auf die Rückkehr in die Heimat, die uns Herr Dr. Adenauer schon vor vier Jahren versprochen hat“, und ein anderer Schlesier: „Zwanzig Jahre lang werden wir schon vom Staat, von der Regierung und vom Bundestag zu Geduld und Ausharren und Vertrauen ermahnt. Und es wird uns klar gemacht, dass die Schicksalsfrage unserer Heimat vom Friedensvertrag mit Deutschland abhängt. Das hängt uns schon zum Halse heraus, denn wir wollen Taten sehen und in die Heimat zurückgeführt werden. Dabei zu helfen wäre m.E. die Aufgabe der ev. Kirche, denn Schlesien war doch zu 2/3 evangelisch.“
Die heftigen Reaktionen der Vertriebenenverbände in Niedersachsen waren begreiflich. Ihr parteipolitischer Einfluss als BHE, Bund für Heimatvertriebene und Entrechtete, war im Niedersächsischen Landtag von 15 % der Stimmen und 21 Sitzen im Jahr 1951 auf 8,3 % mit 13 Sitzen 1959 zurückgegangen. Die Bestreitung eines Rechtes auf Heimat und gar die Behauptung eines Lebensrechtes des polnischen Volkes in den früheren deutschen Ostprovinzen nahmen dem BHE ein wesentliches Argument für die parteipolitische Agitation und Zukunft.

Die Vertriebenen luden ihre maßlose Enttäuschung über die Regierungspolitik bei der evangelischen Kirche ab: „Der Inhalt und Sinn der Denkschrift setzt ja der Gemeinheit die Krone auf. Der Sinn der Schmutz-Denkschrift íst ja eine ganz schwere und ungehörige Beleidigung der Toten beider Weltkriege und der Vertriebenen nach beiden Weltkriegen“. Ein Berliner: „Betr. ihren Hochverrat der Oder-Neiße Grenze. Ich kehre einer solchen landes- und volksverräterischen Kirche den Rücken.“
„Als evangelischer Christ und Patronatsherr meiner heimatlichen Kirche, aus altem Hugenottengeschlecht stammend, sehe ich mich veranlasst, zur Denkschrift Stellung zu nehmen. Wir verzichten auf keinen einzigen Quadratmeter und fordern den Rücktritt des Rates“.
In dem Kirchenarchiv der Propstei Helmstedt sind die Ausbrüche gesammelt, die sich in den Zeitungen öffentlich austobten. Bei Präses Wilm und den Bischöfen Scharf und Lilje trafen folgende wüste Drohungen ein: „Du Lump, du wirst wie ein Sieb durchlöchert werden. Die Pistole ist schon geladen. Wir bringen dich um“. „Wahrscheinlich waren Sie bei Ihrer Stellungnahme wieder einmal betrunken. Man muss als evangelischer Christ befürchten, dass Sie Gesindel von Landesverrätern unsere Kirche zu Grunde richten. Sie gehören an den Galgen statt auf die Kanzel“. „Nummerieren Sie Ihre Knochen, damit der behandelnde Arzt weiß, wohin sie gehören. Sie sind das Bundesekel Nummero eins.“ „Setzen Sie noch einmal solche politischen Empfehlungen in westliche Zeitungen, dann knallt es, aber an Ihren Haustüren.“ „Eines Tages werdet Ihr von den Leuten, denen ihr im Namen des Christentums ein Drittel des Landes zusprecht, aufgehängt und erschossen werden.“
Diese Reaktion ist bis heute nicht durchgearbeitet und veröffentlicht worden, weil sie den schwarz- braunen sumpfigen Untergrund der Adenauergesellschaft offen legen würde. Eine „Pathologie des Hasses“, so Bischof Lilje, überschwemmte die Befürworter.
„Wir stechen mit dieser Denkschrift eine Eiterbeule auf, die unsere Innen –und Außenpolitik vergiftet“, hatte der Vorsitzende Raiser geschrieben. Im Vorwort hatte Präses Scharf als Motiv von der wachsenden Sorge der Kirche geschrieben, „dass die Wunden des Zweiten Weltkrieges im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn 20 Jahre nach seinem Ende noch kaum angefangen haben zu verheilen.“. Auch in der Kirche würde oft mit Erbitterung über das Vertreibungsproblem gestritten. Die Lösung dieses Problems stehe in engem Zusammenhang mit der Aufgabe, die notvolle Spaltung Deutschlands zu überwinden“, Die Überwindung der Spaltung 1989 ist ohne diese Denkschrift nicht vorstellbar, auch wenn dies längst vergessen ist.

Das Jahr 1965 war ein Aufbruchjahr, besonders für die katholische Kirche. In Rom ging das 2. Vatikanischen Konzils zu Ende und die Kardinäle aus Polen richteten einen Brief an ihre deutschen Kollegen, in dem sie diese zur Tausendjahrfeier 1966 nach Polen einluden. In diesem Brief nehmen sie am Schluss sogar Bezug auf die Denkschrift. „Überbringen Sie auch, wir bítten darum, unsere Grüße und Dank den deutschen evangelischen Brüdern, die sich mit uns und mit Ihnen abmühen, Lösungen für unsere Schwierigkeiten zu finden.“ Die Einbeziehung der evangelischen Kirche ist eine ganz ungewöhnliche Ansprache. „In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Und wenn Sie deutsche Bischöfe und Konzilsväter unsre ausgestreckten Hände brüderlich fassen, dann erst können wir wohl mit ruhigem Gewissen in Polen auf ganz christliche Art unser Millenium feiern. Wir laden Sie dazu herzlichst nach Polen ein.“ 18. November 1965 (Rom).
Hinter der frommen Formulierung steckte eine Sensation: Polen bitten Deutsche um Vergebung? Wofür? Etwa für die Aussiedlungen 1946/47 ? Kaum zu Hause löste der Brief in Polen Empörung und heftigsten Widerspruch aus.

Das Klima der Entspannung wurde durch die Landung von einer halben Million US Solldaten in Vietnam, ab 1965, die Napalmeinsätze, die sog. chemische Entlaubung durch Herbizide und massierte Hubschrauben- und schwere Luftwaffenangriffe in ganz Vietnam drastisch gestört. Die Studentenunruhen, an denen die evangelischen Studentengemeinden einen erheblichen Anteil hatten, in der Bundesrepublik und Westberlin wie in der ganzen Welt, haben hierin ihren Auslöser. Die andere Störung erfolgte durch den Einmarsch der Truppen der Warschauer Paktes in die Tschecheslowakei und die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings im Sommer 1968.

In der Bundesrepublik bedurfte es zur Verwirklichung der Vorstellungen der Ostdenkschrift eines Machtwechsels in Bonn. So bezeichnete Gustav Heinemann seine Wahl zum Bundespräsidenten im Frühjahr 1969 in Berlin. Die Wahl des sozialdemokratischen Justizministers Gustav Heinermann zum Bundespräsidenten im Mai 1969 war nicht unumstritten. Die CDU hatte den Verteidigungsminister Gerhard Schröder (1919-1989) aufgeboten, der allerdings nur mit den Stimmen der NPD Abgeordneten eine Mehrheit erhalten hätte. Heinemann wurde im dritten Wahlgang mit 512 Stimmen gegen 506 für Schröder gewählt. Das bisher knappste Ergebnis bei einer Bundespräsidentenwahl. Heinemann war ein überzeugter evangelischer Christ reformierter Prägung, hatte in der Zeit des Nationalsozialismus auf Seiten der Bekennenden Kirche gestanden und mit anderen 1945 die Stuttgarter Erklärung unterzeichnet hatte, in der es hieß: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden.“ Heinemann gehörte dem Rat der EKD, also dem inneren Entscheidungsgremium der ev. Kirche, von 1945-1967 an, nahm an den Weltkirchenkonferenzen in Amsterdam (1948), in Evanston (1954) und Neu Delhi (1967) teil. 1951 hatte er eine Vortragsreise durch die Gemeinden in der Ostzone unternommen und gehörte zur Delegation der EKD, die 1954 auf Einladung des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche drei Wochen lang die Sowjetunion besuchte, die Städte Moskau, Sagorsk, Leningrad, Kiew und Odessa.
Allein durch diese Reisen wurde Heinemann fortgesetzt von der politischen Rechten in der BRD als nützlicher Idiot Moskaus diffamiert.

Zwei typisch evangelische Präsidenten und treue Kirchgänger hat die deutsche Bevölkerung im 20. Jahrhundert erlebt, die gegensätzlicher nicht sein konnten: Paul v. Hindenburg, Reichspräsident 1925-1934, und Gustav Heinemann Bundespräsident von 1969-1974. Der Erstere ein Militarist von Jugend auf, Generalfeldmarschall, der sich auch noch im hohen Alter in die Uniform zwängt, abschätzig auf den Gefreiten Hitler herabsah und ihm dann doch, bestochen mit Gütern und Geld, den Weg zum Kriegsstaat öffnete. Aber fromm bis zum letzten Atemzug. „Sehen Sie zu, dass Christus gepredigt wird“, waren eines seiner letzten Worte auf dem Sterbebett.
Der andere, Gustav Heinemann, ein Zivilist, ein Bürgerpräsident, der der westdeutschen Bevölkerung die Schrecken jener Hindenburgzeit vor Augen malt, als er ihr das populäre Gemälde von der Kaiserkrönung in Versailles 1871 interpretiert, auf dem alle Teilnehmer in Uniformen strahlen. Kein Zivilist ist auf dem Bild zu sehen. Der Anfang vom Ende eines deutschen Militärstaates. Wenn Orden ein Zeichen stolzer Kriegskultur sind, so war Heinemann ein Verächter von Orden aller Art. Er hätte, um der lästigen Ordenverleihung zu entgehen, am liebsten vor die Tür des Präsidentenpalais eine Kiste mit unterschiedlichen Orden gestellt, und: jeder möge sich nach Lust und Laune und eigner Einschätzung bedienen. Bei seinem Abschied vom Amt 1974 verzichtete er auf militärische Ehren, den ominösen, traditionellen Zapfenstreich, sondern setzte sich im Bahnhof Zoo in das für alle Bürger zugängliche Verkehrmittel, die Eisenbahn, winkte durch das Eisenbahnfenster und fuhr mit seiner Frau in seine Heimatstadt Essen zurück. Kein schlechter Beitrag zu einer Kultur des Friedens, den seine Nachfolger nicht aufgegriffen haben. Heinemann wäre in dieser Reihe ein Thema für einen ganzen Abend.

Dem Machtwechsel im Bundespräsidialamt folgte der Machtwechsel in der Bundesregierung. Erstmals warben und trommelten zahlreiche Pfarrer in vielen Landeskirchen für einen Regierungswechsel. Die CDU hatte zwar die Bundestagswahl im September 1969 gewonnen, aber SPD und FDP schlossen eine Koalitionsregierung, im Oktober wurde Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt und noch im November bot die Bundesregierung der polnischen Regierung Verhandlungen über alle anstehenden Probleme an.
Heinemann, ohne Frage der politischste aller bisherigen Bundespräsidenten, nutzte eine Radio- und Fernsehansprache zum 30. Jahrestag des Kriegsbeginns am 1.9.1969 zu einer eindringlichen Mahnung, eine wissenschaftliche Erforschung der Voraussetzungen und der Strukturen des Friedens in Gang zu setzen. Dazu brauchte es neuer Ordnungen und Gewohnheiten, Spielregeln und Verhaltensweisen. Es gelte als neue Gewohnheit, einen Konflikt mit den Augen des Gegners zu beurteilen, die Bereitschaft zum Kompromiss statt einer Selbstbehauptung um jeden Preis, und zu den neuen Verhaltensweisen wäre zu rechnen, an der Angst und Trauer, an dem Stolz und der Empfindlichkeit der Gegners teilzunehmen.“ Es gelte jene zurückzuweisen, die im nationalistischen Mantel schon wieder den Geist der Unversöhnlichkeit predigen...Wir müssen einen neuen Anfang zwischen uns und den östlichen Nachbarn, zumal mit Polen, setzen.“
Bei Beachtung dieser Verhaltensweisen wäre es nicht zu dem Ukrainekonflikt vor zwei Jahren gekommen.

Es dauerte weitere drei Jahre, bis der Bundestag sich zu einer Verständigungspolitik mit dem Osten 1972 durchrang. Es lag dem Bundestag im Frühjahr 1972 ein deutsch-sowjetisches und ein deutsch-polnisches Vertragswerk vor. Der Inhalt lautet zusammengefasst: die bestehenden Grenzen bleiben unangetastet und man verpflichtet sich zu gegenseitigem Gewaltverzicht. Die Westmächte und die deutsche Wirtschaft hofften auf Entspannung, erstere befürchteten aber Alleingänge der Bundesregierung. Die CDU lehnte zu diesem Zeitpunkt die Verträge rundum ab.
Vor der ersten Lesung veröffentlichte der Theologe und Publizist Heinz Zahrnt im SONNTAGSBLATT einen Artikel mit der Überschrift „Verzicht aus Glauben. „Der Grundschade aller Politik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bestehe nicht im Verlust der nationalen Einheit, sondern darin, dass das deutsche Volk seine Schuld am Kriege niemals wirklich anerkannt und auch seine Niederlage niemals wirklich angenommen habe, dass das Verschuldete und Erlittene darum von ihm nicht innerlich verarbeitet und politisch produktiv umgesetzt worden sei. Zahrnt beschloss seinen Artikel mit folgendem Fazit: „ Nachdem wir für den Krieg so viele und große Opfer gebracht haben, warum wollen wir dann für den Frieden nicht einmal so wenige kleine Opfer bringen?“
Heinz Zahrnt legte den Finger auf die Wunde der unaufgearbeiteten Vergangenheit, und tatsächlich waren die tragenden Motive bei Aktion Sühnezeichen, bei vielen Wehrdienstverweigerern und Bausoldaten der Blick auf das deutsche Unrecht und ein Gefühl der Mithaftung dafür.
Im Bundestag wurde eine Mehrheit immer fraglicher, denn einige Abgeordnete der Koalition wechselten zur CDU über, unter ihnen Erich Mende, der frühere Parteivorsitzende der FDP, der sich gerne nach wie vor mit dem Ritterkreuz schmückte ohne das damalige Hoheitsabzeichen. Schließlich standen sich die 247 Abgeordnete der regierende SPD/FDP und der oppositionelle CDU/CSU stimmgleich gegenüber.
Der Rat der EKD hatte eine windelweiche Erklärung abgegeben, die eine Zustimmung und eine Ablehnung im Bundestag für möglich hielt. Dagegen protestierten 25 evangelische Prominente, die sich energisch für die Ratifizierung der Ostverträge aussprachen, darunter auch als wesentlicher Motor dieser Erklärung der Braunschweiger Landesbischof Heintze. Die Erklärung verwies auf den durch die Ostdenkschrift geschaffenen Spielraum, den die Politiker nun genutzt hätten. Sie haben versucht, „das christliche Friedens- und Versöhnungsangebot in politische Praxis umzusetzen.“ Es gelte, die jetzt gegebene Chance zu nutzen. Das war ein beträchtlicher Beitrag zu einer Kultur des Friedens aus unserer Region.
Die Braunschweiger Zeitung titelte zustimmend: „Ablehnung würde große Enttäuschung hervorrufen. Prominente evangelische Theologen und Laien sprechen sich für die Ratifizierung der Ostverträge aus.“ Anders die CDU Opposition in Niedersachsen. Der Vorsitzende Hasselmann nannte die Aktion einen „bedauerlichen Missbrauch bischöflicher Autorität.“ Die unglückselige Wirkung der politischen Äußerung der Bischöfe nehme „keinerlei Rücksicht auf die unterschiedlichen Meinungen der ihnen anvertrauten Kirchenmitglieder“. Der Fraktionsvorsitzende der CDU im Rat der Stadt Braunschweig, Joachim Clemens, schrieb, es gebe genügend Probleme auf sozialem und caritativen Gebiet für die Kirche, der Bischof habe die äußerste Neutralität eklatant verletzt. Im übrigen sei es eine „unüberbietbare Naivität anzunehmen, dass die Kommunisten zu Gegenleistungen bereit wären.“
Eine Mehrheit für die Ostverträge war wirklich unsicher, denn die CDU Fraktion fühlte sich stark genug, ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Willy Brandt zu stellen, dass ganz unerwartet bei der Abstimmung am 27. April 1972 scheiterte. Herbert Wehner hatte im Hintergrund für eine Mehrheit gesorgt. Wie würde die Abstimmung am 17. Mai ausgehen? Bei dieser Abstimmung über die Ostverträge am 17. Mai enthielt sich die Mehrheit der CDU der Stimme und ermöglichte so eine Mehrheit Auch Helmut Kohl, damals auch noch Ministerpräsident von Rheinland Pfalz, enthielt sich der Stimme. Im Bundesrat hatte er im Februar dem Vertragwerk Mehrdeutigkeit, Kautschukbegriffe und zwielichtige Formulierungen vorgeworfen hatte. Er befürchtete, die Verträge – so schloss Kohl – würden den „Frieden viel, viel unsicherer“ machen. Die CDU habe ihr Gewissen auf Enthaltung gestellt, spottete Brandt nach der Abstimmung.

1972 war ein Jahr, in dem der innere Friede der Bundesrepublik gefährdet erschien. Im Mai, zwei Tage nach der Abstimmung im Bundestag, explodierte vor dem Springer Hochhaus in Hamburg eine Bombe. Sechs Tage später wurden bei einem Anschlag auf das US Hauptquartier in Heidelberg drei Soldaten getötet. Im Juni wurde die Spitzengruppe der RAF (Baader, Meins Raspe, Ensslin und Meinhof) verhaftet. Die Bundesrepublik teilte sich ein in solche, die Baader-Meinhoff Bande, oder Baader Meinhoff Gruppe sagte. Die einen setzten auf einen starken Staat mit einem starken Bundeskanzler, die anderen suchten den Dialog und die Verständigung. Als Ulrike Meinhoff im Berliner Gefängnis saß, empfand es Bischof Scharf als sein seelsorgerliches Amt, sie im Gefängnis zu besuchen, nach dem schlichten Verständnis des Bibelwortes: Christus spricht: „Ich bin gefangen gewesen und ihr habt mich besucht“. Scharf hatte versucht, sie von der Sinnlosigkeit der Gewalt zu überzeugen. Am Ende habe Ulrike Meinhoff dem Bischof die Hand gegeben, was sie sonst mit keinem Gesprächspartner getan habe und „Auf Wiedersehen“ gesagt. Scharf machte sich später Vorwürfe, dass er die Besuche im Stammheimer Gefängnis nicht wiederholt hatte, da der württembergische Bischof ihm heftig davon abgeredet habe, weil er einen Aufstand der dortigen süddeutschen Pietisten befürchtete. Die Rechtspresse vor allem in Berlin und Axel Cäsar Springer und seine Blätter bundesweit schäumten über den Besuch.
Der rororo Verlag gab eine Dokumentation über diese Vorgänge heraus unter dem Titel „Pfarrer, die dem Terror dienen?“ Wer damals einen Beitrag zu einer Kultur des Friedens leistete, kam in den Verdacht, dem Terror zu dienen.

Ich rede nicht von weit zurückliegenden Dingen. Bischof Scharf hat in seinem Lebensbericht nach der Darstellung des Meinhoffbesuches folgendes geschrieben:
„Eine andere Gruppe von Menschen in unserem Land teilt in mancher Hinsicht das Los der Gefangenen. Auch sie ist weithin isoliert in Lagern, sie hat hinter sich zumeist Zeiten der Verfolgung, akuter Lebensgefahr und verwegener Flucht: es ist die Gruppe von Ausländern aus vier Kontinenten, die bei uns um Asyl bitten.... Sollten einige wenige aus Abenteuerlust oder Gewinnsucht das Land ihrer Geburt verlassen, so ist der Prozentsatz von diesen unter der Zahl der aus Bedrängnis Fliehenden so gering, dass er nicht ins Gewicht fällt. Kommen sie aber aus Angst vor Bedrängnis durch ihre Regierung oder durch eine mächtige Gruppe in ihrem Land oder aus Angst, durch Kriegs- oder Bürgerkriegshandlungen getroffen zu werden oder kommen sie, weil ihre Kinder bitter Hunger leiden, ist es Christenpflicht, unseren Wohlstand, unsere Sicherheit mit ihnen zu teilen. Wir haben nicht zu untersuchen, ob der einzelne, der zu uns flieht, mehr als der Durchschnitt seiner Landsleute in seiner Heimat gefährdet ist und zu leiden hat. Wir haben den, der in Not oder auch nur aus dem subjektiven Empfinden von Not, uns sucht, anzunehmen und für ihn einzustehen. Jede Überprüfung der Beweggründe ist Verletzung der Menschenwürde des zu uns Geflüchteten.“ So eine Stimme der ev. Kirche, von Bischof Scharf von 27 Jahren (Aus: Widerstehen und Versöhnen 1987).

Im September 1972 wurden bei den Münchner Olympiaspielen Sportler aus Israel von Palästinensern als Geiseln genommen, um inhaftierte Palästinenser zu befreien. Bei dem zugesagten freien Abzug wurden von der westdeutschen Polizei die israelischen Geiseln und die meisten Palästinenser sowie ein Polizist zusammengeschossen. Die Ansprache während der Trauerfeier am 6. September 1972 im Olympiastadion in München beendete Heinemann als Bundespräsident mit einem Appell zur Versöhnung der Völker: „Bei dem, was wir erleben mussten, besteht keine Trennungslinie zwischen Nord und Süd, keine zwischen Ost und West. Hier besteht eine Trennungslinie zwischen der Solidarität aller Menschen, die den Frieden wollen und jenen anderen, die in tödliche Gefahr bringen, was das Leben lebenswert macht. Das Leben braucht Versöhnung, Versöhnung darf nicht dem Terror zum Opfer fallen. Im Namen der Bundesrepublik Deutschland appelliere ich an alle Völker der Welt: Helft mit, den Haß zu überwinden. Helft mit, der Versöhnung den Weg zu bereiten.“




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