|
Der Gott der Verunsicherung
Warum die Öffentlichkeit die Religion braucht – und die Religion die Öffentlichkeit
Festvortrag zum „Abend der Begegnung“ der Landeskirche Braunschweig am 9. Februar 2016 im Braunschweiger Dom
von Matthias Drobinski, Süddeutsche Zeitung, München
(Download als pdf hier)
Im Jahr 1782 veröffentlichte Johann Heinrich Gottlob von Justi seine „Grundsätze zur Policeywissenschaft“.
Justi war ein typischer Vertreter des aufgeklärten Absolutismus. Der
Rechtswissenschaftler hatte schon eine ganze Reihe von Posten bekleidet, ehe er 1755
Kammeral- und Polizeidirektor von Göttingen wurde - er war also ein Mann der Praxis. Die
Polizeiwissenschaft, über die er schrieb, war viel mehr als das, was heute die Kriminalistik
ist. Justi war eine Art früher Politikwissenschaftler, und sein Buch beschäftigte sich mit
dem gesamten öffentlichen Leben. Im dritten Buch schreibt er darüber, wie wichtig eine
gute Religion für das Funktionieren des Staates ist: „Die Religion hat großen Einfluss auf
die Wohlfahrt des Staates. Die oberste Gewalt muss also auch Ihre Aufmerksamkeit und
Vorsorge auf die Religion der Untertanen erstrecken.“ Allerdings, ohne den Gewissen der
Untertanen Zwang anzutun. Der Staat müsse ein Interesse an frommen Bürgern haben.
Eine „Religionspolicey“ solle dafür sorgen, dass „Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam
gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger“
gepredigt würden.
Man kann das etwas salopp so zusammenfassen: Eine ordentliche Religion spart jede
Menge Polizisten. Der kluge Landesherr sorgt dafür, dass die Kirchen in seinem Land voll
sind, dass ordentlich gebetet wird und dass es keine Konflikte um den Glauben gibt. Er
achtet darauf, dass die Pastoren anständig leben und keinen Anlass zur Klage geben.
Denn je gottesfürchtiger seine Untertanen sind, desto weniger stehlen, betrügen, huren
oder saufen sie, desto fleißiger arbeiten sie, desto besser kümmern sie sich um Alte,
Kranke und Kinder. So ähnlich hatten 250 Jahre zuvor die Fürsten gedacht, die damals
die Reformation unterstützten: Der neue Glaube passte bestens zur neuen Form der Landesherrschaft.
Er legitimierte die Regentschaft der Regierenden. Er sorgte dafür, dass sich
die Untertanen ganz ohne staatlichen Zwang als gute Bürger benahmen, dass sie arbeiteten,
friedlich miteinander umgingen und gar nicht erst auf staatsgefährdende Gedanken
kamen.
Letztlich wird meistens noch heute so die öffentliche Funktion von Religion begründet -
natürlich in einer modernisierten Form: Die Religion hält die Menschen zusammen. Sie ist
die dickste Säule, auf der die Zivilgesellschaft steht. Sie bringt die Menschen dazu, sozial
zu denken und sozial zu handeln. Sie mildert und verhindert sozialer und kultureller Konflikte,
sie bewahrt die Kultur und die Geschichte eines Landes. Sie schafft - neben anderen
Kräften der Zivilgesellschaft -, die Grundvoraussetzungen für das Funktionieren einer Gesellschaft,
die der Staat alleine mit Gesetzen, Justiz und Polizei nicht schaffen kann.
Und daran ist ja auch viel Wahres. Selbst wenn die Zahl der Kirchenmitglieder in den
kommenden Jahren durch Austritte und den demographischen Wandel sinken wird: Die
beiden großen Kirchen werden auf absehbare Zeit die größten gesellschaftlichen Gruppen
dieses Landes bleiben. In ihren Kirchengemeinden werden sich so viele Menschen engagieren
wie in sonst keiner anderen Institution, keinem Verein. In ihre Sonntagsgottesdienste
werden Millionen Menschen kommen - derzeit sind es mehr als in die Stadien der Bundesliga.
Die Kirchen werden ein wichtiger Arbeitgeber bleiben. Caritas und Diakonie werden
weiterhin zahlreiche Krankenhäuser, Sozialstationen, Kindergärten betreiben. Und
trotz aller Säkularisierung, trotz des häufig beklagten Wissensverlusts, was den christlichen
Glauben und die christlich geprägte Kultur angeht: Der Vorrat an Deutungen und
Zeichen in dieser Gesellschaft wird christlich bleiben. Ebenso der Boden, auf dem Kultur
und Sinndeutung wachsen, bis hin zu der bei allem Gruseln erheiternden Blüte, dass die
weitgehend säkularen und in Teilen dezidiert religionsfeindlichen Anhänger von Pegida in
Dresden ausgerechnet das Abendland, und zwar das christliche, vor dem Islam retten wollen.
Alles das sind gute Gründe, in der Religion dezidiert keine Privatangelegenheit zu sehen,
sondern ihre öffentliche Funktion zu bejahen. Es ist auch ein gewichtiges Argument, im
Grundsatz das in der Bundesrepublik gewachsene Verhältnis von Staat und Religionen zu
bewahren – auch wenn sich dort vieles neu begründen und auch einiges ändern muss,
wenn die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, wenn der Einfluss der Institutionen zurück geht
und eine neue Religion ihren Platz beansprucht: der Islam. Das spannungsvolle Miteinander
von Staat und Religion hilft, fundamentalistische Einstellungen zu bekämpfen und den
religiösen wie gesellschaftlichen Frieden im Land zu bewahren. In diesem Sinne geht tatsächlich
ein roter Faden von Johann Heinrich Gottlob von Justis „Grundsätzen zur Policeywissenschaft“
hin zur Islamkonferenz der deutschen Bundesinnenminister Schäuble,
Friedrich und de Maizière.
Ich möchte aber heute den Blick auf einen anderen Aspekt lenken. Ich denke, dass dieser
Aspekt zunehmend bedeutsam und zukunftsweisend Für das Verhältnis von Kirchen und
Staat, Religion und Öffentlichkeit, Glaube und Gesellschaft Sein wird. Verzeihen Sie bitte,
wenn ich dabei theologisch vielleicht nicht immer exakt bin - aber sie haben sich ja auch
einen Journalisten eingeladen, dessen Qualitätsmerkmal das gediegene Halbwissen ist,
Wie es einmal mein journalistischer Lehrer Wolf Schneider gesagt hat. Sehen Sie, was ich
sage, als Denkanstoß, der sie dazu bringt, weiter zu denken – und gerne auch zu widersprechen.
Ich möchte also ihren Blick auf die verunsichernde, die irritierende Seite Gottes lenken. Ich
möchte Ihnen erklären, warum dieser verunsichernde Gott mindestens genauso wichtig ist
für die öffentliche Funktionen von Religion, für das Spannungsverhältnis von Säkularität
und Glaube, für Staat und Kirche ist wie das, was ich, ein bisschen despektierlich, einen
Versicherungslauben nennen möchte – wobei ich besser gleich jetzt gestehe, dass ich
persönlich durchaus Versicherungen abgeschlossen habe und dem Assekuranzgedanken
nicht gänzlich abgeneigt bin. Ich denke aber trotzdem, dass es angebracht wäre, den
Schwerpunkt stärker vom Versicherungs- zum Verunsicherungsglauben zu verlagern -
gerade in einer Zeit, in der wir die Kehrseite der Globalisierung spüren wie vielleicht noch
nie. Er ist Frage und Antwortversuch in eine Zeit hinein, in der vieles unsicher, schwankend,
und nicht mehr vorhersehbar geworden ist.
Wenn man Menschen fragt, warum sie glauben, sprechen sie meistens über die versichernde
Seite des Glaubens. Der Glaube hält Regeln für das Leben bereit, Im Christentum
die zehn Gebote, Im Islam die Scharia, im Judentum die 613 Gebote, der fromme Orthodoxe
befolgen soll. Selbst wenn man sich vielleicht nicht alle halten möchte, so sind diese
Regeln doch Leitplanken für den Alltag. Sie sind es vor allem deshalb, weil der Grund dieser Versicherung für de Gläubigen tiefer reicht als jede Regel, die irgendjemand aufstellt,
damit die Gesellschaft besser funktioniert: Es ist das unfassbare und voraussetzungslose
Ja Gottes zum Menschen, ausgesprochen noch vor der Erschaffung jeglichen Lebens.
Werde ich glauben kann, der fühlt sich gehalten von einer höheren Macht jenseits aller
irdischen Mächte, geborgen in einer Welt jenseits dieser Welt. Der weiß: Ich kann nie tiefer
fallen als in Gottes Hand.
Das alles ist gut so. Jeder, der schon einmal eine Lebensbruch erfahren hat, weiß, wie
tröstlich und und hilfreich es ist, sich auch dann geborgen zu wissen, wenn die ganze Welt
sich gegen einen zu verschwören scheint. Ich weiß, Wie wichtig diese sichernde Seite des
Glaubens ist für Menschen, die das Schicksal geschlagen hat. Es gibt aber auch die andere
Seite. Es gibt die existenzielle Unsicherheit, auf die sich jeder Mensch einlassen muss,
der glaubt. Diese Seite wird aus meiner Sicht zu schnell zu Seite geschoben. Die Christen
in Europa und auch in Deutschland hängen zu sehr der versichernden Seite des Glaubens
an - vor allem, und das ist das Problem, ohne sich vorher der Verunsicherung ausgesetzt
zu haben. Das hat auch Folgen für das Verhältnis von Kirchen und Staat, Religionen und
Öffentlichkeit. Ich glaube, dass damit eine Chance vergeben wird: Das Potenzial einer Religion,
zu einer menschlichen, friedliche und toleranten Gesellschaft beizutragen, wird verringert.
Zu glauben bedeutet ja grundsätzlich, sich auf eine existenzielle Unsicherheit einzulassen.
Ich nehme hier am Beispiel des Christentums - es würde aber vergleichbar gut mit dem
Judentum oder dem Islam funktionieren. Es soll also vor 2000 Jahren der Zenith der Zeiten
gewesen sein, nach vier Milliarden Jahren Erd- und 200.000 Jahren Menschheitsgeschichte?
Dies ist eine durchaus mutige Annahme. Von diesem Jesus, der da vor 2000
Jahren lebte, weiß man für eine antike Persönlichkeit verhältnismäßig viel, dieser Jesus
scheint die Menschen fasziniert und beschäftigt zu haben. Trotzdem: wen er kannte, hat
nicht über ihn geschrieben. Und wer über ihn geschrieben hat, der hat ihn nicht gekannt.
Jeder Theologiestudent im ersten Semester kennt die Situation, wenn der Professor im
bibelwissenschaftlichen Seminar ihm, manchmal mit einer gewissen Lust, alle lieb gewordenen
Bibelstellen verleidet: Dies ist später hinzugefügt, dies hat wohl der Evangelist sich
ausgedacht, na gut, dieser Halbsatz könnte tatsächlich von Jesus stammen. Der Glaube
der Christen steht, was diese Form der Beweisbarkeit angeht, auf tönernen Füßen.
Religionen sind zu einer bestimmten Zeit aus einer bestimmten historischen Situation heraus
entstanden. Sie waren nicht auf einmal einfach da, sie haben sich in all ihren Großartigkeiten,
Abgründen und Widersprüchen entwickelt. Sie müssen über Wahrheit reden, das
ist ihr Kern, aber sie müssen auch wissen, dass diese Wahrheit letztlich außerhalb der
historischen Wirklichkeit liegt. Dies sollte ein bisschen misstrauisch machen gegen alle
allzu selbstbewusst vorgetragenen Gewissheiten, gegen alle Versuche, den Glauben einer
Religion gewissermaßen als vor allen Seite fest geschnürtes Paket zu sehen, das möglichst
ungeöffnet von Generation zu Generation weitergegeben werden muss, weil sonst
der Relativismus den Glauben schal werden lässt. Für die Christen kommt noch etwas
anders hinzu: Dieser Jesus, nach christlichem Glaube Gottes Sohn, ist ein furchtbar Gescheiterter.
Seine Botschaft vom liebenden Gott, erregte das Misstrauen der Obrigkeit,
sein Zorn, der Satz, er sei der Sohn Gottes, galt als Blasphemie. Er wurde auf die grausamste
in der Antike bekannte Art hingerichtet : Der Kreuzestod vernichtete nicht nur das
Leben, er tötete auch die Würde des Hingerichteten. Dass dieser so furchtbar Gestorbene
im Triumph aus dem Grab erstanden ist, dafür gibt es bis heute keinen Beleg. Mehr noch:
Diese Auferstehung wäre gegen jede Wahrscheinlichkeit. Es gab nur diesen unerschütterlichen
Glauben seiner Anhänger, und es gibt, gegen jede Wahrscheinlichkeit, die mehr als
erstaunliche Tatsache, dass sich diese Glaubensgewissheit über 2000 Jahre hinweg gehalten
hat.
Kann man, wenn das so ist, überhaupt noch glauben? Man kann, denke ich. Man kann,
wenn man bereit ist, sich dem schwankenden Boden anzuvertrauen, der sich da einem
anbietet. Ich gehe sogar einen Schritt weiter: Man kann nicht nur so glauben - es ist letztlich
die reifere Form zu glauben. Denn es bedeutet, die Verunsicherung zu akzeptieren die
sich da vor einem ausbreitet. Es bedeutet zu wissen, dass man da gerade mit bestenfalls
zweitbesten Erkenntnismöglichkeiten über die letzten Dinge nachdenkt. Und dann erscheint
einem Gott nicht als die himmlische Supernanny, die einem an der Hand durchs
Leben führt, sondern, bei aller Solidarität mit seinen Geschöpfen, auch als fremder Gott,
der einem unbegreiflich und auch unheimlich, gar abgründig bleiben muss. Der Glaube an
einen fremden, gescheiterten Gott beschreibt die Paradoxie des christlichen Glaubens:
Ohne Scheitern keine Erlösung, ohne Tod kein Leben, ohne Zweifel und Verzweiflung kein
Glauben.
Das ist anstrengend, und die Versuchung ist natürlich groß, sich die Unsicherheiten und
Irritationen ersparen zu wollen, gewissermaßen zu sagen: Mein Glaube ist fest, da wackelt
nix. Aber den Glauben auf diese Weise vor allem als Versicherungsglauben zu sehen, der
einem die Unwägbarkeiten des Lebens erspart oder zumindest abfedert, hat seine engen
Grenzen. Und auch klare Gefahren: Ein reiner Versicherungsglaube funktionalisiert die
Religion, wie es einst, in bester Absicht, der Policeywissenschaftler Johann Heinrich Gottlob
von Justin tat. Er beruhigt bestenfalls oberflächlich. Häufiger aber lässt er einen ängstlich
auf den Punkt starren, an dem er vielleicht nicht mehr funktionieren könnte. Er lässt
einen unbeweglich werden und ans Angesparte denken, ob ans angesparte Heil des Einzelnen
oder die Rücklagen der Landeskirche. Einem solchen Versicherungsglauben jagte
zum Bespiel der junge Augustinermönch Martin Luther nach: Er betete, fastete, kasteite
sich, immer in der Angst, dass alle seine Gebete und guten Werke nicht reichen könnten,
dass Gott ihn deshalb beim Jüngsten Gericht gnadenlos zur ewigen Verdammnis verurteilen
würde. Es gehört zu seinen wirklich großen Erkenntnissen, dass dies so nicht sein
kann, weil Gott den Sünder, das Unvollkommene den Menschen in seiner Menschlichkeit
zuerst angenommen hat.
Deshalb hat im Christentum das Unvollkommene seinen Platz, das Gebrochene, Leidende,
Abgründige und Zweifelnde. Das Christentum kennt die dunkle Seite des Lebens. Es
lässt sich auf diese Seite ein, weil es glaubt: Das Dunkle behält nicht das letzte Wort. Der
schwankende Boden trägt. Dieses Verständnis von Glaube und Religion hat auch Folgen
für das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit, für das institutionelle Selbstverständnis
einer Kirche und für die Frage, wie Christen in Staat und Gesellschaft wirken, politisch wirken
sollen.
Der Glaube an den irritierenden Gott bedeutet erstens, ich habe es bereits mehrmals angedeutet,
Wahrheit als nie zu erreichtes Ziel einer immer doch notwendigen Suche zu begreifen.
Man kann sie nicht besitzen, die Wahrheit, und eigentlich steckt diese Erkenntnis
paradoxerweise in dem verärgerten Ausruf, dass da wohl jemand die Wahrheit gepachtet
habe: Natürlich kann man die Wahrheit auch nicht in diesem Sinne pachten, dass man
einen Preis bezahlt, und dann kann man einen Zaun ums Grundstück ziehen und alle anderen
aussperren. Mir gefällt das Bild in einem anderen Sinn: Man kann das Feld beackern,
das einem da auf Zeit überlassen wurde. Aber irgendwann muss man Rechenschaft
geben, was man gesät und geerntet hat. Die Erkenntnis daraus müsste also lauten:
Die Wahrheit gehört jemandem anders, nämlich Gott. Woran der Christ sich halten kann,
ist die Zusage Gottes, dass die ehrliche und ernsthafte Suche nach der Wahrheit trotz aller
menschlichen Grenzen nicht vergebens sein wird. Immer wenn die Christen dies missachSeitetet haben, waren die Folgen nicht schön für alle, die anders glaubten, als die jeweils
obersten Interpreten und Hüter des Glaubens es taten. Oder, andersherum gesagt, war
der Abgrund nicht fern, in den der Glaube führen kann. Andersherum hat diese Erkenntnis
auch Christen immer wieder die Kraft gegeben, gegen innenweltliche Totalitäts- und
Wahrheitsansprüche Widerstand zu leisten, die des Nationalsozialismus, die des Kommunismus,
auch gegen jene, die die Herrschaft des Geldes religiös zu überhöhen sucht. Das
ist ein wichtiges Wächteramt, das den Christen aufgetragen ist: Sie müssen immer dann
widersprechen, wenn einer beansprucht, die Welt erklären und in ihrer Ganzheit deuten zu
können, wenn einer mit einem Menschheitserlösungskonzept kommt.
Dieses Amt wird in den kommenden Jahren in ganz neuer Weise wichtig werden. Die alten
und neuen totalitären und fundamentalistischen Versuchungen haben mit dem Internet ein
ubiquitäres Medium gefunden. Man kann dort nicht nur sich seriös informieren und seriös
informieren - wie wir Journalisten, in all unseren Grenzen, das zu tun versuchen. Man
kann auch im Gegenteil Wahrheitskonstruktionen weltweit verfügbar machen, wie schräg
oder auch menschenverachtend sie sein mögen - oder andersherum sich nur über das
informieren, was ins eigene Wahrheitskonstrukt passt. Die Algorithmen der Suchmaschinen
fördern diese Haltung: Wer einmal etwas über Chemtrails gegoogelt hat oder über
kriminelle Flüchtlinge, der bekommt mehr und mehr Seiten über Chemtrails oder kriminelle
Flüchtlinge präsentiert. Die Mathematik der Suchmaschinen ist auf die Fokussierung des
Kunden auf seine Interessen angelegt und damit auf die Verengung seines Horizonts.
Wem aber das Andere, das zum Zweifel und zur Irritation führen könnte, herausgefiltert
wird, der setzt sich, seine Meinung, seine Glaubensgrundsätze absolut, und sieht sich in
der weiten Welt des Netzes immer auch bestätigt. Viele der aggressiven, hasserfüllten
Kommentare, die zur Zeit durchs die Foren und die Facebook-Debatten geistern, haben
dieses Glaubenskonstrukt zur Grundlage.
Dagegen müssen nun, eine Ironie der Geschichte, die Christen und die Vertreter der organisierten
Christenheit das Lob des Zweifels singen, gegen das Überhandnehmen der
millionenfachen Unfehlbarkeitserklärungen und Verdammungen der Andersgläubigen und
Skeptiker. Sie müssen Anwälte von Sätzen werden wie: „Könnte es sein, dass es auch
anders ist?“ Und: „Ich weiß es nicht“. Und: Ich muss darüber nachdenken. Und auch: Es
könnte sein, dass du recht hast. Sie müssen Anwälte des strittigen, aber auch fairen Diskurses
werden. Ihre Aufgabe ist es, der Empörungsblase, die da gerade an Volumen gewinnt
und gewinnt, die Luft rauszulassen. Sie müssen dem gegenwärtigen Bürgerkriegsgerede, das derzeit selbst respektable Philosophen wie Peter Sloterdijk und Botho Strauß
ergriffen hat, ein paar Abrüstungssätze entgegensetzen: Es lohnt sich, um die Wahrheit zu
streiten. Es schadet, in den intellektuellen Schützengraben zu springen. Und vielleicht wäre
das Mal ein Thema für die schöne Fastenaktion „Sieben Wochen ohne“: Sieben Wochen
ohne Besserwisserei und Welterklärertum“. Ein wahrhaft edler Verzicht.
Der Glaube an den Gott des Zweifels bedeutet zweitens, leidempfindlich zu werden. Der
leidende, schwache, schutzbedürftige Mensch, die verletzliche Würde des Menschen ist
der Maßstab der Suche, die ich gerade beschrieben habe. Von daher ist diese Suche,
trotz aller Zweifel, nicht wahrheitslos - und vor allem ist sie dadurch nicht ziellos. Die Orientierung
am Bedürftigen, Schwachen, Unvollkommenen ist ein Wesensmerkmal des
Christlichen - gegen den Kult um die Vollkommenheit und den Erfolg der antiken Religion.
Die evangelische wie die katholische Kirche haben diesen Gedanken in der Option für die
Armen und dem Begriff der Beteiligungsgerechtigkeit zu zentralen Inhalten ihrer Sozialethiken
und -lehren gemacht. Dies gehört zu den bedeutenden theologischen Erkenntnissen,
die sich in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren durchgesetzt haben. Dies hat
auch Folgen für die Starken, Erfolgreichen und Wohlhabenden: Stärke, Erfolg und Wohlstand
existieren nie um ihrer selbst willen. Sie sind nicht aus sich heraus Beweis der Zuneigung
Gottes, sie sind im Gegenteil erst durch die Verpflichtung gerechtfertigt, Stärke,
Erfolg und Wohlstand auch zugunsten der Schwachen einzusetzen. Diese Leidempfindlichkeit
ist zudem ein wichtiges Merkmal des Christentums als Erinnerungsgemeinschaft,
die das Vergangene und die Gegenwart verbindet. In Jesu Einsetzungswort „tut dies zu
meinem Gedächtnis“ wird die Erinnerung an den leidenden, gefolterten Gott Gegenwart
und mit ihm die Erinnerung an alle leidenden, gefolterten, ermordeten Menschen. Daran
immer wieder öffentlich zu erinnern - auch das ist eine zentrale öffentliche Aufgabe der
Christen. Sie wird es umso mehr, als auch im reichen Deutschland die Verteilungskonflikte
zunehmen werden: zwischen Flüchtlingen und Obdachlosen, zwischen Millionen-Erben
und prekär Beschäftigten. Auch zwischen gut ausgebildeten und fleißigen Menschen, die
voller Empörung das Gefühl haben, sie bezahlten den Staat, und Menschen, die voller
Zorn sind, weil sie nie eine richtige Chance auf eine Ausbildung, einen Job, ein einigermaßen
bürgerliches Leben hatten. Und zwischen Alten, die jede Menge Rente und Gesundheitsversorgung
kosten - und Jungen, die das nicht mehr unbedingt bezahlen wollen. Sie
wird auch im weltweiten Maßstab umso wichtiger werden, je mehr die Menschheit tatsächlich
eine globale Gemeinschaft mit globalen Chancen, aber auch globalen Problemen wird
- was das heißt, spüren wir gerade.
Und so gehört drittens auch zum Wissen um die Grenzen der Glaubensgewissheit das
Wissen um die Grenzen unseres eigenen Lebensweise und Lebensstils. Den nach den
Anschlägen von Paris häufig gesprochenen und geschriebenen Satz, dass es nun gelte,
unsere Werte und unsere Lebensweise zu verteidigen, habe ich mit innerem Zwiespalt
gehört. Natürlich müssen die westlichen Länder ihre Bürger und ihren inneren Frieden
schützen gegen Bombenleger und Selbstmordattentäter. Ja, sie müssen die Freiheit verteidigen,
dass man unbesorgt in Konzerte und Cafés gehen kann und in Fußballstadien.
Sie dürfen sich nicht von dem Schrecken beherrschen lassen, den Terroristen verbreiten
wollen. Aber unsere westliche Lebensweise, auf die wir in vielem zu recht stolz sind, hat
ihre Abgründe. Zu diesen Abgründen gehört, dass Näherinnen in Bangladesh in den
Trümmern ihrer gegen alle Vorschriften erbauten Fabrik sterben, weil wir billige T-Shirts
kaufen wollen, dass Menschen sterben in den Konflikten um den Abbau der so genannten
Seltenen Erden, ohne die unsere Smartphones nicht funktionieren. Dazu gehört, dass wir
zur Hebung unseres Wohlstands über Jahrzehnte bedenkenlos Öl und Kohle verfeuert
und die Ressourcen dieser Erde verbraucht haben, sodass nun Millionen Menschen im
buchstäblichen Sinn das Wasser bis zum Hals steht. Und dazu gehört, dass im Namen
des Westens und der Freiheit Kriege geführt wurden, die den Menschen nicht Freiheit,
Frieden und Demokratie brachten, sondern nur neues Leid und neuen Krieg. Auch in dieser
Hinsicht haben die vielen Millionen Flüchtlinge, die derzeit durch die Welt irren, mit
unserer Lebensweise zu tun, mit dem Widerspruch aus unseren guten Werten und den
nicht immer guten Resultaten. Was rechtfertigt Eure Lebensweise, Euren Lebensstil? Diese
Frage werden sich die so selbstgewissen Industrienationen in den kommenden Jahrzehnten
sehr drängend fragen lassen müssen. Und wir werden die Frage uns bis in den
persönlichen Bereich kritisch selber stellen müssen und, wenn wir ehrlich zu uns sind, zu
dem unangenehmen Ergebnis kommen: In vielen Bereichen können wir nicht weiter so
leben wie bisher.
Sich auf den rätselhaften und fremden Gott einzulassen heißt viertens, sich auf das Fremde
einzulassen - und zwar im Bewusstsein des Eigenen. Die Begegnung mit dem Fremden,
dem fremden Menschen wie auch fremden Situationen, Wegen und Lebensentwürfen
wird in einer sich schnell wandelnden Welt unausweichlich zu unserem Alltag werden. Das
Fremde ist uns nah geworden, auf den Pelz gerückt, näher, als wir es je gedacht hätten.
Wie sehr, hat uns die Flüchtlingskrise gezeigt, wird uns die Flüchtlingskrise auch weiterhin
zeigen, schmerzhaft zeigen. Auch vor dem Bürgerkrieg in Syrien waren Millionen Menschen zu Heimatlosen geworden, weit weg, in Afrika. Dann, nach dem Ende des Arabischen
Frühlings, dem Zusammenbruch der Ordnungen in Libyen, Syrien und Teilen des
Iraks, ist ein Teil dieser Flüchtlinge zu uns gekommen. Bei allen Problemen, die nun offenbar
werden, bei allen Grenzen der Kapazitäten, die selbst in einem reichen Land wie
Deutschland allmählich sichtbar werden: Ich bin nach wie vor stolz auf dieses Land und
die Mehrheit seiner Bürger, wie Land und Bürger die Fremden aufgenommen haben. Ich
bin stolz auf die Polizei, die diese Flüchtlinge menschlich behandelt, auf die angeblich so
unbeweglichen Behörden, die sich auf Situationen eingestellt haben, von denen sie vor
kurzem noch gar nicht wussten, dass es se überhaupt geben könnte, auf jene 10,9 Prozent
der Deutschen, die, wie das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche
herausgefunden hat, konkret um die Angekommenen kümmern, ob in der Kleiderkammer
oder im Sprachkurs - das sind mehr, als sich in den Sportvereinen des Landes engagieren.
Wir leben in einem Land, in dem die Institutionen funktionieren, in dem auch die demokratische
Kultur funktioniert, selbst in Krisenzeiten. Auch das sollte man immer wieder
mal sagen.
Die Willkommensparty, die vergangenen Spätsommer in vielen deutschen Städten und
ganz besonders in meiner Heimatstadt München stattfand, war gut und wichtig - man
braucht solche Feste, um sich an sie zu erinnern, wenn es schwierig wird und die Mühen
der Ebene kommen. Ein Verunsicherungsglaube weiß aber auch, dass dies nie die ganze
Wahrheit sein kann. Die Begegnung mit dem Fremden ist immer eine Zumutung - die Begegnung
mit den eigenen fremden Seiten und die Begegnung mit dem fremden Menschen.
Die Zumutungen werden in den kommenden Jahren für beide Seiten groß sein, für
die neu Gekommenen wie für die Einheimischen. Die Alteingesessenen werden respektieren
müssen, dass Menschen mit ihrer eigenen Religion und ihren eigenen Sitten und
Weltsichten kommen - die Neuen werden respektieren müssen, dass Religion, Sitten und
Weltsichten ihre Grenzen in den Grundrechten und den Gesetzen des Landes haben und
dass sie auf Dauer nicht in Distanz zu einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft werden
leben können. Die Stärke einer demokratisch verfassten Gesellschaft wird sich darin
zeigen, dass sie diese Zumutungen ebenso einfordert wie aushält. Sie wird das umso eher
schaffen, wie sie sich der eigenen Wurzeln und Grundlagen bewusst ist. So, wie ein Ichstarker
Mensch in der Begegnung mit dem Fremden eher eine Chance als ein Risiko sieht,
wohingegen einer mit Identitätsproblemen dazu neigt, dem Fremden feindlich gegenüber
zu stehen, so ist es auch mit der Gesellschaft, dem Start insgesamt. Und so wagt auch ein
reifer Glauben, der dem schwankenden Boden traut, eher die Begegnung mit dem Unbekannten. Dem Fremden zu begegnen und selber fremd zu sein gehört schließlich zu den
Grunderfahrungen der jüdischen wie christlichen Geschichte. Beiden Religionen hat Gott
mit auf den Weg gegeben: „Du sollst den Fremdling nicht bedrücken, denn ihr seid auch
Fremdling gewesenem Ägyptenland.“
Es bedarf also die alte Linie es staatlich geförderten Versicherungsglaubens, wie ihn vor
234 Jahren der Polizeidirektor Heinrich Gottlob von Justi formulierte, dringend der Ergänzung.
Es braucht im Verhältnis von Staat und Kirchen, von Religionen und Öffentlichkeit
eine durchaus bedeutende Akzentverschiebung. Ja, die Kirchen werden noch lange dafür
sorgen, dass, salopp gesagt, der Laden läuft, Gott sei Dank. Sie werden aber zunehmend
Verunsicherungs-, Irritations- und Einspruchskraft sein müssen - um ihrer selbst willen und
um der Gesellschaft willen, in der und aus der heraus diese Kirchen leben. Um der Kirchen
selber willen, weil eben der Einspruch und die Verunsicherung der weltlichen Maßstäbe
ihrem Auftrag entspricht, von der Wirklichkeit jenseits dieser Wirklichkeit zu künden
und von der Inkarnation Gottes in diese Welt, die alle menschlichen, weltlichen, staatlichen
Maßstäbe vorläufig und zweitletzte sein lässt. Und dann aber auch, weil ihre Rolle als, zugespitzt
gesagt, Versicherungsagentur des Staates an die institutionelle Stärke der Kirchen
gebunden ist, an ihre Fähigkeit, die Gesellschaft möglichst weitgehend zu durchdringen
und zu formieren. Diese Fähigkeit wird abnehmen, weil die Zahl der Kirchenmitglieder
zurückgehen, die Bindungskraft von Institutionen insgesamt schwinden wird. Und entsprechend
wird, wenn die Kirchen trotzdem ihre alte institutionelle Stärke halten wollen, die
Versuchung stärker werden, um sich selber zu kreisen, sich narzisstisch die Frage zu stellen,
wie man rüberkommt bei den Leuten, die Institution zu heiligen und nicht Gott.
Sie merken, wem ich an dieser Stelle viele Impulse verdanke: Es ist Jorge Mario Bergoglio,
seit nunmehr fast drei Jahren Papst Franziskus. Eine Kirche, die narzisstisch um sich
selber kreist, wird krank, hat er gesagt. Gesund kann sie nur sein, wenn sie zu den Menschen
geht, bei den Verwundeten des Lebens ist, wenn immer dort Einspruch erhebt, wo
der Mensch zum Objekt des Menschen wird, zur ökonomischen Größe, ohne auf die Frage
Rücksicht zu nehmen, ob ihr das im augenblicklichen politischen Gefüge nutzt oder
schadet. Die Kirche erfüllt ihren Auftrag nicht, wenn sie ängstlich ihren Besitzstand wahrt,
sondern wenn sie sich auf den Menschen einlässt, wenn sie Barmherzigkeit lehrt und übt,
die Anarchie der Liebe Gottes. Ich glaube, dass dies auch für die Kirchen in Deutschland
gilt, ob katholisch oder evangelisch. Und ich merke an den Reaktionen vieler mehr und
auch weniger gläubiger Menschen, denen ich begegne, dass diese Haltung des Papstes
die Menschen beeindruckt, über die Grenzen der Institution hinaus. Ja, es ist ein historisches
ökumenisches Ereignis, dass dieser Papst am 31. Oktober 2016, zum Beginn des
großen Reformationsgedenkens, nach Lund in Schweden zum Lutherischen Weltbund
fährt, der dort seinen Gründungstag vor 70 Jahren feiert. Ich halte es aber für die noch
größere ökumenische Leistung, die christlichen Kirchen daran erinnert zu haben, dass sie
sich lieber institutionell verbeulen und verschrammen lassen sollen, als nicht dort zu sein,
wo das Leben gelebt wird. Wenn Gott alle menschlichen Maßstäbe über den Haufen wirft -
dann müssen auch die Kirchen bereit sein, immer wieder dies zu tun und zu fragen: Dient
das dem Leben, dient das dem Menschen?
Diese Verunsicherungskraft der christlichen Kirchen wird auch für den Staat an Bedeutung
gewinnen. Er selber kann ja nicht der oberste Verunsicherer sein, im Gegenteil. Er muss
Sicherheit bieten, das ist eine seiner Kernaufgaben: Rechtssicherheit nach innen und gegenüber
äußeren Vertragspartnern, Sicherheit gegenüber möglichen Feinden von außen
und von innen, den Schutz vor Kriminalität, die Sicherheit der öffentlichen Plätze, der
Kranken- und der Rentenversicherung. Er braucht aber Kräfte, die die Grenzen dieses
Sicherheitsdenkens aufzeigen. Es braucht Kräfte, die auf andere Wirklichkeiten hinweisen
- die der Versuchung des Staates entgegenwirken, sich selber absolut zu setzen. Der
Staat selber kann das nicht tun. Er braucht jemanden, der das für ihn, innerhalb seines
Geltungsbereich - und manchmal auch gegen die dort Handelnden tut. Das können und
dürfen nicht die Kirchen allein und mit Exklusivitätsgarantie versehen sein - wie gesagt,
auch Journalisten gehören, neue vielen anderen Gruppen zu der Spezies, die verunsichern,
aber auch sich selbe verunsichern lassen sollen. Die Kirchen sind jedoch die größten
Gruppen, die dies tun können - und sie haben einen besonderen Grund dazu, den ich
gerade beschrieben habe. Der Staat braucht diese Verunsicherungskraft umso mehr, als
dass ja auch die Garantien des Staates selber zunehmend vorläufig werden, die Versprechen
der Politik brüchig, die Vorhersagen der Akteure, die Journalisten eingeschlossen,
von begrenzter Reichweite. Wir tasten uns voran, wir irren, gehen zurück, suchen einen
neuen Pfad. Es bleibt wenig anders übrig, bei all dem, was auf das Land einstürmt: Die
Flüchtlinge sind da, und ein kalter Krieg mit Russland droht auch. Ob der Euro hält oder
Europa - und ob unsere paar Bemühungen reichen, das Weltklima wenigstens einigermaßen
im Gleichgewicht zu halten, das alles weiß niemand.
Im Grunde ist diese politische Lage im Land nicht sehr anders als die Situation des zweifelnden
Gläubigen: Er weiß, dass alles schwankt, dass alle Sicherheiten begrenzt sind.
Aber er vertraut darauf, dass dieser schwankende Boden hält. Vielleicht war das der Fehler
jenes denkwürdigen Herbstes 2015: Bundeskanzlerin Angela Merkels Satz „Wir schaffen
das“ war ein Versicherungssatz. Ihm fehlte der notwendige Zusatz: Wir schaffen das -
mit einer großen gemeinsamen Anstrengung; wenn wir uns auf die Unwägbarkeiten einlassen,
die da auf uns zukommen; auch wenn wir nicht alle Probleme in den Griff bekommen
werden. Und wir, die wir hier stehen, werden wahrscheinlich gar nicht mehr mitbekommen,
ob es geklappt hat oder nicht. Es fehlte in diesen Tagen der Zweifel, die notwendige
Irritation, wohl auch bei uns Journalisten. Und viele Menschen merkten das - und
ihr Misstrauen wuchs. In Wahrheit ist es nämlich eine große Stärke, die Unsicherheit zugeben
zu können, in der alle Handelnden und Schreibenden in dieser Zeit stecken. Nur
müssen wir da alle noch ein bisschen lernen.
Journalisten werden, wenn sie zu solchen Reden eingeladen werden oft nach Rezepten
gefragt. Sie merken, dass es mir schwer fällt, ihnen jetzt welche da zu lassen. Die irritierende
Seite Gottes zu betonen beantwortet ja nicht selbstredend die Frage, ob es eine
Obergrenze für Flüchtlinge im Land geben soll oder nicht. Ich selber denke, dass aus dem
Gesagten hervorgeht, dass es keine geben darf, weil man, denkt man dies in aller Konsequenz
zu ende, man zumindest in der Nähe der Petry’schen Schießbefehldebatte landet.
So viel Mut zur Wahrheit muss sein. Aber kann ich mir bis da bis ins letzte sicher sein?
Nein, das kann ich nicht. So viel Irritation muss ich mir selber zumuten. Ich kann bestenfalls
eine Haltung anbieten beim Pfadfinden, eine große Richtungsangabe beim Versuch,
das Nadelöhr zu finden, durch das wir, die Reichen, die - heilsgeschichtlich gesehen -
Kamele doch noch ins Himmelreich schlüpfen könnten. Es wäre, wenn ich mich richtig
verständlich gemacht habe, eine Haltung, die versucht, sich auf den schwankenden Boden
voller Vertrauen, ich sage: Gottvertrauen einzulassen, gut gelaunt einzulassen. Es wäre
der Versuch, das Menschliche vom Unmenschlichen zu trennen, die Zynismen und die
Doppelbödigkeiten zu enttarnen. Es wäre der Gegenentwurf zu den wachsenden Fundamentalismen
im Land, gegen die millionenfache Absolutsetzung einer bestimmten Glaubensform
oder der letzten Google-Suche selbstgebastelten Meinung. Es wäre ein fröhlicher
Glaube, dass man die letzte Wahrheit getrost den Instanzen im Jenseits überlassen
kann - gegen all die Verhärtung im Land, die da zu wachsen scheinen. In diesem Sinne:
Lassen wir uns verunsichern in diesem Jahr!
|
|