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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 139 - März/April 2016


Kirche und Sozialdemokratie im Braunschweiger Land

von Dietrich Kuessner
(Download als pdf hier)

Die Stadtbraunschweiger SPD teilt sich seit altersher in zwei Gruppen: eine mehr dogmatische und eine eher bürgerliche. Die dogmatische verfolgte die klassische Revolutionstheorie und erstrebte einen Umschwung zu einer sozialistischen Gesellschaft durch Streik und Umwälzung hierarchischer Ordnung zu einer sozialistischen Gesellschaft der Gleichberechtigung, Abschaffung der Klassengegensätze, Arbeit und Freizeit für alle. Die bürgerliche Gruppe erstrebte die Veränderung der Gesellschaft durch Wahlen und wachsendes Demokratiebewusstsein. Die erste Gruppe ist repräsentiert durch Oerter, Grotewohl und Hans Sievers, die zweite Gruppe durch Heinrich Jasper. Alle vier sind in der Arbeit von E.A. Roloff „Braunschweig und der Staat von Weimer“ (1964, und nach wie vor grundlegend) exemplarisch behandelt worden. Sie bilden die Überschriften zu den entsprechenden Kapiteln. In der Haltung zur evangelischen Kirche sind sich beide Gruppen gleich ablehnend, die dogmatische entsprechend schärfer und bedingungsloser ( Religion = Opium des Volkes) und die bürgerliche zwar moderater, jedoch auch entschlossen.

Aber es gab Zwischentöne. Minna Faßhauer bot Oberkonsistorialrat Wicke 1918 an, im Schulreferat mitzuarbeiten. Jasper versuchte die evangelische Landeskirche bei der allmählichen Auflösung des Verhältnisses von Staat und Kirche einzubinden. Beide Versuche scheiterten nicht an der SPD sondern an der Kirche. Wicke lehnte eine Mitarbeit ab, ebenfalls Oberkonsistorialrat Moldenhauer.
Über Heinrich Jasper hat Martin Grubert eine Biografie unter dem Titel „Anwalt der Demokratie“ veröffentlicht, herausgegeben 2009 von der Stiftung Nord LB. Alle genannten Sozialdemokraten gehören der Weimarer Zeit an. Wie aber steht es für die Zeit nach 1945?

Otto Bennemann (1903-2003), gebürtiger Braunschweiger und SPD Mitglied, sozusagen von Geburt an, war 1948-1952 und 1954-1959 Oberbürgermeister in Braunschweig. Zu welcher Gruppe gehörte Bennemann und wie war sein Verhältnis zur ev. Kirche? Gab es Übergänge und Zwischenstufen?
Nun ist eine Biografie über Otto Bennemann vom früheren Direktor des Wolfenbüttler Staatsarchives Rüdiger Jarck in derselben Reihe wie die über Jasper im letzten Jahr erschienen. Jarck hatte im Stadtarchiv den enormen Nachlass von Otto Bennemann gesichtet und dazu bereits ein Extrafindbuch veröffentlicht. Jetzt also die Biografie dazu.

Jarck gliedert die Biografie nach den Stationen der Bser SPD, wobei er der Arbeit von Bernd Rother folgt, die eher mit dem dogmatischen Teil sympathisiert. Das könnte bereits eine Vorentscheidung sein, dass für die Fragestellung SPD-Kirche die Biografie unergiebig bleibt.
Die Güte einer Biografie erweist sich darin, dass sie offen bleibt für weitere Fragen. Dafür liefert die vorzügliche, lesenswerte Biografie von Dr. Rüdiger Jarck über Otto Bennemann eine ergiebige Vorlage. Für das erste Kapitel „Es beginnt im Elternhaus im Arbeitermilieu“ hat Otto Bennemann offenbar keine Angaben über die kirchlichen Daten hinterlassen.

Frau Birgit Hoffmann hat aus dem landeskirchlichen Archiv folgende Daten herausgefunden.
Die Eltern von Otto Bennemann, beide schon in der Partei und gewerkschaftlich organisiert, wurden am 8. April 1899 in der Petrikirche kirchlich getraut. Verträgt sich so eine Trauung durch den Klassenfeind mit dem vernichtenden Urteil des historischen Materialismus über die Kirche? Sechs Monate später wird das erste Kind, Anna Luise, in der Michaeliskirche zusammen mit fünf weiteren Kindern getauft.
War der gesellschaftliche Druck auf Bennemanns damals noch so stark?

Auch die folgenden Kinder, Ottos Geschwister, lassen die Eltern in der Michaeliskirche taufen: Elli Gertrud am 20.10.1901, Wilhelm Otto am 12.6.1904 und Albert Edmund am 4.8.1907.
Fast bin ich versucht zu korrigieren: „Es begann in der Michaeliskirche“.

Die Taufe zog damals die Konfirmation nach sich. Auch bei Familie Bennemann in dem viel beschriebenen Arbeitermilieu in der damaligen Weststadt. Die ersten drei Kinder wurden in der Michaeliskirche auch konfirmiert. Die Älteste, Anna Luise, am 30. März 1913 mit 257 anderen Jugendlichen, Elly Gertrud am 11.4.1915 zusammen mit 258 anderen Jugendlichen und Otto Bennemann am 1. 4. 1917 zusammen mit 277 Kindern. Mitten im Krieg! Wie haben die frisch Konfirmierten in ihrem Arbeitermilieu davon erzählt?
Otto Bennemann war zum Zeitpunkt der Konfirmation erst 13 Jahre. 14 Jahre war Vorschrift. Er erhielt eine Sondererlaubnis.

Diese Daten geben Anlass zu mancherlei Fragen, zunächst an die Landeskirche selber:
Wie war es möglich, die Konfirmation und dann das erste Abendmahl zu einer abstoßenden kirchlichen Massenveranstaltung verkommen zu lassen? Wie wurden die Stadtpfarrer ihrer seelsorgerlichen Verantwortung gegenüber den Jugendlichen gerecht? Der Konfirmandenunterricht dauerte damals höchsten drei Monate und fand meist in den Schulen statt. Als eigentlicher Unterricht galt der Religionsunterricht in der Schule.

Die andere Frage: Wie erklärt sich die Lücke in den zahlreichen persönlichen Notizen von Otto Bennemann? Musste sich ein gestandener Braunschweiger Sozialdemokrat solcher Daten schämen? Ist erst die Erwähnung des Kirchenaustrittes parteigerecht? Otto Bennemann war zum Zeitpunkt des Kirchenaustritts 18 Jahre. Da war vermutlich die erste Kirchensteuer zu bezahlen. Oder steckte mehr dahinter? Noch wissen wir es nicht.

Jahrzehnte später mußte Bennemann als Oberbürgermeister die Entdeckung machen, dass die Kirchen nach 1945 anders als es der historische Materialismus prophezeit hatte, nicht untergegangen waren. Sie wurden teilweise sogar eine gesellschaftliche Größe, etwa durch den Katharinenpfarrer Siegfried Stange. Bennemann soll sich in der englischen Kriegsgefangenschaft für andere gesellschaftliche Gruppen geöffnet haben. Pfarrer erwärmten sich sogar für die SPD, wie J.H.Wicke von der Magnikirche. Als Oberbürgermeister sehen wir Bennemann bei kirchlichen Großveranstaltungen neben dem Bischof und dem Braunschweiger Propst abgebildet, in der Weimarer Zeit eine Unvorstellbarkeit.
War es der bürgerliche Akzent in der SPD (siehe oben), der eine Annäherung an eine bürgerliche Kirche ermöglichte? Auf das Verhältnis SPD/ Kirche angesprochen, erwähnte der frühere Propst Klaus Jürgens, das sei zu seiner Zeit entspannt gewesen, Glogowski habe ihn sogar zu seinem 60. Geburtstag unerwartet besucht.

Das Verhältnis ev. Kirche und SPD ist bisher unbearbeitet. Man erzählt, dass Altbürgermeister Glogowski sich für dieses Thema interessiert. Aber wer will das schon von den Genossen bearbeiten? Wenn man sich dazu nicht auf die Stadt Braunschweig beschränkt, wie es ja zumeist die Regionalhistoriker tun, sondern Kirche und SPD in der Fläche betrachtet, ergibt sich noch ein anderes, höchst differenziertes Bild. Ein lohnendes Thema, wozu die Biografie von Jarck über Bennemann ein Anstoß sein könnte.




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