Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Kirche von Unten Nr. 140 - Dezember 2016


Hans-Jürgen Kalberlah – mein geistlicher Vater

von Hans Jörn Hasse
(Download als pdf hier)

In der Nachkriegszeit lernten wir uns kennen. Hans Jürgen Kalberlah, ein Pfarrerssohn aus Braunschweig, hatte 1946-1950 ev. Theologie studiert, war seit 1948 verheiratet und zusammen mit seiner Frau kam er im Zuge des Vikariats für zwei Jahre in die ev. luth. Kirchengemeinde Vienenburg am Harz, von wo aus Hans-Jürgen Kalberlah sein 2. theologisches Examen machte und wo er am 16.12.1951 in der Kirche ordiniert wurde.

Ich als Flüchtlingsjunge aus Hirschberg in Schlesien besuchte in Vienenburg die Schule bis zum Abschluss mit der mittleren Reife, war 1948 von Propst Kirchenrat Ehrhorn konfirmiert worden und begann 1952 die Lehre als Zimmermann in Goslar. Ich gehörte der Ev. Jugend Vienenburg an und war Gruppenleiter in der evangelischen Jugendarbeit, die 1952 ganz in meine Hände übergegangen war. Seit meiner Konfirmation beschäftigte mich der Gedanke, auch Pastor zu werden. Durch Hans-Jürgen Kalberlah wurde ich seit unserer ersten Begegnung in meinem Berufswunsch bestärkt.

Das Ehepaar Kalberlah stellte sich dazu persönlich zur Verfügung, d.h. sie hielten ihre kleine Einzimmerwohnung im Pfarrhaus Bismarckstraße in Vienenburg offen für Treffen und sprachen uns an und trafen sich mit uns im Kreis der Ev. Jugend und ich sehe mich noch in der Wohnung von Kalberlahs sitzen. Nachdem ich von meinem Vater zu Hause immer nur gehört hatte „Aus Dir wird nichts“, höre ich von Kalberlah: „Du kannst das schaffen!“. Seitdem war Hans Jürgen Kalberlah in den Jahren 1952 bis 1966, als ich meine erste Pfarrstelle in St. Lukas in Salzgitter-Lebenstedt zugewiesen bekam, in allen Fragen meiner Aus-, Fort- und Weiterbildung ein väterlicher Berater und brüderlicher Freund.

Die Jugendarbeit der Ev. Jugend erhielt in den 50er Jahren wichtige Impulse durch den Einsatz von drei Diakonen, die nach ihrer Militärzeit im Zweiten Weltkrieg wieder in den Dienst der Landeskirche Braunschweig gekommen waren. Sie nahmen die frühere Tradition der Bündischen Jugend wieder auf und begannen damit, eine neue Jugendarbeit aufzubauen, wozu sie mit dem Motorrad unterwegs waren von Ort zu Ort, um in den Kirchengemeinden des Vorharzes die regelmäßigen Treffen der Gruppen zu leiten.

Von diesem Neuaufbau der Ev. Jugend in der Nachkriegszeit war die Arbeit von H.-J. Kalberlah in Vienenburg bestimmt. Das Ehepaar Kalberlah organisierte u.a. Laienspiele mit Laiendarstellern aus der Ev. Jugend Vienenburg, deren Auftritte durch Kalberlah ihre Professionalität bekamen und mit denen er dann mit uns auf einige Großveranstaltungen auftrat, z.B. auf dem Kreisjugendtag in Vienenburg 1951 mit dem Spiel „Abu Hassan“. Bei Hans-Jürgen Kalberlah lernten wir als Jugendliche vor allem das Sprechen. Er selbst hatte eine geschliffene Art zu reden – besonders bei öffentlichen Auftritten zu weltlichen und kirchlichen Anlässen. Er brachte uns bei, identisch zu sprechen und verstärkte damit die Aussagekraft von Texten und die Authentizität der Redner.

Ich sehe einen aus unserm Kreis beim Üben zum Vorsprechen eines Textes auf einen Stuhl steigen und an der Textstelle, wo er nach Kalberlahs Ansicht „runter“ zu gehen hatte, von dem Stuhl genau passend beim Reden, runtersteigen. So erhielten unsere Worte einen starken Ausdruck, das wollte Hans Jürgen. Und so waren auch die Worte von Hans Jürgen Kalberlah von Ausdrucksstärke und persönlichem Engagement getragen.

Hans Jürgen Kalberlah gehörte zu den Menschen, die wichtig waren für mich, mein Leben und meinen Glauben. Wir waren in unserer Jugend in der Kirchengemeinde Vienenburg umgeben von einer Atmosphäre des Vertrauens, uns wurde der Eindruck vermittelt, dass jeder und jede von uns erwünscht war und erwartet wurde. Gertrud und Hans Jürgen Kalberlah haben uns in der Kirchengemeinde Begleitung und Gesprächsmöglichkeiten gegeben, haben uns unterstützt in unserer Entwicklung und standen uns nahe bei persönlichen Fragen im Glauben. Sie sind uns mit ihrer Meinung und Lebenshaltung im Kleinen und Großen oft eine wichtige Unterstützung gewesen. In meinem Leben waren Kalberlahs Menschen, die mir Ansporn und Ermutigung gewesen sind. Stärkung und Trost; die mir vermittelt haben: Du bist nicht allein. Sie waren mit ihrem Glauben und Leben Personen, die mich geprägt und beeinflusst haben in meinen Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen. Als Kalberlahs Abschied nehmen mussten von Vienenburg, weil Hans Jürgen Kalberlah eine Pfarrstelle in Lunsen zugewiesen bekam, entstand ein Bild, als das Ehepaar abreiste: Sie beide im Kleppermantel auf einem Motorroller, und wir winken den Beiden nach und wünschten ihnen viel Glück und Gottes Segen in der neuen Pfarrstelle.

Persönliche Kontakte und Verbindungen wusste Hans Jürgen Kalberlah immer zu pflegen. In seiner ersten Gemeinde in Lunsen/Thedinghausen, einer Kirchengemeinde mit einer Kirche und mehreren Dörfern nahe der Weser bei Bremen, besuchte ich mit meiner Verlobten die Familie Kalberlah, Vater und Mutter mit zwei Kindern, für uns der Inbegriff von Familie und Pfarrhaus, die wir wohltuend und hilfreich als Beispiel für unsere eigene Lebensplanung empfanden. Sie lebten uns etwas vor bis in die Gestaltung des Alltags einer Pfarrfamilie.

Als ich einmal mit Hans-Jürgen im Pkw durch sein Kirchspiel mit einer Fähre über die Weser gefahren war und wir auf dem Weg nach Hause waren, hielt Hans Jürgen plötzlich unterwegs an, und fragte, ob der Fährmann ihm vorhin bei der Überfahrt nicht zu viel Wechselgeld zurückgegeben habe. Er kontrollierte sein Portemonnai und fand seine Vermutung bestätigt. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er mit dem Wagen um, und fuhr zurück zur Fähre und gab dem Fährmann am Anlieger das zu viel erhaltene Geld zurück. Die Selbstverständlichkeit dieses Handelns hat mich mein Leben lang als leuchtendes Vorbild christlichen Lebensvollzuges begleitet.

Und als wir, meine Frau als Finanzbeamten in Ausbildung und ich als Student der Theologie nach Zimmermannslehre und zweitem Bildungsweg bis zum Abitur in der ev.-luth. Kirche zu Vienenburg getraut wurden und nach dem Segen die Kirche verließen, standen Hans Jürgen und Gertrud Kalberlah, die aus der Gemeinde in Bremen gekommen waren, in der Kirchentür und sprachen uns ihre herzlichen Segenswünsche zu, die uns Zeit ihres und unseres Lebens verbunden haben.

Von der Gemeindearbeit Kalberlahs in der Siedlung Neue Vahr in Bremen erhielten wir sehr interessante Berichte und Anregungen für Gemeindearbeit in einem modernen Siedlungsgebiet einer Stadt. Aus dem Fernsehen übernahmen wir den Filmbericht über die neuen Formen der kirchlichen Arbeit. Für mich als junger Pfarrer in der damals gegründeten Siedlungsgemeinde St. Lukas am Nordrand der Stadt Salzgitter-Lebenstedt war die Gemeindearbeit H.J. Kalberlahs in Bremen beispielhaft. In Salzgitter arbeiteten wir damals gleichzeitig mit dem Konzept der „Kirche für andere“ in Kombination mit der Gemeinwesensarbeit mit dem Schwerpunkt von Kinder- und Jugendarbeit.

Hans-Jürgen Kalberlah kam – nachdem wir 1968 in unserer Landeskirche in Braunschweig das dreiwöchige Konfirmanden-Ferien-Seminar eingeführt hatten, mit einer Konfirmandengruppe aus der Neuen Vahr in Bremen mit nach Südtirol in das KFS.

Seit 1973 war Hans-Jürgen als Propst in Goslar tätig, und schon 1974 beriet ich mich mit ihm über meinen Stellenwechsel der nach 8 Jahren Gemeinde-Aufbauarbeit in Salzgitter für die Pastoralpsychologische Weiterbildung zur Seelsorge Aus- Fort und Weiterbildung in unserer Landceskirche von Bischof Heintze an mich herangetragen worden war, Die Entscheidung wurde zusammen mit Hans Jürgen Kalberlah in nächtlicher Beratung bei ihm in Hause gefunden, wodurch ich 1974 an die Stephanikirche zu Goslar kam, eine Gemeinde mit der Beratungsstelle St. Stephani, die seinerzeit ein Vorzeigemodell kirchlicher seelsorgerlicher Angebote der Kirche war mit hoher Fachkompetenz unter Einbezug moderner Humanwissenschaften. Dieser Linie folgte Hans-Jürgen Kalberlah auch in seiner Mitarbeit in der Ev.-luth. Liturgischen Konferenz Deutschlands. Kalberlah brachte aus dieser Arbeit in der Liturgischen Konferenz sehr frühzeitig Anregungen in unsere Gottesdienste ein, z.B. die Arbeitsvorlage für Segenshandlungen, die für die Pfarrerschaft in der Landeskirche Braunschweig von Hans Jürgen Kalberlah und Dietrich Kuessner herausgegeben wurden und die in unserer Landeskirche richtungsweisend gewesen sind. Aus der Arbeit der Liturgischen Konferenz brachte uns Hans-Jürgen Kalberlah als Propst in unsere Gemeinden viele Anregungen für den Vollzug unserer Gottesdienste und Amtshandlungen, so z.B. das Hinausgehen der Gemeinde nach dem im Stehen empfangenen Segen am Schluss des Gottesdienstes – ohne nochmaliges Hinsetzen beim Orgelnachspiel. Dieser Abschluss hat sich als angemessene Form für den Vollzug des Sonntagsgottesdienstes in der Kirchengemeinde St. Stephani in Goslar bis heute erhalten, für mich jeden Sonntag in memoriam Hans-Jürgen Kalberlah.

Hans Jürgen Kalberlah hat in seiner Zeit als Propst die Atmosphäre in der Pfarrerschaft in besonderer Weise geprägt: Der Konvent und das Geistliche Ministerium, ein Gremium der Pfarrer in der Stadt Goslar, wurde durch Familiarität bestimmt, die Hans Jürgen Kalberlah einbrachte. Die Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihren Familien fühlten sich untereinander sehr verbunden, regelmäßige Familienzusammenkünfte an verschiedensten Orten in der Propstei, das St. Annenmahl, eine Abendmahlsfeier der Pfarrer mit ihren Ehepartnern mit anschließendem Essen in dem St. Annenhaus mit Kapelle, einem alten Stift der Stadt Goslar. Hans-Jürgen und Gertrud Kalberlah führten auch regelmäßige Pfarrerbälle in Goslar durch. Das Klima in der Propstei Goslar war unter Kalberlahs Leitung von Verbindlichkeit, gegenseitigem Vertrauen und offenem Miteinander bestimmt.

Auch im ökumenischen Bereich der Kirchen kam es zunehmend zu einem freundschaftlichen Verhältnis aller Geistlichen untereinander, was allerdings auch in klarer Auseinandersetzung zum Ausdruck kam, wenn es nötig war, wobei Hans Jürgen Kalberlah immer auch als hartnäckiger Verhandlungspartner galt und damit ungemütlich war. „Tradition bewahren heißt nicht, eine Asche aufbewahren, sondern eine Flamme am Brennen halten“, erklärte Hans-Jürgen Kalberlah einmal in der Goslarschen Zeitung. Kalberlahs Zeit in Goslar war eine besondere Ära im Laufe der Kirchengeschichte vor Goslar vor Ort: ein Höhepunkt der Volkskirche mit sehr fortschrittlichen Ansatzpunkten und Ausdrucksformen. Sie wurden mit Hans Jürgen Kalberlah zum Zeichen und Beispiel einer kirchlichen Gemeinschaft, die in gegenseitiger Verbundenheit lebt und wirkte.

1988 trat Hans Jürgen Kalberlah in den Ruhestand, den er bis 2005 mit seiner Frau Gertrud erleben konnte. Darüber hinaus lebte er die weiteren Jahre in Braunschweig im Kreis guter Freunde und Weggefährten, die nach seinem Tode am 13. September 2016 zu seiner Beerdigung zusammenkamen.

Als wir Abschied nahmen, hatte ich wieder das Bild von unserm ersten Abschied in Vienenburg vor Augen und ich dachte an den Brief, den Hans-Jürgen Kalberlah vor 4 Jahren an seine Freunde geschrieben hatte:

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe/ bereit zum Abschied sein und Neubeginne/ um sich in Tapferkeit und ohne Trauern/ in andre neue Bindungen zu geben..“
„Diese Verse aus Hermann Hesse, Stufen, kommen mir in den letzten Wochen immer wieder in den Sinn; denn wieder einmal muss ich meine Wohnung wechseln. Vom 2. März an habe ich eine neue Bleibe im hiesigen Augustinum. Das Wohnstift liegt zwar nur etwa einen Kilometer von meinem alten Domizil entfernt - aber der Auszug und der Umzug!
In unserer Ehe hatten wir das ja zehnmal zu bewältigen,.. Den Hausstand, der sich in den letzten sieben Jahren nicht gerade verkleinert hatte, musste ich – mit Hilfe guter Freunde – weitgehend rigoros verkleinern, um auf das Maß von 39 qm für 1½ Zimmer zu kommen. Das war natürlich manchmal recht schmerzlich. Vieles, was mir wichtig gewesen war – besonders bei den Büchern – musste ich weggeben. Daß es beim Durchsehen auch zu erfreulichen Wiederbegegnungen gekommen ist, will ich gerne bekennen....
Was ich mir für die Zukunft erhoffe, steht für mich unter dem Apostelwort, das schon meinen Vater und Großvater geleitet hat: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu140/kalberlah2.htm, Stand: Dezember 2016, dk