Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

(Download des Textes als pdf hier)


„Zum 90. Geburtstag der Demokratie im Braunschweiger Land“

„Novemberrevolution in Stadt und Land Braunschweig – Mythos und Wirklichkeit“

Vortrag am 8.11.2008 im Landesmuseum Braunschweig
von Dietrich Kuessner



Werte Freunde der Braunschweiger Landesgeschichte,
ich gliedere mein Referat in folgende zwei Teile: 1. Gründe und Anlass der Novemberrevolution, und 2. ihr Verlauf und ihre Vision, und will versuchen, die mit der Novemberrevolution verbundenen Legenden zu entmythologisieren.
Ich beziehe mich vor allem auf die Arbeiten von E.A. Roloff „Braunschweig und der Staat von Weimar“ 1964, Friedhelm Boll „Massenbewegungen in Niedersachsen 1906-1920“ erschienen 1981 und H.U. Ludewig „Der erste Weltkrieg und die Revolution 1914-1918/19“ in der Landesgeschichte aus dem Jahr 2000.

I. Die Gründe


Also 1. wie kam es dazu. Darüber kursieren zwei Versionen.

Version 1
Für die Generation unserer Väter meuterten Anfang November die Matrosen in Kiel, hissten die rote Fahne auf Schiffen und Gebäuden und forderten die Einführung von Sozialismus und Diktatur des Proletariat. Dazu waren sie von russischen Agitatoren aufgestachelt, die mit pazifistischer Propaganda die Soldaten kriegsmüde und kommunistisch gemacht hätten. Nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland nun eine Novemberrevolution 1918 im Deutschen Reich. Damit wären die Matrosen der deutschen Front dochstoßartig in den Rücken gefallen, denn die Niederlage stand noch keineswegs fest. „Bolschewistische Sturzwelle“, lautete der Aufmacher in den Braunschweiger Neusten Nachrichten am 8.11.1918 zu den Ereignissen in Kiel.

Jahrelang verbreiteten die Braunschweiger Landeszeitung und die Braunschweiger Neusten Nachrichten diese Version, etwa aus Anlass des sog. Dolchstoßprozess 1925 in München, in dem der Richter entschieden hatte: „Die hochverräterischen Umtriebe der äußersten Linken sind erwiesen,“ so die Überschrift in der Landeszeitung. Die Kieler Vorgänge: Meuterei und Hochverrat.

Version 2
Schon einen Monat später aber kursierte in Braunschweig eine völlig entgegengesetzte Version. Die Braunschweiger standen Schlange vor dem Volksbuchladen und verlangten nach einer Broschüre des SPD Reichstagsabgeordneten Wilhelm Dittmann unter dem Titel „Die Marine-Justizmorde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 1918“ Berlin 1926. Mit Kommunismus hätten die Matrosen wenig bis nichts zu tun gehabt, sondern für erträgliche Verpflegung, gerechtere Urlaubsregelung, gegen Schikane der Seeoffiziere und für einen baldigen Waffenstillstand gestreikt. Also kein kommunistischer Aufstand sondern ein Streik. Unmittelbarer Anlass war die Absicht der Admirale, noch einmal auf hoher See den Endsieg herbeizuzwingen oder heroisch unterzugehen. Das jedoch war gegen die politische Absicht der neuen Berliner Regierung. Es handelte sich also um eine Meuterei nicht der Matrosen sondern der Seekriegsleitung gegen die Berliner Reichsregierung in Berlin, die Frieden machen wollte.

Diese zweite Version ist durch Sebastian Haffners „Die deutsche Revolution 1918/1919“ in Westdeutschland 1979 bekannt geworden, und hat sich allgemein in der neueren historischen Forschung durchgesetzt.
Die Gründe für die Novemberevolution lagen also, wie schon Ludewig hervorhebt, weit zurück bis in die ersten Weltkriegsjahre und ihr Anlass war der Marinestreik in Kiel.
So wurde die hässliche Dolchstoßlegende entmythologisiert. Richtiger: die Dolchstoßlüge widerlegt.

II. Der Verlauf


Die Novemberrevolution verlief in dreifacher Form: als Explosion, als Operation, als Vision: als einmalige Explosion von wenigen Tagen, als Operation für die nächsten Monate, kein einmaliges Ereignis sondern ein Prozess, schließlich als Vision für die weitere Zukunft.

1) Als einmalige Explosion: der Streik bei den Matrosen hatte längst auch auf das Heer übergegriffen. In zahlreichen Feldpostbriefen und bei ihrem Heimaturlaub berichteten die Soldaten von der katastrophalen Ernährungslage an der Front. Die Soldaten hungerten, litten unter entwürdigender Behandlung, hatten überhaupt keine Hoffnung auf einen militärischen Sieg und desertierten daher seit Sommer 1918 in Massen. Diese Stimmung breitete sich auch in den Heimatgarnisonen aus, auch in den Garnisonen von Braunschweig, Wolfenbüttel, Blankenburg, Holzminden und in Lazarettstädten wie Bad Harzburg.
Ebenso schlimm sah es in der Bevölkerung in der Heimat aus: sie hatte den Krieg satt, war vollständig entkräftet, entnervt vom Ausnahmezustand, der vier Jahre lang drückend geherrscht hatte, und hatte nur noch einen Wunsch: Schluss mit dem Krieg. Es kann nur besser werden.

In der Dunkelheit des 7. November 1918 fanden sich in Braunschweig 200-300 Matrosen, Soldaten und Passanten zu einer Demo durch die Stadt zusammen, holten aus dem Rennelberggefängnis zahlreiche Gefangene, eine Gruppe besetzte den Bahnhof, hier mischten sich Jugendliche und Arbeiter mit einer roten Fahne unter die Demonstrierenden. Die Schlosswache ging mit Trommelwirbel zu den streikenden Soldaten über; und auch ein Teil der Garnison der Infanteriekaserne am Fallerslebertor und der Husarenkaserne zeigte Sympathie; in der Münzstrasse wurde das Polizeipräsidium besetzt.
Die Revolution als einmalige Explosion gestaltete sich bildlich gesprochen als ein mehrtägiges Feuerwerk im ganzen Herzogtum am Wochenende des 9. /10. November. Zehntausend trafen sich in Wolfenbüttel auf dem Stadtmarkt, viele Tausende auf dem Holzmarkt in Helmstedt, in Bad Harzburg vor dem Kurhaus, eine Friedensdemo zog am Sonntag in Schöningen zum Markt, und überall ausgelassene Freude über das Ende des Polizeistaates Hindenburgs und Ludendorffs und dessen Ausnahmezustandes. Man konnte sich versammeln und reden und kritisieren, ohne zu befürchten, denunziert zu werden. Man konnte drucken und verteilen, ohne zu fragen.

Der größte Knaller, um im Bilde vom Feuerwerk zu bleiben, war die Abdankung des Herzogs am Freitag abend vor den Augen von geschätzt 20.000 Braunschweigern auf dem Schloßplatz, die seit einer Woche auf den ersten Seiten der Regionalblätter von der sog. Kaiserfrage lesen konnten, nämlich, dass und wann der Kaiser abdanken würde. Am Freitag Mittag sollte es soweit sein, am Abend war es dann soweit, der Herzog kam nicht persönlich, sondern eine Abdankungsurkunde wurde verlesen. Mit dem Herzog ging der ganze anachronistische Hofstaat, den sich das bürgerlich, industrielle Braunschweig als Hingucker hielt, in die Luft: der Oberstallmeister Freiherr v. Girsewald, der Oberhofzeremonienmeister Freiherr v. Münchhausen, Cuno, der Oberschlosshauptmann Freiherr v. Wangelheim, der Oberkammerherr Freiherr v. Münchhausen, Heyno, Rittergutbesitzer v. Vahlberg, der Hofmarschall v. Klencke, der Zeremonienmeister Cramer v. Clausbach, Rittergutsbesitzer von Lucklum, insgesamt 53 Bedienstete: vier Kammerdiener, sechs Lakaien, 13 Schloßdiener, ein Mundkoch, zwei Hofköche, ein Mundschenk, ein Konditoreidiener, ein Silberkammervorsteher, ein Silberlakai, eine Silberwäscherin, eine Leinenkammervorsteherin. Das alles für eine vierköpfige Familie, die sich beruflich noch nicht qualifiziert hatte.
Ohne ein Abschiedswort verliessen der 30jährige Herzog und seine 27jährige Frau am Morgen des nächsten Tages Braunschweig in Richtung Blankenburg, wo die zwei kleinen Kinder waren.
Die spätere Revolutionsregierung sorgte sich übrigens rührend um die Belegschaft und kommentierte den hohen Staatszuschuß von 1,2 Millionen in ihrem ersten modernisierten Staatshaushalt 1919/20 im März 1919: „Die fest angestellten Beamten sind noch mit vollen Gehaltsbezügen eingestellt“.

Veranstalter dieses „Feuerwerkes“ waren also die Soldaten und die völlig entkräftete, niedergeschlagene Bevölkerung, nicht „die Arbeiter“, nicht die Sozialdemokraten, auch nicht die radikalen Linken. Es gab in Braunschweig an diesem Novembertag keine gut organisierte, zum Umsturz der Verhältnisse bereite, linke Gruppe als Auslöser der Revolution – soweit zur Entmythologisierung der linken Literatur, die sich den Anfang der Revolution gerne an ihre Fahnen heften. Oder von rechts heften lassen.

Es gab drei Gruppierungen: nämlich die MSPD, d.s. die Mehrheitssozialdemokraten, die im Stadtparlament und auch in Gemeindeparlamenten, sogar im Reichstag, aber nicht im Braunschweiger Landtag vertreten waren. Sie wurde vom Juristen Dr. Heinrich Jasper geleitet, waren aber am 7. und 8. November untätig. Es gab die Unabhängigen Sozialisten, die USPD, die sich von den gemäßigten Sozialdemokraten organisatorisch und inhaltlich getrennt hatten. Sie wurden von dem aus Bayern stammenden Journalisten Sepp Oerter geführt, der erst am 8. November abends in Braunschweig eintraf. Von der USPD hatte sich eine weitere linksradikale Gruppe, der sog. Spartakus, abgespalten, geleitet vom Arbeiter August Merges. Dort befanden sich jugendliche Arbeiter, die zwar auf ein Signal zum Losschlagen aus Berlin gewartet hatten, das aber nicht kam.
Diese drei linken Parteigruppen bekämpften sich untereinander teils erbittert bekämpften und bildeten keine revolutionäre Einheitsfront. Eine dramatische innerparteiliche Streitfrage in diesen Novembertagen war z.B. : wem gehört die Parteizeitung „der Volksfreund“: den gemäßigten MSPD oder den radikaleren USPD? So kam es zur grotesken Situation, dass am ersten sog. Revolutionstag die linken Sozialisten den rechten Sozialdemokraten das Verlagsgebäude des Volksfreund wieder abnahmen. Keiner kam auf die Idee, zunächst einmal die Redaktionsräume der bürgerlichen Zeitungen zu besetzen. Kurz: es gab in Braunschweig keine straff organisierte Linke, die auf eine Revolution hinarbeitete.

Aber es verbreitete sich unter der Bevölkerung eine Atmosphäre des Aufatmens, der Befreiung, dem Gefühl, dass ein Wechsel bevorsteht, das was Neues, Hoffnungsvolles kommt Da trafen sich spontan wildfremde Leute, die politisch mitmachen und Verantwortung übernehmen wollten. Sie kamen aus unterschiedlichen Kreisen, diskutierten die Lage, und planten. Und dieser Atmosphäre entstand der Arbeiter – und Soldatenrat, der in dieser ersten kurzen Phase der Revolution mich ganz von ferne an eine Art Bürgerrechts- und Friedensbewegung erinnert. Man bestimmte auf Zuruf einen sog. Arbeiterrat. Die Soldaten trafen sich und bildeten einen Soldatenrat, beide mit ganz unterschiedlichen Zielen: die einen wollten Sozialismus, die andern innersoldatische Reformen. Soldatenräte hatte es schon an der Front zur Überwachung der Lebensmittelverteilung und als Kummerkasten der Einheit gegeben. Da die Lebensmittelversorgung durch den Lieferstreik vieler Landwirte und durch den Schwarzen Markt dramatisch gestört war, übernahmen die A.u.S.Räte der ersten Stunde spontan die Überprüfung der Lebensmittelvorräte bei denen, wo sie dieselben gehortet vermuteten und sie erzielten nicht kleine Erfolge.

2) Die Revolution als längerfristige Operation, als politische Handlungsebene: nach dem Feuerwerk am Sonntag nun als der Alltag der Revolution. Der klang bereits im ersten Aufruf der Revolutionsregierung an. Der A.u.S. Rat wolle zwar „im Braunschweigischen Lande die Revolution restlos durchführen und die sozialistische Republik organisch aufbauen“, aber nicht von heute auf morgen, sondern das wäre „allein das Werk einer organischen, gesetzlichen Umgestaltung durch die Macht und den Willen des Volkes.“

a) Die erste Handlungsebene
Daher bestimmte das gewiss Wichtigste und Folgenreichste der Gesetze der ersten Stunde der Revolutionsregierung, dass alle bisherigen Landesgesetze, Verordnungen, Bekanntmachungen und sonstige Verwaltungsanordnungen weiterhin in Kraft bleiben sollten.
Damit war überaus pragmatisch eine Handlungsebene für eine Umgestaltung zu einer sozialistische Gesellschaft geschaffen, die also auf leisen Sohlen, nach und nach, die bisherigen Landesgesetze aufhebend und verändernd das Land erreichen und umgestalten sollte. Das war die gemäßigte Version.
Es gab auch eine explosive Version, die sozusagen das „Feuerwerk“ im Alltag fortsetzen wollte, nämlich die sofortige Sozialisierung von Betrieben und Gesellschaft. nicht organisch, sondern mit einem Schnitt. Aber die Spartakisten und linken Unabhängigen Sozialisten setzten sich nicht durch, weil sie hier nicht alltagstauglich war. Ihre Verfechter schieden in den nächsten fünf Monaten im April 1919 aus dem politischen Geschehen in Folge völliger Isolierung, aber nicht freiwillig aus. Zu ihnen gehörte der bekannte erste Präsident der proklamierten sozialistischen Republik Braunschweig, der Arbeiter August Merges.

b) Eine zweite Handlungsebene ergab sich aus der Abdankungsurkunde, die dem Herzog von einer Bürgerdelegation vorgelegt wurde. Sie lautete: „Ich, Ernst August, Herzog von Braunschweig und Lüneburg erkläre, dass ich für mich und meine Nachkommen auf den Thron verzichte, und die Regierung in die Hände des Arbeiter- und Soldatenrates lege.“ Der Herzog ist also nicht abgesetzt worden. Die Bürgerdelegation sagte ihm nicht: Hiermit setzen wir Sie ab. Keinen Ton mehr, sonst sind Sie ein toter Mann. Er ist schon gar nicht, wie die Braunschweiger Zeitung gestern, am Freitag, titelte, von Arbeitern „gestürzt“ worden. Sondern die Delegation überließ die Initiative dem Herzog.
Der Herzog war also nicht abgesetzt, nicht gestürzt, sondern er hatte abgedankt, und außerdem, wie es in dem ihm vorgelegten Dokument hieß, „die Regierung in die Hände des Arbeiter – und Soldatenrates gelegt“. Ob der Herzog diese Formulierung gewählt hätte, ist ungewiss. Es war die Formulierung der Delegation. Darauf hatte sie Wert gelegt. Also eine Art förmliche Regierungsübergabe, schriftlich beurkundet. Eine Revolution nicht aus der alleinigen Kraft und Vollmacht des Volkes, sondern die regierende Gewalt aus den Händen des abdankenden Herzogs empfangen.

Das war entscheidend für die Weiterarbeit im Lande: Bürgermeister Eyferth erwähnte
in seiner Ansprache vor den ca 10.000 Wolfenbüttler ausdrücklich die förmliche, herzogliche Übergabe der Regierungsgewalt an den Arbeiter- und Soldatenrat, wie auch der Helmstedter Bürgermeister Schönemann. Eyferth begründete damit „die unabweisbare Pflicht, sich den Anordnungen der neuen Regierungsgewalt“ zu unterstellen. Man habe also auftragsgemäß die Verwaltung der Stadt von diesem übernommen und werde dieselbe in bisheriger Weise weiter fortführen“. Tags zuvor hatte er symbolisch die Polizeigewalt dem Arbeiter- und Soldatenrat übergeben. Danach ging der geschäftsmäßige Gang der dortigen Verwaltung weiter wie zuvor. Denn am Abend fand eine außerordentliche Stadtverordnetenversammlung statt. Der Bürgermeister lobte das maßvolle Auftreten des Arbeiter- und Soldatenrates, und die Abgeordneten berieten über die Sicherung der Lebensmittelversorgung, die sofortige Aufnahme der Arbeit in den Fabriken und die Möglichkeit der Beschäftigung der heimkehrenden Soldaten. Von Diktatur des Proletariats oder Sozialismus keine Spur. In Schöningen war der 1. Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrates Heinrich Wassermann zugleich Mitglied der Schöninger Stadtversammlung und verknüpfte auf diese Weise die explosive mit der operativen Phase.

Die Wende als Regierungswechsel ermöglichte es den bürgerlichen Verbänden, den Beamten, Juristen, den Lehrern nach wenigen Tagen förmlich zu erklären, dass sie sich auf den Boden der neuen politischen Tatsachen stellen und ihre Mitarbeit zur Verfügung stellen würden. Also: eine bürgerliche Revolution, die den Reformstau der letzten Jahre beseitigen wollte?

c) Die Revolution ruhte auf zwei Schultern:
c 1) Ein Träger dieser zweiten Phase war die neue Revolutionsregierung, die die alte herzogliche Regierung der Staatsminister ablöste:
In Braunschweig hatte sich am ersten herzogfreien Sonntag dem 9. November ein großer, festlicher Umzug mittags mit Musikkapelle zum Landtagsgebäude bewegt, wo der Braunschweiger Arbeiter- und Soldatenrat den Regierungswechsel feierte, Sepp Oerter vom Balkon des Gebäudes die sozialistische Republik proklamierte, August Merges zum Präsidenten der Republik Braunschweig gewählt und die neuen Minister mit dem neuen Namen Volksbeauftragte bekannt gegeben wurden. Unter ihnen war Minna Fasshauer, eine überzeugte Spartakistin, eine durch und durch politische Frau und daher ein bevorzugtes Hassobjekt der Bürgerlichen und der Landeskirche, denn sie widersprach fundamental deren unpolitischen Frauenbild „Küche, Kinder, Kirche“.
Tragend für diese Alltagsphase war es, dass die Ebene der leitenden Regierungsräte erhalten blieb und große Bedeutung für die künftige Arbeit gewann. In der Staatskanzlei blieb der Geheime Regierungsrat Paul Albrecht tätig, 45 Jahre alt. Er blieb bis 1933. Regierungsrat Paul Kiesel (1877-1959) war seit 1911 im Staatsministerium und blieb bis 1945. Regierungsrat Alfred Dedekind (1875-1947) arbeitete seit 1914 im Staatsministerium und wurde 1922 Ministerialrat. Der Kanzleidirektor Wilhelm Weißing (1866-1944), der die Behörde von der Pieke auf kannte, nannte sich nunmehr Ministerialbürodirektor und überlebte alle verschiedenen Regierungen bis zur Pensionierung 1932. Der Gesandte Friedrich v. Boden (1870-1947) vertrat weiterhin Braunschweig in Berlin. Mit dieser Ministerialbürokratie war eine Diktatur des Proletariats oder eine sozialistische Republik nicht durchzusetzen.
c 2) Durchsetzen sollte dies der andere Träger der Revolution, der Arbeiter- und Soldatenrat. Aber in dieser 2. Phase war der Schmelz der spontanen Bürgerrechtsbewegung schon dahin und durch gesetzliche Formen kanalisiert und gehemmt. Er wurde nicht mehr durch Zuruf bestimmt, sondern von einer begrenzten Zahl nämlich der Gruppe krankenkassenversicherter Arbeiter förmlich gewählt. Ein Gesetz bestimmte, dass er vor allem die Tätigkeit aller Beamten und der Gemeindevertretungen kontrollieren sollte (§ 6). Dabei war er vollständig überfordert.
Das Gesetz bestimmte weiter, dass auf jedem Dorf ein A.u.S. Rat gewählt werden sollte. Dies misslang. Es gab ihn zwar in allen Städten, aber nur in jedem zweiten Dorf. Besondere Schwierigkeiten ergaben sich, wenn in ihre Heimat entlassene Soldaten in ihren Orten auf Soldatenräte stießen, mit denen sie nicht einverstanden waren. In Schlewecke wählten die entlassenen Soldaten eine neuen dreiköpfigen Soldatenrat und beseitigten den alten. In Velpke wurden aus Protest gegen den bestehenden A.u.S. Rat ein neuer dreiköpfiger Soldatenrat gewählt, der allerdings aus „zwei Plantagenbesitzern und einem Studenten“ bestand. Der gewählte A.u.S. Rat schäumte. „Die Arbeiterschaft protestiert dagegen, weil sich diese kleine Clique von Blutsaugern nicht mehr unterordnen will, die sie hier vier Kriegsjahre ausgebeutet hat.“
Als viel sinnvoller erwies sich auf den Dörfern die Bildung von Bauernräten. Diese waren eine Anregung der Berliner Reichsregierung zur Versachlichung der Arbeit auf dem Lande und zur Konkurrenz oder gar Entmachtung der ungeliebten A.u.S. Räte. Sie sollten beim Erfassen und Schutz der vorhandenen Lebensmittel mitwirken und beraten, landwirtschaftliche Betriebe erhalten ( und nicht sozialisieren), Saatgut sichern, bei der Einstellung von Kriegsteilnehmern und der Beschaffung von Wohnraum mitwirken. Solche Bauernräte wurden in Vorsfelde und Söllingen gewählt. In Calvörde war auf einer Versammlung mit 500 Teilnehmern auf Zuruf ein Bauern-Arbeiter- und Soldatenrat gewählt worden. Die Kreisdirektoren hatten förmlich den Gemeindevorstehern empfohlen, Bauernräte oder Bauern- und Landarbeiterräte zu bilden und sogar verschiedene A.u.S. Räte dafür aufgehoben. Wie z. B. in Süpplingen. Das hätte viel Verwirrung und Kompetenzstreitigkeiten mit den A.u.S. Räten herbeigeführt, beklagte sich Volkskommissar Oerter und ordnete daraufhin an, dass auch in jeder Kreisdirektion zwei A.u.S. Räte Kontollfunktionen ausüben sollte, was die Kreisdirektoren schwer verärgerte.
Auf die Dauer scheiterte die Arbeiterräte daran, dass sie über keine eigenen Kassen verfügten, sondern die einfachsten Auslagen wie Büromaterial, Plakate u.a. sich erbetteln mussten, und eine Instanz die Zahlung an die nächst höhere verschob. Außerdem erwiesen sich die in den Verwaltungen etablierten Arbeiterräte als Doppelstruktur, denn es gab für die Lebensmittelverteilung natürlich in den Verwaltungen längst entsprechende Abteilungen. So verglühten die Arbeiter u. Soldatenräte schließlich im Laufe des Jahres 1919 und verschwanden.

d) Zwei Gesetze hingegen wurden Jahrhundertereignisse, nämlich das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche auf dem Schulgebiet, wodurch die Schulverwaltung in ausschließliche staatliche Verwaltung genommen wurde, wie wir es heute gewohnt sind und die Verkündung des allgemeinen Wahlrechtes für Männer und Frauen ab 20 Jahre.
Damit war das hässliche Dreiklassenwahlrecht beseitigt, das den wenigen Meistverdienenden weil Meiststeuerzahlenden genauso viel Stimmen einräumte wie den vielen, geringe Steuern zahlenden Einwohnern. Jetzt: ein Mann, eine Frau, ab 20 Jahre eine Stimme, unabhängig vom Einkommen. Der Gutsherr hatte nicht mehr politische Macht als sein Knecht. Das war ein demokratischer Durchbruch, auch für das stimmungsmäßige Bewusstsein innerhalb einer Dorfgemeinschaft.
Der sog. Novemberrevolution hat Braunschweig sein demokratisches Wahlrecht zu verdanken, wahrlich für alle Parteien ein gewichtiger Anlass, dieses Tages auch heute noch angemessen und festlich zu gedenken. Wer die Demokratie lieb hat, kann seine Geburtstunde nicht vergessen. Diese Vergesslichkeit ist ein Zeichen für den erbärmlichen Geisteszustand der klassischen Parteien. Dieses Wahlrecht ist Sepp Oerter zu verdanken, der es gegen die Spartakisten und den linken Flügel seiner eigenen Partei durchsetzte. Oerter wurde wegen Korruptionsvorwürfen 1921 aus der USPD ausgeschlossen und trat 1924 der NSDAP bei, was aber sein Verdienst bei der Einführung des Wahlrechtes nicht schmälern dürfte.

Es wurden Kommunalwahlen für den 15. Dezember und Landtagswahlen für den 22. Dezember angesetzt. Das Ergebnis der in der Forschung wenig beachteten Kommunalwahl am 15.12.1918 war ein Sieg der Demokratie. Sie verlief in der Stadt Braunschweig und auf dem Lande völlig unterschiedlich. In der Stadt Braunschweig hatten sich in der politischen Aufbruchstimmung, die der Zusammenbruch des monarchistischen Systems freisetzte, in einem unerhörten Eiltempo mehrere bürgerlichen Parteien gebildet: der Landeswahlverband auf der Rechten und die Linksliberalen. Erstmals stellten sich die 1917 gebildete USPD einer Wahl. Das Wahlvolk wählte in der Stadt Braunschweig zwischen vier Parteien, wie sie sich auch für die Landtagswahl präsentierten: USPD – MSPD – DVP (später DDP) – LWV.
Dabei erhielt die USPD als alleiniger Träger der Revolution 23.534 Stimmen (12 Sitze), gegenüber 49.814 Stimmen der drei anderen Parteien insgesamt 24 Sitze.
DVP (spätere DDP): 18.067 (9 Sitze); MSPD 17.155 (8 Sitze) ; LWV 14.592 ( 7 Sitze).
Dieses Ergebnis in der Landeshauptstadt, dem Zentrum des revolutionären Aufbruchs, hätte für die Regierung der Volksbeauftragten eine Warnung sein müssen.

Auf dem Lande gab es dagegen entweder eine bürgerliche und eine sozialistische Liste, von denen der Wähler eine wählen konnte, oder nur eine einzige Liste, was eine Wahl überflüssig machte. Die aufgestellten Kandidaten galten dann als gewählt. In Ausnahmefällen kam es auch vor, dass gar keine Liste eingereicht worden war, weil die bisherige Zusammensetzung weiterbestehen sollte.
Ergebnis: alle Städte (Blankenburg, Wolfenbüttel, Helmstedt, Bad Harzburg, Holzminden, Gandersheim, Seesen) erhielten bis auf Schöningen bürgerliche Mehrheiten. Anders in den Dörfern: 14 Ortschaften hatten bürgerliche Mehrheiten, aber 46 linke Mehrheiten.
Es muß offen bleiben, welche Art von „sozialistisch“ die Liste auf den Dörfern vertrat, ob mehr in die Richtung der radikalen USPD oder der gemäßigten MSPD. Es ist eher zu vermuten, dass für die Dorfwähler derartige Unterschiede nicht von Belang oder gar parteipolitisch zu durchschauen waren.
Sehr viel häufiger scheint jedoch nur eine Liste eingereicht worden zu sein. Das konnte bedeuten, dass sich das Dorf einer bestimmten Art von Parteipolitisierung entzog. Über die Gemeinderatswahl in Reinsdorf bei Schöningen teilte die Verwaltung der Regionalpresse mit: „So wie bei der Aufstellung der Liste Einigkeit zwischen den Parteien herrschte, wird sie auch bei den Beratungen sich erzielen lassen, denn die Hauptsache ist und bleibt für alle Gemeindeangehörige: das Wohl der Gemeinde.“ Es konnte aber auch bedeuten, dass die alten einfach weitermachen wollten.
In Lehre traf sich der alte Gemeinderat mit anderen Bürgern in der Gastwirtschaft Widdecke und stellte eine Liste auf. Vorneweg der Kantor des Dorfes, dann vier größere und kleinere Landwirte, der Stellmachermeister und Schuster, und zwei Arbeiter. Der Gemeindevorsteher, der auch gerne ein Bier trank, sah sich die Liste an und sagte: Wollt ihr nicht auch paar neue aufnehmen? bekam zur Antwort: die können ja eine eigene Liste aufstellen. Die – das waren die Parteileute von der Linken.
Umgekehrt war in Apelnstedt nur eine Liste eingereicht worden, aber dort waren nur Arbeiter vertreten. Ich würde nicht sagen, dass die Aufstellung nur einer Liste ein undemokratisches Verhalten war.
Es kam auch vor, dass gar keine Liste aufgestellt wurde, z.B. in Nordassel, aber die Wahlberechtigten kamen. Sie behalfen sich, indem die Wähler einige Namen auf einen Zettel schrieben und wer die meisten Stimmen hat, galt als gewählt. So geht es aber nicht, meinte Kreisdirektor Floto in Wolfenbüttel und ordnete eine Neuwahl an.

Als gesichertes Ergebnis der Kommunalwahl 1918 kann gelten, dass sich im Freistaat Braunschweig die bestehende stabile demokratische Struktur von Gemeindevorsteher und Gemeinderat, von Stadtversammlung und Bürgermeister, von Kreisdirektor und Kreisversammlung weiter festigte. Überspitzte sozialistische Experimente stießen auf der unteren kommunalen Ebene auf einen eher ideologiefeindlichen rustikalen Pragmatismus. Nach der Kommunalwahl wurde die Zusammenarbeit zwischen A.u.S.Räte und Kommunalbehörden viel schwieriger, weil sich die Kommunalbehörde demokratisch legitimiert hatte und die bürgerlichen Mehrheiten in den Städten sich eine weitere Kontrolle nur widerwillig gefallen ließen.

Die Landtagswahl eine Woche später brachte ein ähnliches Ergebnis: die revolutionären unabhängigen Sozialisten erhielten von den 60 Mandaten nur 14, die MSPD dagegen 17, der rechte Landeswahlverband 16 und die linksliberale Deutsche Demokratische Partei 13 Sitze.
Mit diesem Ergebnis konnte sich die Revolutionsregierung nicht mehr auf den Willen und die Mehrheit des Volkes berufen. Es begann ein dreimonatiger Kampf um die Legitimation des Landtages, was nicht mehr das Themas des heutigen Tages ist.

3. Visionen der Revolution
Nach der Revolution als Wochenendexplosion und als Arbeitsprogramm, Operation, der nächsten Wochen nun der visionäre Aspekt der Revolution. Zu den typischen Kennzeichen der ersten Tage gehörte zwei Visionen: a) die linke Vision einer Sozialisierung des Landes und b) die Vision eines entmilitarisierten, garnisonfreien Braunschweig.

a) Die linke Vision von einer Sozialisierung des Landes
Im alten Herzogtum gab es rund 49.000 kleinste Betriebe unter 2 ha, rund 5000 Betriebe in einer Größe von 2-5 ha, 6000 Betriebe zwischen 5 – 20 ha; das waren also bereits 60.000 landwirtschaftliche Einheiten, bei denen es nichts zu sozialisieren gab, die aber für die flächendeckende Selbstversorgung wichtig waren. Es gab außerdem 60 Klostergüter und Domänen sein, aber diese wurden bereits seit Jahrhunderten vom Staat verwaltet, nämlich verpachtet. Verblieben nur noch die 57 Rittergüter, derer v. Cramm, v. Veltheim, v. Bülow, v. Gadenstedt, v. Petersdorff- Campen ua. Mit den Domänen insgesamt 195 Betriebe mit 100 – 1000 ha.
Das „Landprogramm der braunschweigischen Regierung verfolgte drei Ziele: es wollte zuallererst alle Ängste der besitzenden Landbevölkerung vor Enteignung beseitigen. „Eine weitgehende Enteignung von Grund und Boden nicht beabsichtigt“, gehörte daher zur ersten größeren Zwischenüberschrift für hastige Leser der Regionalpresse. Es wäre auch keine Aufteilung des Großgrundbesitzes, insbesondere der Staatsdomänen beabsichtigt. Betriebe bis 80 Morgen würden überhaupt nicht angetastet. Als drittes weitgestecktes Ziel nannte das Programm die Umwandlung von Großbetrieben in Siedlungsgenossenschaften und als ersten Schritt die Schaffung von Heimstätten für Landarbeiter. Dabei erhalte jeder Arbeiter ein Heimstätte mit zwei Morgen Land, Wohnhaus, Stall für Schweine, Kleinvieh und Geflügel. Im übrigen arbeite er weiter auf Gut, das die Betriebsform eines Großbetriebes behalte, aber der Gesamtheit der Arbeiter gehörte das Gut in Pacht als weiter gestecktes Ziel.
Diese teils sozialromantischen Vorstellungen hätten in ruhigeren politischen Zeiten wohl mehr Anerkennung und Zustimmung auch bei der Bevölkerung gefunden und verdient. Heute sind sie auf privatwirtschaftlicher Ebene in kleineren Kreise längst erfolgreich durchgeführt. Damals stieß das ländliche Sozialismusprogramm sogar in den eigenen Reihen auf Kritik. Der A.u.S. Rat von Holzminden protestierte, denn es bestünde die Gefahr, dass die gemäßigten Sozialisten ins reaktionäre Lager hinübergetrieben würden. Der Helmstedter A.u.S. Rat befürchtete vermehrte Arbeitslosigkeit und Schaden für den Handel befürchtet.

b) Die Vision von entmilitarisierten Braunschweig und Legende von der strahlenden Heimkehr der Soldaten
Mehr als die Kommunalwahlen und die Versammlungstätigkeit interessierte die Bevölkerung in diesem Monat November aber die Frage: wann kommen endlich unsere Männer und Söhne aus dem verlorenen Krieg zurück? Mit dem Waffenstillstand am 11. November machte sich eine allgemeine Absetzbewegung besonders bei den Etappentruppen breit, teilweise vollzog sich der Rückzug chaotisch. „Alle Züge, die von der Westfront kommen, sind mit Soldaten überfüllt. Die Mannschaften sitzen auf den Dächern oder haben sich Bretter zwischen die Puffer gelegt, auf denen sie die Reise zu bewerkstelligen suchen. Nach Aussagen von Reisenden sind auf dem am Dienstag mit drei Stunden Verspätung in Bremen eingelaufenen D-Zuges vier Mann unterwegs beim Durchfahren von Tunneln getötet worden. In dem am Mittwoch gleichfalls mit drei Stunden Verspätung in Bremen eingetroffenen D-Zug befand sich laut Weserzeitung auf dem Dach eines Wagens die Leiche eines auf dieselbe Weise verunglückten Mannes.“
Begreiflicherweise wollten die Soldaten einfach nur rasch nach Hause. Aber die Rückkehr wurde von zwei Seiten instrumentalisiert: vom Heereskommando und von der Regierung. Das Heereskommando wollte dem Ausland den falschen Eindruck eines ungebrochenen Wehrwillens vor Augen führen. Dazu wurden die Einheiten neu zusammengestellt und das Offizierkorps plante eine paradeähnliche Heimkehr nach der Melodie: das unbesiegte Heer. Das war der Propagandagrundton seit 1914, der damals dem Einmarsch in die Heimat einen unangemessenen Ton gab. „Nun kehrt ihr heim, ihr armen reichen Krieger/ und stolz wie einst dürft ihr den Blick erheben/ Was auch geschah. Uns seid ihr doch die Sieger.“
Die Stilisierung der heimkehrenden traumatisierten Frontsoldaten als Helden war ein Akt besonderer Grausamkeit, denn so wurden sie ihre festsitzenden mörderischen Eindrücke vom fortwährenden Blutsumpf an der Front nicht los und als innere Verwundungen nicht ernst genommen. Bei Rückzug und Heimkehr sollte der Sieg über die Dolchstoßregierung, den inneren Feind, demonstriert werden.

Auch die Revolutionsregierung in Braunschweig instrumentalisierte die Rückkehr und wollte bei dieser Gelegenheit ihre Anerkennung als neue Staatsmacht durchsetzen. Braunschweig war festlich geschmückt, rote und blau gelbe Fahnen hingen aus den Fenstern, die Glocken läuteten, denn auch die Bevölkerung wollte noch einmal die süße Droge vom Siegen einatmen. Die ankommenden Offiziere der Jagdstaffel Boelke (20 Offiziere, 20 Mann) aber ritten am 24. 11. am staatlichen Empfangskomitee mit dem Volksbeauftragten Oerter hochnäsig und siegesbewußt vorbei und ließen die Regierungsmitglieder bewusst stehen. Sie wollten demonstrieren, für wen sie gekämpft hatten. Für das alte System. Tatsächlich demonstrierten sie, mit wem sie verloren hatten: mit Hindenburg und Wilhelm II. Oerter verzichtete in Zukunft auf ein Empfangskomitee.

Diese inszenierte und instrumentalisierte Rückkehr der Soldaten im Dezember hatte eine verheerende Wirkung auf die revolutionäre Absicht des A.u. S.Rates von einem entmilitarisierten, garnisonfreien Braunschweig. Alle Nachdenklichkeit über den Sinn von Militär, Niederlage und Rüstung wurden nur vier Monate später durch den Einmarsch der Maerkerschen Regierungstruppen beiseite geschoben.
Vom 24. April bis 10. Juli warben Reichswehr, das Freikorps Lützow, am meisten das Jägerbataillon und später auch die Kreisdirektionen in 26 teils großflächigen Werbeannoncen in der Regionalpresse bei den jungen Leuten. „Braunschweiger! Die Reichswehr braucht als Nachfolgerin der „alten Braunschweiger Truppenteile“ gediente Freiwillige aller Waffen (24.April), die Reichswehr stelle 100 Minenwerfer, 300 Infanterie und MG Schützen ein (24.Mai), im Juni warb das Jägerbataillon bei Schülern höherer Lehranstalten vom 17. Lebensjahr an und bot besondere Vergünstigungen, eine Notreifeprüfung und Versetzung in die nächste Klasse (1.Juni), es winken „gute und reichliche Verpflegung“ und 14 Tage Urlaub (22.Juni). Die Annoncen wurden aggressiver: „Die Heimat braucht euch“ (5.Juni), „Schützt Haus und Hof! Schützt eure Frauen und Kinder! Schützt euch selber!“ (29.Juni), „in der Stunde der tiefsten Not ruft euch die Heimat. Schützt das Vaterland“ (3.Juli).

Die Werbung, hier Beispiele aus der Schöninger Zeitung, zielte auf eine Generation, die durch Lehrermangel und Stundenausfall während des Krieges seit dem 13. Lebensjahr keine ordentliche Schulausbildung mehr erhalten hatte. Daher nahm die Klage über Rohheit und zunehmende Brutalität dieser Jugend kein Ende. Die Aussicht auf Verpflegung und Geld war in Zeiten sich noch verschlechternder Ernährung und Arbeitslosigkeit verlockend, womöglich sogar eine Entlastung für den Familienhaushalt.

Das war vor einem halben Jahr noch anders, als die einberufenen 18-22 Jährigen in der Braunschweiger Kaserne aufbegehrten, dass sie immer noch nicht nach Hause entlassen worden wären und nach einem Grundsatzreferat von Robert Gehrke, USPD, in einer Resolution erklärten, es wäre „unvereinbar mit den Anschauungen einer sozialistischen Regierung, uns weiterhin in der Zwangsjacke des Militarismus zu belassen.“ Sie forderten die Abschaffung des stehenden Heeres.

Ich schließe zusammenfassend mit einigen Diskussionsthesen:
Der Novemberrevolution ist die Geburtstunde der Demokratie im Braunschweiger Land.
Eine sozialistische Räterepublik hat es in Braunschweig nie gegeben.
Auslöser der Revolution in Braunschweig waren nicht linke Gruppen, sondern streikende Soldaten und die entkräftete Bevölkerung.
Die Abdankung des Herzogs war mit einer Regierungsübergabe verbunden.
Das Revolutionsverständnis gliedert sich in drei Phasen:
kurzzeitige Explosion („Feuerrwerk“)
lang anhaltender Prozeß (Operation, Handlungsfeld),
Vision: Beispiel Sozialisierung des Landes, entmilitarisiertes Braunschweig

Ich schlage vor, wir treffen uns heute Abend auf dem Platz vor der Schloßfassade, entzünden einige Knall- und Feuerwerkskörper und wenn die Leute fragen, was denn los sei, sagen wir: wir feiern den 90. Geburtstag der Demokratie im Braunschweiger Land.




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/vortrag/NovemberrevolutionBS.htm, Stand: November 2008, dk