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[Kirche von unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Em - emeritus oder emigriert?

Die Ruheständler in der Landeskirche

von Dietrich Kuessner

Die einen haben es befürchtet, die anderen herbeigesehnt: das Ende des Dienstes für ihre Kirche. Für die meisten war beides gegenwärtig: Furcht und Sehnsucht.

Sehnsucht:

Der Konfirmandenunterricht war immer mühsamer geworden. Nicht nur wegen des nachlassenden Durchsetzungsvermögens, der Abstand zu den Interessen und Lebenswelten dieser Spaßgesellschaftsgeneration war einfach zu groß geworden. Es gab keinen gemeinsamen Spaß und keine gemeinsamen Ziele. Es wurde immer beschwerlicher. Vielleicht hatte man innerlich gehofft, ein jüngerer Kollege würde einem die Arbeit abnehmen, theologischer Nachwuchs war doch genug da, das wäre eine reine Organisationsfrage gewesen. Aber man hatte sich nicht getraut, dieses Defizit zuzugeben, es war auch von der Visitationsbehörde nicht bemerkt worden, also hatte man sich bis zum Schluß gequält.

Der Kontakt innerhalb der Amtsbrüder und Amtsschwestern im Umkreis war immer dünner geworden. Die Neuen waren immer mehr geworden. Man hatte noch eine andere Vorstellung von einem gemeinsamen Leben, wenigstens an einem Vormittag im Monat, genannt Amtskonferenz. Da hatte man sich an Hand des Urtextes um die Predigt für den kommenden Sonntag ausgetauscht, es gab ein theologisches Gespräch. Das gibt es in der Regel nicht mehr, nicht erst, seitdem man sich eine Predigt aus dem Internet herausziehen kann. An die Stelle ist seit Jahren das Frühstück am kalten Buffet um halb zehn vormittags getreten. Unsereiner kam gefrühstückt zur Amtskonferenz. Heutzutage gehen sie ungefrühstückt und wegen des Frühstücks hin. Da gibt es wenigstens was zu essen, heißt es. Die Älteren spüren den eigenen Widerwillen an dieser Art von Treffen. Die Distanz wächst. Sehnsucht nach einem anderen Umgang miteinander hatte sich längst eingestellt und weil die sich nicht mehr erfüllt - ach dann lieber damit Schluß machen. Der Ruhestand ermöglicht es.

Undenkbar, dass man sich sogar wöchentlich trifft, wieder einen Text bearbeitet und dann bei Keks und Tee Einblicke in die Sichtweise für die Behandlung pastoraler Fragen vor Ort austauschte. Was macht der, wenn es in der Frauenhilfe nicht klappt oder in der Zusammenarbeit mit dem Kirchenvorstand klemmt oder eine Amtshandlung für einen aus der Kirche Ausgetretenen erbeten wurde? Das wurde gemeinsam bekakelt. Heute machen sie das in pastoralpsychologischen Sitzungen und wirken auch nicht glücklicher. Die Sehnsucht nach dem Ende eines derlei als verunstaltet erlebten Dienstes wächst.

Beim Tagesrückblick am Abend oder wenn man die Woche noch mal am Sonnabend Revue passieren ließ, stellte sich unweigerlich das doofe Gefühl ein, diesen und jenen Besuch versäumt zu haben. Da hätteste doch eigentlich noch hingemusst, mahnte der Bruder innerlich und man lief mit einem permanent schlechten Gewissen umher. Man gewöhnte sich zwar an dieses schlechte Gewissen, aber es beflügelte nicht gerade das Lebensglück und motivierte nicht dazu, doch noch ein bißchen länger zu machen. Die Sehnsucht nach einem nicht mehr derart beschwerten Gemüt wurde immer grösser.

Und dann gab es auch in unterschiedlichen Facetten den Ärger mit der Organisation, manchmal vor Ort mit dem Kirchenvorstand oder auch in Wolfenbüttel mit dem Amt. Das konnte aufreibend und verfahren sein, zu selten hatte man die Behörde als Dienstleistung erlebt, meist als Regelungsbehörde ohne Basisbezug. Kirche macht krank, sagt jemand, und meint die unerquicklichen Kämpfe mit dem seinerzeitigen Personalreferat und dem Propst. Die wollten einen fertig machen, haben es aber nicht geschafft, bleibt in Erinnerung. Nun war man den Ärger los. Das war ein Befreiung, sagt ein anderer. Ich gestehe: ich finde so was nicht nur nicht gut, sondern eher besorgniserregend. Aber es trifft das Lebensgefühl nicht weniger emeriti.

Furcht

Es gibt aber auch Befürchtungen. Wohnungsmäßig waren wir bisher verwöhnt und gebunden. Die Pfarrhäuser besonders auf dem Lande sind wunderbar geräumig. Nun werden wir auf den freien Wohnungsmarkt geworfen. Die uns bisher um der bevorzugten Geräumigkeit beneidet haben, gönnen uns die Befürchtung: wo werden wir unterkommen? Gewiß nicht mehr in einer Residenz, nunmehr in bescheideneren Verhältnissen, die angesichts der nachlassenden Kräfte als durchaus angenehm empfunden werden. Und: Du brauchst dich nirgends mehr abzumelden und nie wieder für Vertretung sorgen, wenn du mal zwei Nächte wegbleibst. Das andere gibt es aber auch: du musst bald wieder aus der angemieteten Wohnung raus. Der Vermieter hat Eigenbedarf angemeldet. Umziehen im Ruhestand: eine grausige Vorstellung.

Zu dem kleinmütigen Befürchtungen gehört, wie viel Pension denn netto zur Verfügung steht und ob es denn reichen werde. In den ersten Monaten stellen wir dann fest, dass fest dieselbe Summe wie im Dienst auf dem Konto steht, aber dass wir jetzt die Wohnung selber bezahlen müssen. Im Hinblick auf die ausgezahlten Rentenbeiträge derer, die ein Leben lang gerackert haben, gehören wir zu den weit bevorzugten Personengruppen in unserer Gesellschaft.

Die größte Befürchtung indes bezieht sich auf den Dienst. Bisher hat dir jedermann eingehämmert, dass der Pfarrerberuf den ganzen Menschen fordere, ein Christ immer im Dienst zu sein habe, es gab wirklich nichts anderes als Kirche, Kirche, Kirche. Und nun sagen sie einem: jetzt ist Schluß mit Kirche. Kümmere dich ja nicht mehr um deine Gemeinde, laß dich dort nicht sehen, brich die Kontakte ab, misch dich nicht ein. Zieh aus deiner Gemeinde weg, wenn‘s geht weit weg. Du hast eine dritte Lebensphase, in der du dich nunmehr einrichten solltest, mit Gottesdienst und Seelsorge ist nun Schluß. Von einem Tag zum andern. Deine Sehnsucht nach dem Ende der Beschwerlichkeiten im Dienst hat sich nun erfüllt. Nun gib dich auch zufrieden.

Ja und Nein, so erleben es viele. Und eintrainiert wurde man auf diesen neuen Zustand auch nicht.

Abschied

Nun war er da, der Ruhestand. Meist von einer schönen Verabschiedung in der letzten Gemeinde begleitet. Wenn man geht, wird noch mal die große Glocke gerührt. Wer liesse sich das nicht gerne gefallen? Vom Landeskirchenamt kam eine größeres Papier in Bütten, auf dem drauf stand, dass die Kirche einem danke. Das war für die Länge der Zeit, meist an die 40 Jahre, etwas dürftig. Üblicherweise kommt wohl der Propst und überreicht eine Urkunde im Gottesdienst. Das finde ich mehr als unangebracht. Christoph Brinckmeier hatte sich das verbeten, obwohl Propst Fischer unablässig drängelte. Die Verlesung und Verleihung von Urkunden zur Einführung und Verabschiedung ist eine grässliche Unsitte, weil sie kirchenamtliche Texte in einen agendarischen Rang versetzt. Das haben sich irgendwelche Lutheraner von den Katholiken abgeguckt. Und es ist ja auch so feierlich. Ich hatte Glück. Zu mir kam die Personalreferentin am Tag danach (man war sich im Kollegium offenbar nicht einig, ob ich die Danksagung nicht per Post erhalten sollte), es war gemütlich und wir konnten in der Küche noch gemeinsam beten.

Die Gemeinde und Gruppen geben sich an diesem Tag riesige Mühe, es ist meist ein Gemeindefest, bei einigen sogar ein Dorffest – z.B. seinerzeit bei Haufe in Adersheim – die Gemeinden zeigen sich von ihrer festlichen, dankbaren Seite – dann folgt der Auszug aus dem großen Pfarrhaus und du landest in einer Mietwohnung.

Umstellung in den ersten Wochen

Die ersten Wochen im Ruhestand sind schon komisch: das Telephon klingelt nicht mehr, an der Haustüre stehen weder Mitarbeiter noch Schnorrer. Die Dienstpost bleibt aus. Wenn du was kopieren willst, fehlt der Apparat dazu. Es ist eben nichts mehr los. Du erfährst nichts mehr. Abgeschnitten. Der Ruhestand wird als Leerstand befürchtet und erlebt.

Andrerseits: du kannst ungeniert morgens liegen bleiben und dich erst mittags rasieren (wenn dich nicht eine Frau aus den Federn treibt!). Die Zeit, die Zeit, die viele Zeit – ja das ist wunderbar. Jetzt erst merkt man, dass man in der Gemeinde doch ziemlich gerackert hat. Plötzlich ist Zeit da.

Jetzt hat der Berufsstand den Zusatz em, was heißen soll: Emeritus oder doch eher emigriert?

Die Gestaltung des Sonntags

Die größte Umstellung ist die Gestaltung des Sonntags. Früher ein, zwei-dreimal unterwegs auf eine Kanzel; nun wohin? wohin? wohin? Sich eine Gemeinde suchen, aber wir sind schlechte Predigtzuhörer. Auch das ist ja kaum eingeübt worden.
Und Gottesdienste sind nicht nur Geschmackssache Im unbeweglicher werdenden Alter sollen wir uns einlassen auf eine andere Form des Gottesdienstes, eine ewige Begrüßungstirade zu Beginn, wenig kernige Textauslegung und gegen den Strich gebürstete Bibelstellen, die Lieder werden bei nachlassenden Stimmbändern immer höher, das Mitsingen wird schwieriger, wenn sich der Organist nicht erbarmt und eine Terz tiefer ansetzt.

Es gibt drei Möglichkeiten, diesem Zustand zu entfliehen: wir sitzen allein oder zu zweit vor dem Fernsehen oder vor dem Radio und ziehen uns von dort einen Gottesdienst rein. Das kann durchaus anregend sein. Außerdem ist dann die alte Ordnung gewahrt: um zehn Uhr ist Gottesdienst. Die andere Möglichkeit: wir besorgen uns eine Vertretung. Das ist in den Ferien und an den zweiten Feiertagen kein Problem. Für einen Vormittag entfliehen wir dem em und sind noch mal aktiv. Mir sagt ein 75iger Ruheständler, er habe im Juni/Juli allein drei Vertretungen, er käme auf 15 Vertretungsgottesdienste im Jahre, er kenne andere, die auf ähnliche Ziffern kämen. Emeriti werden auch gerne zu Vakanzvertretungen gebeten und springen für eine gelegentliche kontinuierliche Predigttätigkeit ein. Ich könnte mir denken, dass die emeriti glatte drei bis vier Predigstellen im Jahr ausfüllen. Vermutlich noch mehr. Ein Ehrenamt, das es mal zu würdigen gelte. Etwa in den Anlagen der Kirchenregierung.

Andere hingegen lassen es ganz, verlegen wie viele andere Gemeindemitglieder das Frühstück auf halb elf, kombinieren Mittag und Morgenmahlzeit, beim Spaziergang hinterher kann man immer noch mal in eine Kirche reinsehen. Aber dann stehen wir vor verschlossenen Türen. Wenn der Gottesdienst aus ist, wird die Kirche geschlossen. Küster und Pfarrer wollen schließlich ungestört Mittag essen. Man trennt sich also so peu a peu, erst innerlich, dann auch zeitlich. Gottesdienst nur noch gelegentlich. Andere scheuen den Aufwand, sich dieses Zwanges zu entledigen und bleiben eisern an der jahrzehntelang Übung: sonntags vormittags Gottesdienst, als Hörer allein.

Einige Zahlen:

Den Angaben des Amtskalenders von 2002 zufolge gibt es 162 Ruheständler und 167 Pfarrwitwen. Die Ruheständler teilen sich altermäßig grob überschlagen folgendermaßen auf: 69 sind zwischen 60 und 70 Jahre, 41 zwischen 70 und 75, 20 zwischen 75 und 80 und 32 über 80 Jahre. Der hohe Anteil der „Jüngeren unter den Älteren“ ist auffallend. Das Pensionsalter unserer Väter, meist mit 70 Jahren, ist kontinuierlich gesenkt worden. Aber wie viele haben aus Gesundheitsgründen den Dienst beendet? Oder sind im Beruf frühzeitig verschlissen worden oder wurden am Ende überfordert? Wie ist überhaupt der Krankenstand, nicht nur bei den emeriti sondern auch bei den Aktiven? Früher gehörte ein Bericht über den Krankenstand zum eisernen Bestandteil des Personalreferates in den Anlagen der Kirchenregierung.

Das ganze Berufsleben unter Anforderungen der Kirche gestanden, fragt ein emeritus unwillkürlich: was will meine Kirche noch von mir? Soll ich mich in die Ecke setzen, mich auf den Lorbeeren ausruhen und die Meriten betrachten? Wie andere im Rentenalter sind die emeriti viel beschäftigt.

EmeritiKreise

Es gibt mehrere gesellige emeritiKreise. Der älteste ist der sog. „Schwarze Kaffee“, der in Wolfenbüttel tagt. Es kommen jeweils am dritten Dienstag im Monat ca 30 Männer und Frauen zusammen. Der älteste von ihnen ist wohl OLKR em. Heinz Kammerer. Jahrzehnte traf man sich in Hotel „Antoinette“, seit drei Jahren im Ratskeller. Bis 1990 leitete ihn Karl Hottenbacher, danach Friedrich Wagnitz. Dieser emerititreff verdankt seine Gründung dem ersten Landesbischof Alexander Bernwitz, stammt also aus den 20iger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Nach dem 2. Weltkrieg wurde er von den Pfarrern Otto Rosenkranz, der 1948 als Propst von Wolfenbüttel emeritierte, und Wilhelm Freytag wieder neu begründet, man tagte im Gr. Zimmerhof und im Kaffeehaus. Der Kreis holt sich einen Referent/In, man tauscht sich gut zwei Stunden aus.

Der andere Kreis trifft sich im Gemeindesaal von Katharinen in Braunschweig und wird von Propst em. Hans Jürgen Kalberlah organisiert. Dazu gehören ca 20 Männer und Frauen. Vorträge, Diskussion und auch Fahrten bestimmen den Ablauf.

Ein weiterer Kreis trifft sich in Goslar im Amsdorfhaus und wird zur Zeit von emeritus Gente geleitet, davor von Reinhard Witzig, der von Frankenberg aus emeritierte, und Fritz Albers (zuletzt Lutter a.B.) Zu ihm gehören 25 Personen. Die Einladungen werden vom Propsteibüro verschickt. Er ist einmal vom früheren Goslarer Propst H.J. Kalberlah ins Leben gerufen worden, besteht also ca 20 Jahre. Auch hier allgemeinbildende Vorträge und eine Jahresfahrt.

Auch die ehemaligen Pfarrfrauen treffen sich, und zwar nicht nur die emeritae, sondern auch die geschiedenen, die verwitweten und natürlich auch die noch glücklich verheirateten. Der Kreis wird zur Zeit geleitet von Ingrid Hampel. Man trifft sich zweimal im Jahr; einmal für mehrere Tage auf dem Hessenkopf und das andere Mal für einen Tag im Marienstift, Braunschweig. Die Treffen sind sehr gut besucht. Beim eintägigen Treffen kommen bis zu 50 Frauen zusammen, auf dem Hessenkopf bis 25 Die Treffen sind von einem Thema bestimmt. In diesem Jahr: Tugend früher und heute, andere Themen: Zinzendorf, Was ist der Mensch, Der lange Weg zum Frieden, Die fremde Welt des Islam, Christus hat viele Gesichter. Die anspruchsvollen Themen werden von einem team aus diesem Kreis vorbereitet.

Treffen auf dem Hessenkopf

Einmal im Jahr werden die emeriti samt Frauen und Pfarrwitwen zu einem dreitägigen Treffen auf den Hessenkopf eingeladen. Das hatte meist Propst em. Herdieckerhoff organisiert, lag also in den Händen des Pfarrervereins. Das Wiedersehen, gehaltvolle Vorträge mit Aussprache, ein Überblick über die aktuelle Lage aus der Sicht des Landeskirchenamtes und Geselligkeit am Abend bestimmen den Rhythmus der Hessenkopftage. Das Pfarrerblatt berichtete meist über sie.

Was machen so die emeriti?

Wer sich ein Leben neben der Kirche schon im aktiven Dienst aufgebaut hat, ist gut dran. Aber das ist eine hohe und seltene Kunst. Ganz allgemein: man genießt das Private. Es wird viel und ausgiebig gereist. Man ist zu Beginn des Ruhestandes sehr viel aushäusiger als sonst. Sonst stand der 40tägige Urlaub zur Verfügung, jetzt viel mehr mal drei vier Tage zwischendurch unterwegs. Es kommen bisher verborgene Begabungen zum Vorschein: die eigene neue Behausung erfordert viele Handgriffe. Da sie nicht die Bauabteilung anrufen können, machen viele vieles selber. Einer hat sich sein Badezimmer komplett selber geklempnert, ein anderer schneidet, leimt und kloppt sich seine Bücherregale passend unter die Dachschrägen. Wer einen Garten um das Haus herum hat, stürzt sich wie bisher in die Gartenarbeit, jetzt ohne Zeitdruck.. Ein anderer pflegt nun ausgiebiger seine sportlichen Fähigkeiten und spielt mehr Tennis als sonst. Wo Enkelkinder sind, kann in die Familie mehr Zeit investiert werden. Einer belegt an der Universität Gastvorlesungen und fühlt sich von der jüngeren Generation durchaus angenommen, mehr als von seiner Kirche. Einer machte dabei sogar eine Promotion. Es wird viel mehr gelesen, wozu man früher nicht kam. Einer vertieft sich morgens in den Urtext, andere lesen Krimis. Wieder andere engagieren sich in Ehrenämtern, auch auf kommunaler Ebene. Einer singt noch in einem Kirchenchor mit - aber das wird die Ausnahme sein. Überhaupt ist mehr Zeit für Kultura: ein Kreis trifft sich nach den Symphoniekonzerten in der Gastronomie der Braunschweiger Stadthalle. Es wird viel ausgiebig gelesen und manche schreiben nun auf, wie sie es erlebt haben. Meist nur für die Familie. Privates. Es wäre zu schön, sie würden auch aufschreiben, wie sie Kirche erlebt und daran mitgebaut haben. Das interessiert doch keinen, sagt einer. Doch mich, erwidere ich. Ja dich, aber doch sonst keinen anderen. Und wenn es nur für das Archiv wäre. Es fehlen Quellenberichte über das Leben in der Kirche aus dem vorigen Jahrhundert. Wer fängt an? Aber da gibt es eine sehr resignative Grundstimmung des Abgeschobenseins, einer Art Emigration. Pfarrer em, Pfarrer emigratus. Das ist für die Kirche nicht gut.

Die Versuchung:

Die machen alles kaputt, was man aufgebaut hat, höre ich mehr als einmal. Die Rede ist, wie man seine Nachfolger oder seine bisherige Arbeit aus der Distanz des Ruhestandes erlebt. Das gilt keineswegs nur für den Pfarrerstand, das ist wohl ein auch bei anderen Berufsgruppen verbreitetes Gefühl. Dieses das Gemüt zerfressende Gefühl kann viele Gründe haben: eine Selbstüberschätzung der eigenen Arbeit und das mangelnde Vertrauen darin, dass Kirche auch ganz anders als im Korsett der eigenen Theologie und des eigenen Kirchenprofils denn doch eben Kirche ist. Ein anderer Grund liegt in der Vergesslichkeit, wie wir selber einmal angefangen haben. Haben wir Älteren nicht auch gedacht, mit uns begönne das Reich Gottes und der Eifer um das Haus Gottes hatte uns gefressen? Wir sind nicht mehr gefragt, höre ich. Haben wir selber gefragt? Es ist auch eine gehörige Portion Unglauben dabei, denn der Geist schwebt weiterhin über der alten, geliebten Gemeinde, Gott entzieht weiterhin nicht sein tröstendes und richtendes Wort den Menschen vor Ort. Dann und wann stellen sich Zeichen von Anhänglichkeit ein. Ist uns das zu wenig? Wollen wir etwa ernten, wo wir gesät haben? Haben wir nicht bereits geerntet, was wir selber nicht gesät haben? Es gilt einer beträchtlichen Versuchung zu widerstehen.

Es gibt aber auch berechtigte Fragen an die nächste, übernächste Generation: in welchem Kettenglied geistlicher Tradition befindet sie sich vor Ort? Wo man glaubt, eine hundertjährige Traditionskette erst neu erfinden zu müssen, ist die Bauchlandung vorprogrammiert. Sie arbeitet in lange gewachsenen, historischen Strukturen. Mit dem Kopf durch die Wand sowie Unbescheidenheit hat bei allem berechtigten Innovationsdrang einen ungeistlichen Geruch.

Versuche der Anknüpfung

Immer wieder mal ist der Versuch gestartet worden, die emeriti zu den Amtskonferenzen einzuladen. In Oldenburg ist das Tradition. Schliephack hat das mal in Vechelde versucht, aber bald wieder gelassen: die Alten haben nur erzählt, wie sie früher alles besser gemacht haben, sagte er. Das war nicht so gut. Senior Denecke, Braunschweig, hatte von seinem Vorgänger Nietzold die Tradition übernommen, die emeriti eingeladen, die dann hineinschnupperten, aber bis auf ein/zwei Ausnahmen dann wegblieben. Ein Aktiver erzählt aus der früheren Gandersheimer Propstei: “In Gandersheim waren die Emeriti - solange wie ich da im Pfarrkonvent war, - immer mit dabei gewesen (Breucker vor allem, Grundke). Wir trafen uns zu den Geburtstagen der Pfarrer, und es kamen auch die Emeriti. Sie
sprangen ein im Sommer, wenn das KFS die Propstei leer fegte oder die Last der Vakanzen drueckend wurde. Und dieses Miteinander war fuer uns unhinterfragt und selbstverstaendlich.“

Ich frage emeriti, ob sie denn einer Einladung folgen würden. Heute nicht mehr, sagt einer. Am Anfang vielleicht, aber die hatten kein Interesse. Ausserdem: welcher pensionierte Lehrer würde wohl gerne wieder für Konferenzen seinen alte Schule betreten? Die Amtskonferenzen sind eben doch Dienstkonferenzen und der Dienst ist nunmehr vorbei.

Es gibt andere Möglichkeiten. Der Wolfenbüttler Propst Dr. Schade lädt einmal im Jahr im Januar die Aktiven und die Ruheständler zu einem gemeinsamen Treffen ein. Beim letzten Treffen indes fehlten viele „Aktive“.

Bischof Weber hat nach seiner Einführung an die emeriti ein Grußwort gerichtet und bezieht sie in den wieder eingeführten Pfarrerrundbrief ein. Das ist ausgesprochen gern aufgenommen worden. Diese Art der Verbindung war unter dem Vorgänger vollständig abgerissen und hat das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, ungut verstärkt. Aus dem Landeskirchenamt erreichten bisher die Ruheständler nur noch die Todesnachrichten mit einem Auszug aus der Personalakte. Eine Anregung aus der Landessynode, man möge doch den Eintritt in den Ruhestand mit der neuen Adresse und einer Würdigung des Dienstes in den Rundlauf bringen, war vom Landeskirchenamt zwar begrüßt, ist aber bisher noch nicht umgesetzt worden.

Im August soll nach langer Zeit mal wieder eine Pfarrerversammlung stattfinden. Gilt die Einladung den Aktiven wie den emeriti? Die Jahrestagungen des Pfarrervereins, die von P. Frisch einberufen werden, werden in der großen Überzahl von den emeriti besucht. Hier böte sich ein Forum, auf dem alt und jung zusammengeführt werden könnten.

Ein ähnliches Forum bieten die Tagungen der Akademie, des Arbeitskreises Niedersächsische Kirchengeschichte (Jürgens und Kuhr) und des Freundeskreises für Braunschweiger Kirchen- und Sozialgeschichte. Die Treffen liegen meist an einem Vormittag und werden vornehmlich von den emeriti getragen.

Hauptsächlich aber bleibt es wohl Aufgabe der emeriti, für einen Kontakt untereinander und mit den Brüdern und Schwestern im Amt zu sorgen. Er war ja auch während des Dienstes nicht so eng und dort, wo er sich schon während des Dienstes eingestellt hatte, wird er auch über die Pensionierung hinaus tragfähig bleiben.

Zurück ins Fragen

Die dritte Lebensphase ist zunehmend von der Beobachtung körperlicher und geistiger Veränderungen begleitet.

Wir haben viele Krankenbesuche gemacht: jetzt werden wir selber anfälliger und kränker.

Wir haben viele Predigten gehalten, jetzt werden wir vergesslicher.

Wir haben viele Beerdigungen gehalten, aber jetzt rückt das Sterben näher.

Zu den Veränderungen gehört auch eine veränderte Sexualität, die gerade unter Alten tabuisiert ist.

Die Versuchung besteht darin, diese Veränderungen einseitig als Hinfälligkeit zu begreifen. Aber sind es nicht in Wahrheit Verwandlungen? Wir betreten im Älter-Werden nochmal Neuland. Bleiben wir neugierig?

Wir haben am Krankenbett manche hohe Antworten gewusst. Lassen wir sie jetzt für uns selber gelten? Wie gerne habe ich in das gefurchte Gesicht alter Menschen gesehen. Diese vielen Erfahrungen, die sich da eingegraben haben und mit denen sie mir weit voraus waren – ich will nicht wegsehen, wenn ich in den Spiegel sehe.

Die Umstellung in Fragen der Sexualität gilt als heikles Thema unter den Alten und auch bei den Jüngeren. Haben wir vergessen, daß es eine glückliche Phase ohne die gewohnte und eingeübte Genitalsexualität gab, nämlich die Zeit bis 13 /14 Jahren? Es ist das heute übliche, kümmerlich genitalverengte Verständnis von Sexualität, daß wir sie nicht auf den ganzen Körper beziehen. Die Ausstrahlung alter Menschen hängt mit der verwandelten ganzheitlichen Form von Sexualität zusammen.

Wir haben oft genug erfahren, dass der Tod mitten im Leben lauert und nicht erst am Ende. Wie viele haben wir begraben, die jünger waren als wir selber? Aber mit dem zunehmenden Alter bekommt das Leben eine andere Beleuchtung. Verstehen wir diese Veränderung als nachlassende Wärme und sinkendes Sonnenlicht oder mit G Tersteegen wie: „Laß dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte – Lass mich so deine Strahlen fassen und dich wirken lassen“?

Lebensfragen sind Glaubensfragen. Lebensveränderungen sind Glaubensveränderungen. Daß der Glaube ein Risiko ist, haben wir oft genug gepredigt. Wie, wenn es doch noch alles ganz anders ist als wir gepredigt, gelehrt und geglaubt haben? Glauben kann man viel, wissen tun wir wenig. Das Gespür für das Risiko des Glaubens wird bohrender. Werden wir um den Mut bitten, dieses Risiko auszuhalten statt in bequeme und dem Alter und unserer Erfahrung unangemessen vereinfachte Antworten hinzuflüchten? Das Risiko hat uns je beflügelt, unseren Glauben allemal, warum nicht auch im Alter?

Also was nun? Mehr emeritus oder mehr emigriert?

Im Tätigkeitsbericht der Kirchenregierung kommen die emeriti nicht vor. Also doch mehr emigriert?


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