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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

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Die Frage der Säkularisierung zur Zeit des Nationalsozialismus

Vortrag am 08.06.2012
von Dietrich Kuessner



Der Begriff „Säkularisierung“ ist in der Forschung vieldeutig. Ich verwende das Wort im Sinne von Abkehr von der Kirche und vom christlichem Glauben als einer lästig empfundenen Fremdbestimmung und Hinkehr zu immer mehr Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des autonomen Bürgers. So erleben wir die Wirklichkeit von Säkularisierung in der Stadt- und Landbevölkerung unserer Region und vermehrt noch bei den östlichen Nachbarn.
Diese Säkularisierung ist ein seit Jahrhunderten währender Prozess. Manchmal kann es nützlich sein, im Flusse des Prozesses ein Datum festzumachen. Also sage ich: die Säkularisierung begann in Deutschland im Jahr 1873, nämlich: mit der Aufhebung des Taufzwanges. Wer bis dahin die Taufe seiner Kinder unterlassen hatte, hatte sich gesetzlich strafbar gemacht. Es gab kein Entrinnen vor der Kirche. Es galt bis 1873 die Zwangschristianisierung der deutschen Bevölkerung. Es gab zwar Übertritte, etwa in die katholische Kirche, Austritte waren undenkbar. Erst die Beseitigung dieser Zwangschristianisierung ermöglichte den Kirchenaustritt. 1875 wurde die Einrichtung der standesamtlichen Zivilregister eingeführt. Dort wurden in Zukunft die Geburten registriert. Den Kirchengemeinden, die bisher in Kirchenbüchern nicht nur alle Getauften sondern auch alle Geborenen zu verzeichnen hatten, wurde diese Aufgabe abgenommen. Das war eine von den Amtsinhabern schmerzlich empfundene Säkularisierung, wie auch jene, dass in Zukunft eine standesamtliche Eheschließung als die einzig gesetzlich gültige Eheschließung angesehen wurde.
Bereits Jahre vorher war als Folge der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit für jene, die keiner Kirche angehören wollten, der Status des Dissidenten eingeführt, in Preußen 1847, Oldenburg 1851, in Bayern 1864, im Königreich Sachsen 1870, im Herzogtum Braunschweig 1872.
Alle Formen von Säkularisierung vollzogen sich vor 1873 formal innerhalb des Gehäuses der christlichen Kirche. Es blieb dem Kirchenmitglied nur die innere Emigration, z.B. in Form der Vermeidung des Gottesdienstbesuches, oder der Nichtbeteiligung beim Abendmahl, also der private Rückzug. Am Sonntag Vormittag ging der säkularisierte, gebildete Bürger in ein Klassikkonzert oder ins Grüne. Die Erhebung der Seele trat an die Stelle der Anbetung Gottes oder wurde ihr gleichgesetzt. Kultur und Natur galten als „Bücher Gottes“. „Die ganze Welt ist wie ein Buch, darin uns „aufgeschrieben, wie Gott uns treu geblieben“. Die Bibel geriet in Vergessenheit. Privatisierung gilt als wesentliches Merkmal für die Säkularisierung.

Zwei Gründe scheinen mir für die Säkularisierung als innere Emigration wesentlich zu sein.
Der erste: Glaube und Wissenschaft traten auseinander und in Widerspruch zueinander. Die Entdeckung, dass die Erde nicht mehr Mittelpunkt des Weltsystems ist, mochte die Kirche Jahrhunderte lang nicht anerkennen. Wer jedoch dieses grundlegend veränderte Weltbild zur Kenntnis zu nahm, musste innerlich emigrieren. Die Säkularisierung begann also im 16. Jahrhundert.
Ein weiterer Anstoß für das Auseinandertreten von Glaube und Wissen war die Bibelkritik zur Zeit der Aufklärung. Die Bibel galt nicht mehr als das vom Heiligen Geist inspirierte Wort Gottes, sondern wurde wie andere profane, historische Bücher einer kritischen Untersuchung unterzogen nach ihrer Entstehung und Verfasserschaft und in ihren Widersprüchen. Lessing konnte seine Osterfragmente nur anonym veröffentlichen.

Damit zusammenhängend scheint mir ein anderer Grund für eine fortschreitende Säkularisierung die Infantilisierung der Gläubigen durch Gottesdienst, Predigt und Seelsorge zu sein. Der Fromme wurde unwissend gehalten, vor den Erkenntnissen der historischen Kritik verschont, und sein Glaubensgrund an Fakten festgemacht. Das ließ sich der seinem Gewissen verantwortliche, selbstbestimmte Mensch nicht mehr gefallen und distanzierte sich von der Kirche. Emanzipation und Entkirchlichung gingen in der Entwicklung der Säkularisierung Hand in Hand. Leider bis heute.

Einige Kirchensoziologen machten nun Phasen der Säkularisierung aus. und diskutieren säkularisierende Tendenzen in der Renaissance und Reformation, z.B. im Schulbetrieb oder in der Kunst, in der Aufklärung, im entstehenden Bürgertum, in der französischen Revolution und besonders dann im 19. Jahrhundert in der Arbeiterschaft.
Auf diese Phasen der Säkularisierung sei jeweils eine Gegenbewegung erfolgt, nämlich eine Rückkehr zum konfessionellen Christentum, eine Re-Christianisierung. Sie unterscheiden eine De-Christianisierung und eine Re-Christianisierung.
Im 20. Jahrhundert wurde die Kaiserzeit vor 1914 als eine Zeit zunehmender Entkirchlichung, als säkularisierte Zeit, verstanden, die von einem christlich-kirchlichen Aufschwung zu Beginn des 1. Weltkrieges abgelöst worden sei. Diese Phase des Rechristianisierung mündete 1918 wiederum in die Schaffung eines religiös neutralen Staates, in die säkulare Weimarer Republik.

Die Frage nun, ob der folgende Nationalsozialismus ein kirchenfeindlicher, säkularer Staat war oder auf die Phase des säkularen Weimarer Staates eine Phase der Rechristianisierung folgte, will ich in drei Schritten beantworten:

1.) Das Jahr 1933 mit seinem Regierungswechsel im Januar verband sich für die evangelische Kirche mit der Hoffnung auf eine Gegenbewegung, nämlich auf das Ende des säkularen, neutralen Weimarer Staates und ein Ende von seinen moralisch abstoßenden Erscheinungsformen „in Kunst und Kino, in Kleidung und Gehabe“, so ein Bischof. Säkularismus als von Gott losgebundene Lebensart galt der Kirche als moralischer Auflösungsprozeß. Der Biograf Hanns Liljes, Prof. Harry Oelke, München, stellt fest: Lilje habe den Auflösungsprozess der Weimarer Republik als Voraussetzung dafür verstanden, die nationalsozialistische Bewegung als verheißungsvolle gesellschaftliche Kraft zu begrüßen. „Bereits 1932 erwartete er in dem sich darin manifestierenden nationalen Aufbruch des Volkes einen entscheidenden Impuls zur Rechristianisierung der Gesellschaft.“ . Selbst Leute wie Hanns Lilje mit seinerzeitigen internationalen Erfahrungen setzten also auf eine Rechristianisierung im aufkommenden nationalsozialistischen Staat. Die Verkennung der Weimarer Republik als eines 1932/33 sich auflösendes Staatsgebildes gehört m.E. zu den bösartigsten Hinterlassenschaften der Nazipropaganda.

Die Rechristianisierung der ns. Zeit ging von zwei Seiten aus, von der Regierung Hitler/Hugenberg (a) und von der Kirche (b).
(a) Das aktuelle Regierungsprogramm der Koalitionsregierung Hitler/ Hugenberg stilisierte sich als Kreuzzug gegen den Atheismus. Deutschland stünde vor der Alternative Nationalsozialismus oder Bolschewismus, Christentum oder Atheismus. Der sowjetische Bolschewismus als die Ausgeburt des säkularen Staates stünde vor der Tür und habe sich bereits in der kommunistischen Gottlosenbewegung auch im Deutschen Reich breit gemacht. Also verfolgte die Regierung Hitler/Hugenberg kreuzzugartig 1933 die politische Linken im Reich und „vernichtete“ sie, Hitler unterstützte Franco im spanischen Bürgerkrieg ab 1936 und schließlich führte er 1941 den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Die beiden christlichen Kirchen dagegen erklärte die Regierung Hitler/Hugenberg feierlich zur Grundlage ihrer Regierungspolitik. So stand es wiederholt in der Regierungserklärung vom 21.3.1933 und wurde nie widerrufen. Die Kirchen vertrauten dieser Erklärung, die katholische Kirche änderte im Handumdrehen ihre bisher antinazistische Haltung und insbesondere die Jesuiten erdachten programmatisch einen „Zugang zum Nationalsozialismus“.
Diese rasche Einbindung der Kirchen in die nationalsozialistische Gewaltpolitik produzierte einen sichtbaren Mentalitätswandel. Kirche galt nicht mehr als altmodisch, modernisierungsfeindlich, sondern lag im Trend. Die Menschen traten massenhaft in die evangelische Kirche ein. (siehe Tabelle) 1933 bis 1935 überstiegen die Kircheneintrittszahlen die Kirchenaustrittszahlen. Die Kirchen wurden von dem Ansturm überrascht. Nunmehr besetzte die Kirche den öffentlichen Raum.
Die Masseneintritte waren leicht als ein großer Sieg für die Idee der Volkskirche zu deuten. Nachdem 1918 das System der Staatskirche beendet worden war, fand die Kirche auf der Suche nach einem neuen Schlüsselwort für ihre Situation das Wort von der„Volkskirche“. Das war die Grundidee des richtungsweisenden Buches des Generalsuperintendenten Otto Dibelius 1926 „Das Jahrhundert der Kirche“. Kirche also für alle und am liebsten mit allen. Diesem Ziel war sie 1933, so glaubten sie, sehr nahe gekommen. Jene, die noch zögerten, Volkskirche in der Volksgemeinschaft zu sein, wurden mit großem Aufwand durch Volksmission umworben, auch ihrerseits noch der Kirche beizutreten.
Hitler ließ es auch nicht an Signalen für seine angeblich kirchliche Einstellung fehlen. Er weitete den staatlichen Schutz für die großen Kirchenjahresfeste (Weihnachten, Karfreitag, Ostern usw) auf das Erntedankfest aus, das von nun an als Staatsfeiertag galt. Er setzte auch persönlich demonstrative Signale für seine volkskirchliche Verbundenheit. Als Hermann und Emmy Göring 1934 im Berliner Dom kirchlich heirateten, fungierte Hitler als Trauzeuge. Er stiftete zur Einweihung der Saardankkirche 1935 eine Bibel. Als Hermann und Emmy ihre erste Tochter bekamen, veranstalteten sie eine Haustaufe, Hitler war Taufpate. Die Bilder gingen im Oktober 1938 durch die Illustrierten. Es geht hier nicht um den persönlichen Glauben Hitlers und ob eine solche Taufe überhaupt möglich und gültig war, sondern nur um das der Öffentlichkeit vermittelte Bild, und dessen Botschaft lautete: Hitler ist für die Kirche. Mehr noch: Schirmherr der Volkskirche und Garant für ihren Fortbestand in seinem Dritten Reich.
Auf dem Höhepunkt seiner Macht, nach dem Sieg über Frankreich im Juni 1940, ließ Hitler zum Erstaunen der Parteizentrale den Choral „Nun danket alle Gott“ anstimmen. Er ordnete an, sieben Tage lang eine Stunde die Kirchenglocken zu läuten. Dabei geht es nicht darum, was Hitler glaubte, sondern welche Wirkung er bei der deutschen Bevölkerung erzielen wollte. Und das war ganz gewiss keine antikirchliche.

(b) Die Rechristianisierung ging aber vor allem von Seiten der Kirche aus. Unentwegt wurde bis 1945 Hitler als die von Gott verordnete Obrigkeit gepredigt und ständig der Bevölkerung und den Gemeinden vorgehalten. Eine verdrehte Auslegung der Bibelstelle Röm. 13 forderte von den Kirchenmitgliedern den fälligen Gehorsam gegenüber der nationalsozialistischen Regierung.
12 Jahre lang. Das blieb nicht ohne Wirkung.
Eindrücklicher waren vermutlich die allsonntäglichen Fürbittgebete, in die nun der Führer und seine Berater ausdrücklich einbezogen wurden, durch das ganze Kirchenjahr hindurch . Dafür wurde für die Hand des Pfarrers eine Agende geschaffen. „Walte mit deiner väterlichen Gnade über unserm Vaterland und seinem Führer“, „Verleihe dem Führer unseres Volkes und aller weltlichen Obrigkeit die Gnade, nach deinem Wille zu regieren,“ zu Pfingsten: „ Lass deinen Geist walten über unserm ganzen Lande und seiner Obrigkeit, unsern Führer nimm in deinen gnädigen Schutz“. Besonders eindringlich war diese Fürbitte im Zusammenhang mit dem Verlust eines Familienmitgliedes.
Die Beilage zum bayrischen Amtsblattes Nr. 17 1943 enthielt ein Fürbittengebet mit folgender Formulierung: „Sende deinen göttlichen Trost in die Herzen derer, die um einen Sohn, einen Bruder, einen Vater trauern. Lass aus der Saat der Tränen eine Ernte der Freude erwachsen für Zeit und Ewigkeit. Wir bitten dich auch für den Führer unseres Volkes: Sei ihm mit deiner Gnade nahe. Schenke ihm rechten Rat und rechte Tat zur rechten Zeit und hilf, dass in allem dein heiliger Wille geschehe.“
Den Hitlergruß, seit 1933 öffentlich eingeführt, interpretierte der Reichskirchenausschuss, die provisorische Gesamtleitung der DEK, als Ausdruck eines Gebetes. Wer „Heil Hitler“ sagte, bete. Im Frühjahr 1938 ließen sich 90 % der evangelischen Pfarrerschaft freiwillig auf Hitler und die Nazigesetze vereidigen. An den zahlreichen Staatsfeiertagen wurde auch auf kirchlichen Gebäuden festlich geflaggt. Zum 50. Geburtstag Hitlers 1939 stand die evangelische Kirche Schlange zum Gratulieren, die Pfarrerschaft schenkte Hitler eine Bibel. Sie konnte sich nicht beklagen: es erschienen bis 1941 massenhafte Gemeindebriefe in allen Landeskirchen, die christliche Traktatproduktion war erheblich, Otto Dibelius, der dienstentlassene Generalsuperintendent, veröffentlichte mehrere Auslegungen zu biblischen Büchern. 1000 kirchliche Gebäude wurden in der katholischen und evangelischen Kirche während der Nazizeit errichtet. Die lutherischen Kirchen bereiteten sich darauf vor, durch die Schaffung einer zentralen großlutherischen Kirche sich in das nationalsozialistische Großdeutsche Reich einzupassen. Ein dafür passendes Gesangbuch war in Arbeit. In vorauseilendem Gehorsam hatte OLKR Mahrholz in den Anhang des Hannoverschen Gesangbuches das Lutherlied „Verleih uns Frieden gnädiglich“ 1938 folgendermaßen umgedichtet: „Gib unserm Führer und aller Obrigkeit Frieden und gut Regiment, dass wir unter ihnen ein geruhig stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Amen“.
In der evangelischen Kirche wurde das Kitschbild vom frommen Hitler weit verbreitet. Er habe bei einem Gespräch mit Diakonissen gestanden, dass er täglich die Herrnhuter Losungen und, wie Bismarck, das Neue Testament lese.
Die gescheiterten Attentate auf Hitler im November 1939 und Juli 1944 banden die Kirchen noch enger an den „Führer“, sie unterstützten im Oktober 1944 den Aufruf zum totalen Kriegseinsatz, der auch von den Landeskirchen „den letzten Einsatz aller Kräfte“ verlange. Als die sowjetischen Truppen 1945 die ostpreußischen, pommerschen und brandenburgischen Gebiete besetzten, spitzte sich die Alternative „Bolschewismus oder Nationalsozialismus“ für Bischof Marahrens derart zu, dass er seine Hannoverschen Amtsbrüder zu vermehrtem Gehorsam gegen Führer und Reich aufforderte.

Diese Sicht eröffnet vor allem einen Blick in den kirchlichen Alltag, jenseits von Bekennender Kirche und Deutschen Christen, auf die sog. „Kirchliche Mitte“, die unermüdlich einen gemeinsamen Nenner von Kirche und Nationalsozialismus suchte. Zu ihr gehörter die große Mehrheit der evangelischen Gemeinden und Pfarrer. .
Ein klassisches Dokument der kirchlichen Mitte verfasste Hans Schomerus unter dem Titel „Ende des Säkularismus“. Schomerus war von 1936-1939 Domprediger in Braunschweig, dann in Wittenberg Koordinator des Verhältnisses von Christentum und Nationalsozialismus“, nach 1945 Schriftleiter von „Christ und Welt“ und seit 1951 Leiter der Ev. Akademie in Herrenalb. Für Schomerus war die zurückliegende liberale Gesellschaft des Kaiserreiches und der Weimarer Republik der Höhepunkt des Säkularismus. Der Liberalismus sei seinem Wesen nach die Umkehrung der Religion. . Der Nationalsozialismus sei „eine Bewegung, die sich auszeichnet durch ihren Sinn für die uns bindende Wirklichkeit im Diesseits. Wir sehen ein Volk, das nicht mehr bloß Haltung kennt, sondern auch Bindung (Religion), nämlich jene Bindung, die v o r uns gegeben ist wie Blut, Boden, Führung Rasse, Volk, Familie usw.“ (ebd S. 25) Nationalsozialismus verstand Schomerus als Rückkehr des Religiösen.

Der ns. Staat ist nach alledem in die Phase der Re-Christianisierung zu rechnen. Das war mein erster Schritt.
2.) Nun der zweite: Die gängige historische Forschung deutet die nationalsozialistische Zeit allerdings völlig anders: nämlich als sichtlichen Höhepunkt einer antikirchlichen Säkularisierung. In zahlreichen Auflagen hat der Schweizer Historiker Walther Hofer seit 1957 den Nationalsozialismus als antichristliche Diktatur gedeutet. Im 4. Kapitel „Nationalsozialismus und Christentum“ schildert er die Lage der christlichen Kirchen unter den Stichworten „offener Konflikt mit der ev. Kirche“ (S. 122), staatliche Zwangsmaßnahmen (S.123), 1937 Höhepunkt des Kirchenkampfes“ (124), und abschließend: „Hitler gelang es nicht, diesen breiten Widerstand aus kirchlichen Kreisen zu brechen“ (S.126) An Hofers Deutung orientierten sich Jahrzehnte lang die Schulen. Dieses Deutung wird heute von der Bundeszentrale für politische Bildung popularisiert. Der Heidelberger Kirchengeschichtler Christoph Strohm beschreibt die Lage der „Kirchen im Dritten Reich“ Ausgabe 2011 als „Hoffnung und Ernüchterung“ im Jahr 1933, als „Gleichschaltung und Widerstand“ 1934, „Ausgrenzung und Repression“ (1935-1939) und als „Verfolgung“ (1939-1945).
Ich halte diese populäre Darstellung für eine bedauerliche Vereinfachung des Verhältnisses von NS-Staat und ev. Kirche. Dabei sollen die tatsächlichen Konfliktfelder keineswegs verkleinert werden. Ich greife fünf heraus:
1935 verkündete der Reichsinnenminister Frick das Programm zur „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“. Der Kirche sollte nicht mehr wie bisher der öffentliche Raum zur Verfügung gestellt werden. Allmählich verschwand die Kirche regional unterschiedlich aus der medialen Öffentlichkeit, aus Rundfunk, Presse und öffentlichen Veranstaltungen im Freien. Das war ein schwerer Schlag gegen das volkskirchliche Verständnis von Kirche, auf die die Kirche seit 1933 so große Hoffnungen gesetzt hatte. Aber es bleibt die Frage: gehört die Öffentlichkeit zum Wesen der Kirche? Vor allem: verfügte sie nicht selber über große Räume, in denen sie Jahr für Jahr Großveranstaltungen abhielt und abhalten konnte? Eine Neuorientierung von einer Volkskirche zu einer völlig staatsunabhängigen Minderheitskirche war ihr nicht möglich. Im übrigen besetzte die Kirche Sonntag für Sonntag mit Glockengeläut den öffentlichen Raum.
Der Reichsinnenminister Frick führte 1936 als neues konkurrierendes Konfessionssignal das Wort „gottgläubig“ ein. Unter dieser Rubrik sammelten sich jene Nationalsozialisten, die von der Kirche abrückten sowie jene Gruppe von Freidenkern, die bereits aus der Kirche ausgetreten war. Eine weitere Gruppe bestand aus Anhängern einer nordischen Religiösität. Bestimmend war die braune Färbung. Für diese wurden auf den Rathäusern Lebensfeiern zur Geburt eines Kindes und zur Eheschließung eingerichtet. Vor allem aber wurde wieder die Sitte der Jugendweihe aufgenommen.
Es ließen sich bei der Volkszählung 1939 2.745.000 Personen als „gottgläubig“ registrieren.
Die Kirche verlor mit der Einführung dieses Konfessionssignals die Alleinvertretung in Sachen ethischer Werte, die sie als Volkskirche in der ns. Volksgemeinschaft immer noch in Anspruch nahm. Aber gehört ein solcher Absolutheitsanspruch in ethischen Fragen zum Wesen der Kirche?

Ein weiteres Konfliktfeld war der Schock der Kirchenaustritte seit 1937.
Noch nie waren derart viele Menschen innerhalb von vier Jahren aus der ev. Kirche ausgetreten wie seit 1937. Es wäre zu einfach, als einzigen Grund eine nazifeindliche Gegenpropaganda zu benennen, die es tatsächlich gab. Denn als der Druck von Seiten der Partei nach 1945 weggefallen war, traten diese keineswegs alle wieder in die Kirche ein. Die Kircheneintritte nach 1945 entsprechen keinesfalls den Kirchenaustritten von vor 1945. Die Kirche stand für viele Kirchenmitglieder abseits eines Modernisierungsschubes, den der ns. Staat der Wirtschaft und Forschung ermöglichte. Die Kirche blieb in ihrer Verkündigung den Ansprüchen einer aufgeklärten Gesellschaft viel schuldig. Die eingangs erwähnte Infantilisierung stieß nach wie vor ab.
Die Abkehr von der Kirche kränkte die Kirche in ihrem Anspruch, Kirche für alle und mit allen zu sein.
Schließlich zeigt ein Blick auf den Mitgliederbestand der Kirche von 1939 die geringfügige Verhältnismäßigkeit der Austritte. Der Mitgliederbestand der christlichen Kirchen blieb im Dritten Reich völlig unangetastet.

Als viertes Konfliktfeld nenne ich, dass in historisch bisher beispielloser Weise Nazistaat und Kirchen aufeinander stießen. Galten bis 1918 Regierung, Justiz und Kirche als viel plakatierte Stützen der Gesellschaft, so erhielten nunmehr zahlreiche Pfarrer Redeverbot und wurden sogar aus ihren Kirchengemeinden ausgewiesen: 1935 erteilte der Staat 38 Redeverbote und 45 Ausweisungen aus den Gemeinden. 1937: 26 Redeverbote, 28 Ausweisungen, 112 Verhaftungen. 1936 wurde der pensionierte Landgerichtsrat Friedrich Weißler wegen der Veröffentlichung einer sehr kritischen Denkschrift verhaftet und im KZ Sachsenhausen ermordet. 1937 wurde einer der führenden Köpfe der BK, Pfarrer Martin Niemöller, bis 1945 ins Konzentrationslager verbracht. Andere folgten.

Als letztes Konfliktfeld sei die Schule genannt. Tatsächlich wurden viele Lehrer, die noch als Organisten in ihren Gemeinden tätig waren, gedrängt, diese Tätigkeit aufzugeben. Der schulische Alltag war von Fahnenappell und Heil Hitlergruß zu Beginn des Unterrichts, stofflich besonders in Biologie und Geschichte nazifiziert. Aber auch hier gilt es, Vereinfachungen zu vermeiden. Die Verhältnisse waren oft von Schule zu Schule verschieden. Der Religionsunterricht war keinesfalls verboten und in Bayern erhielten die Schüler für ihre Teilnahme am Reliunterricht ein Zeugnis auf einem Extrablatt. Besonders anschaulich wird das Nebeneinander von Kirche und Nationalsoziaslismus am, Beginn des katholischen Unterrichtes, der so ging: „Gelobt sei Jesus Christus- in Ewigkeit Amen. Heil Hitler - Heil Hitler- Setzen.“

Die Sicht des kirchenfeindlichen Säkularismus wurde nach 1945 besonders ausführlich dargestellt. Walter Künneth interpretierte 1947 das Verhältnis von Nationalsozialismus und ev. Kirche als Zusammenstoß, nämlich einer antichristlichen und christlichen Welt.
Helmut Thielecke verstand den Nationalsozialismus als Ausdruck des Nihilismus und Hanns Lilje in seinem Lutherbuch 1946 als „offene Bekämpfung“ der Kirche . Lilje liebte weitschweifige Ausflüge in die Geistesgeschichte und verstieg sich zu der Feststellung, wahrscheinlich habe „die stillschweigende Säkularisierung des Lebens in den letzten hundert Jahren dem christlichen Charakter Europas mehr Schaden zugefügt, als die offene Bekämpfung der jüngsten Zeit“ .
Künneth nahm diese sonderbare geistesgeschichtliche Abfolge in seinem Buch folgendermaßen auf:
Das Wesen des Nationalsozialismus sei nur aus der ihm vorhergehenden Welt des Säkularismus zu begreifen, aus dem er geboren und als dessen konsequenter Ausläufer er zu werten sei (S. 20). Im ersten Abschnitt beschreibt er – so die Überschrift - „ die Welt des Säkularismus“, als Abkehr vom christlichen Gottes-, Menschen- und Geschichtsbild seit der Renaissance, und nannte als dessen prägende Gestalten der Neuzeit Darwin, Nietzsche und Houston Stewart Chamberlain.
Den Nationalsozialismus als Folgeerscheinung von Renaissance und Aufklärung zu beschreiben ist eine jeden Theologen beschämende Groteske und schwerwiegende Verirrung. Sie entsprach genau der Ableitung des Nationalsozialismus in der katholischen Kirche, eine Ökumene der Verirrung.
Vergessen war die ganz andere in der NS Zeit auf Postkarten viel verbreitete Abfolge Luther- Friedrich d. Gr.- Bismarck- Hindenburg- Hitler.

Diese Sicht des antikirchlichen Säkularismus betont die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche unter den Stichwort „Kirchenkampf“. Diese Sicht gilt heute als überholt. Joachim Mehlhausen schlägt in dem Leitartikel in der Theologischen Realenzyklopädie von 1994 vor, auf den Begriff „Kirchenkampf“ zu verzichten. Als kirchengeschichtliche Epochenbezeichnung für die Gesamtheit aller die Kirchen betreffenden Ereignisse in den Jahren 1933-1945 könne er nicht mehr verwendet werden.“

Die Kirche erlebte den Nationalsozialismus in ihrem Alltag widersprüchlich: mal kirchenfeindlich, mal kirchenfreundlich. Sie selber verhielt sich widersprüchlich, mal stabilisierend, mal kritisch distanziert. Diese Widersprüchlichkeit war begründet in der Widersprüchlichkeit der Kirchenpolitik der nationalsozialistischen Führung: einige wollten die Kirche ganz ausschalten, andere suchten einen gemeinsamen modus vivendi. „Die nationalsozialistische Religions- und Kirchenpolitik läßt keine durchgängig klare Konzeption erkennen. Die praktisch-politischen Entscheidungen entsprachen nur partiell den ideologisch-programmatischen Aussagen“, resumiert Carsten Nicolaisen in der RGG.
Die unterschiedlichen Erfahrungen spiegeln auch die regionalen Unterschiede. Von antikirchlichem Attacken waren insbesondere die Kirchen der altpreußischen Union, etwa in Berlin-Brandenburg und im Rheinland betroffen. In den sog. intakten Landeskirchen Bayern, Hannover und Württemberg hingegen regierte die von den Auseinandersetzungen zwischen Bekennender Kirche und Deutschen Christen nur wenig berührte „Kirchliche Mitte“.

Diese Widersprüchlichkeit wurde im Alltag fest zusammengehalten durch die bis 1945 ungebrochene Anerkennung des nationalsozialistischen Staates als von Gott verordnete Obrigkeit, die Bindung von Pfarrerschaft und Gemeinden an die Person Hitlers, durch den antidemokratischen und antikommunistischen Rahmen der ns. Gesellschaft, den die ev. Kirche akzeptierte. Innerhalb dieses festgefügten Rahmens waren dann auch Kritik und Widerspruch möglich.

3.) In einem dritten Schritt möchte ich schildern, welche bleibenden theologischen Einsichten die Kirche durch die widersprüchliche Erfahrung des Säkularismus im Nationalsozialismus gewonnen hat:
In nenne davon vier:
a) Schon 1942 versuchte Rudolf Bultmann den Graben zwischen Glauben und Verstehen, zwischen Kirche und Wissenschaft zu überbrücken durch das Programm der Entmythologisierung und die Kommentierung des Johannesevangeliums (1941). - zunächst eine Weiterführung seiner formgeschichtlichen Arbeiten an den Synoptikern, Das Programm konnte auch- aber das war ein Nebenaspekt - als eine Antwort auf die heftigen Angriffe von Seiten Alfred Rosenbergs, des von Hitler ernannten Chefideologen, auf die biblischen Texte und Inhalte, insbesondere auf das Alte Testament verstanden werden. Bultmanns Blick galt den Gemeinden und der Beendigung der infantilen Hinnahme der biblischen Botschaft sowie als Faktum der Historie. Zum besseren Verstehen müssten die biblischen Texte ihres mythischen Weltbild entkleidet werden, um die dahinter verborgene Botschaft, das Kerygma, zu entdecken. Das löste noch in nationalsozialistischer Zeit eine heftiger Kontroverse aus. Die Entmythologisierung wurde als Teil einer fatalen Säkularisierung missverstanden. Fällt der Mythos, so fällt auch der ganze Gehalt der biblischen Botschaft, hieß es. Bultmann ging es jedoch nicht um die Eliminierung des biblischen Mythos, sondern und dessen zeitgerechte Interpretation. Diese Diskussion reichte bis in die 60er Jahre, als die Säkularisierung kräftig fortgeschritten war.

b) Einen anderer Versuch formulierte Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer war aus einem humanistischen kirchendistanzierten Elternhaus herausgewachsen und hatte sich der Theologie und Kirche zugewandt, Er erlebte die Zeit des Nationalsozialismus als ein Ende der Religion und sah in der nicht-religiösen Interpretation der biblischen Wahrheiten die zukünftige Aufgabe einer Kirche im säkularen Zeitalter. Dahinter steckte die Einsicht von einer „mündig gewordenen Welt“, die sein Freund Eberhard Bethge in den 50er Jahren in vielen Tagungen entfaltete, vertiefte und unter diesem Titel in mehreren Bänden veröffentlichte: „Die mündige Welt“. Heft 2 enthält u.a. folgende Referate: „Die nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“ bei Bonhoeffer und die Entmythologisierung“ und „Diesseitige Transzendenz“. Bischof Weber hat kürzlich anlässlich der Eröffnung einer Bonhoefferausstellung in Braunschweig darauf hingewiesen, dass es bei Bonhoeffer zunächst nicht um ein Sprachproblem geht wie bei Bultmann, sondern um einen praktischen Lebensvollzug, nämlich um die Nachfolge hinter Christus her, der sich im Elend und Leid der mündigen Welt vorfindet. Heute wird m.E. dieser Versuch Bonhoeffers mit dem fatalen Hinweis auf eine Rückkehr des Religiösen für gescheitert erklärt.

c) „Die Säkularisierung als theologisches Problem“ lautet der Untertitel einer Abhandlung von Friedrich Gogarten, die er als „Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit“ – so der Titel – 1953 umschrieb. Gogarten ging von der Voraussetzung aus, dass die Säkularisierung sich aus der christlichen Welt und Wahrheit entwickelt habe. Das war wiederum ein völlig anderer Denkansatz, den seine bedeutendste Schülerin, Dorothee Sölle, in dem Aufsatz „Atheistisch an Gott glauben“ aufnahm. Der mündige Gläubige war dem schlichten, naiven, theistischen Weltbild entwachsen, hatte die Einwände des Atheismus geprüft und gelten lassen und hatte zu einer anderen Form des Glaubens gefunden, die dem säkularen Anspruch der Welt, ihrer Eigengesetzlichkeit und ihrem ethischen Handeln partnerschaftlich standhalten konnte. Er stillt sein Transzendenzbedürfnis nicht in der Sehnsucht nach einem supranaturalen Jenseits, sondern im hilfsbedürftigen oder geliebten Nächsten.

d) Schließlich erwähne ich eine Form der Auseinandersetzung mit dem Säkularismus der 30er und 40er Jahre, der eine biblische Entdeckung zugrunde liegt. Heinrich Vogel, Mitglied der Bekennenden Kirche, später Professor für Systematische Theologie in Berlin, bearbeitete in mehreren Kapiteln seiner 1951 erschienenen Theologie „Gott in Christo“ die „Rechtfertigung des Gottlosen“, wie sie Paulus im Römerbrief erwähnt. Nicht der Fromme und Rechtgläubige ist der vor Gott Gerechtfertigte, sondern der Gottlose. Das heißt in unserem Zusammenhang: der säkulare Mensch.
Die Rechtfertigung des säkularen Menschen vor Gott nimmt die Welt ernst in ihrer autonomen Mündigkeit. Sie eröffnet ein Gespräch zwischen Glaube und säkularem Menschen in ihren verschiedenartigsten Formen. Sie verzichtet auf jede Form des Absolutheitsanspruches der Kirche, sie verwirft auch die missionarische Methode, die den säkularen Menschen als Einzelnen oder gruppenweise doch wieder zurückholen will in das theistische Gehäuse einer Volkskirche, sie versteht sich stattdessen als Minderheitskirche in einer selbstverantwortlichen mündigen Welt und sucht von Zeit zu Zeit nach Bündnissen mit ihr.
Damit wären wir am Ende bei der Praktischen Theologie gelandet. In keiner theologischen Disziplin ist die Frage der Säkularisierung so konkret wie in der Praktischen Theologie, wo sich viel Erfahrung und Kompetenz angesammelt hat. Bei jedem Gespräch anlässlich einer Taufe, einer Trauung, oft auch einer Beerdigung begegnet die Pfarrerin, der Pfarrer Menschen von beträchtlicher Kirchendistanz, von Glaubensferne, Glaubensleere, von Unkenntnis und beharrlicher Ablehnung alles dessen, was Kirche ausmacht: Gemeinde, Gebet, Fragen an Gott und den Glauben. Vor eine erste Bewährung in diesen Fragen wurde ich als Hilfsprediger, also kurz nach dem zweiten theologischen Examen, gestellt, als das Brautpaar mich, den in Seelsorge noch ziemlich Unerfahrenen, im Traugespräch bat, das Lied „Der Dompfaff hat uns getraut“ singen zu lassen. Meine Antwort verrate ich nur auf Nachfragen.




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