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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

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Das Märchen vom "roten Schöningen"

Vortrag am 19.9.2009 im Rathaussaal in Schöningen
von Dietrich Kuessner



Die Redeweise von "roten Schöningen" weckt unterschiedliche Gefühle. Die einen verweisen mit Stolz auf die eingewurzelten sozialdemokratischen Traditionen in dieser Stadt, z.B. darauf, dass schon bei den Reichstagswahlen 1893 die SPD mit 1.082 Stimmen und 34,2% stärkste Kraft vor dem mächtigen "Bund der Landwirte" war und weit vor den Liberalen und Konservativen lag. Andere kriegen eine Gänsehaut und denken an "rote Flut", "rote Garde" und Aufteilung von Eigentum. Rot müsse also erbittert bekämpft werden, so die einen; auf rot könne man stolz sein, sagen die andern.
Weil das "rote Schöningen" von zwei gegensätzlichen Seiten, vom Bürgertum als Befürchtung, von der Sozialdemokratie als Erfolgsgeschichte benannt wird, hat sich diese Redeweise allseits fest eingebürgert. Aber hält sie den historischen Fakten aus der Schöninger Stadtgeschichte zwischen 1918 und 1930 stand?

1.) Keine "roten" Bürgermeister von Schöningen
Schöningen hat zwischen 1910 und 1930 drei bedeutende Bürgermeister gehabt, die wichtige Etappen der Stadtgeschichte geprägt haben.
Mit 30 Jahren fing 1910 hier Rudolf Schulz an, ein studierter Jurist, der bereits in der Wolfenbüttler Stadtverwaltung gearbeitet und sich von dort nach Schöningen beworben hatte. Er erlebte Schöningen als blühende Industriestadt vor dem 1. Weltkrieg und die wirtschaftliche und kommunalpolitische Elendszeit des 1. Weltkrieges, der den industriellen Niedergang von Schöningen als Industriestandort einleitete. Schulz verließ Schöningen mit 39 Jahren, nachdem er während der unruhigen Streiktage im Frühjahr 1919 kurze Zeit in Geiselhaft genommen worden war. Er fühlte sich nicht genügend unterstützt und kündigte von sich aus zum Juli 1919. Er wurde Regierungsrat und später Oberfinanzrat.
Schöningen verdankt ihm einen genialen Einfall während der sog. Novemberrevolution. Als vor dem Schöninger Rathaus am Sonntag, dem 10. November 1918, eine Delegation des Arbeiter- und Soldatenrates erschien, um die Macht zu übernehmen, versprachen die städtischen Behörden, im Auftrag des A.u.S. Rates wie bisher weiterzuarbeiten, mit einer Veränderung: es wurden zwei Mitglieder des A.u.S.Rates in den Magistrat aufgenommen, u.a. der Vorsitzende des A.u. S. Rates. Zum Zeichen weitergehender Normalität tagte, als ob Weltbewegendes nicht passiert wäre, am Sonntag Nachmittag die Stadtverordnetenversammlung und beriet wie vorgesehen über die Ernährungsfrage, über die Arbeitsbeschaffung für die zurückkehrenden Soldaten und die dringlich gewordene Wohnungsfrage. Das war ein ausgesprochen geschickter Schachzug des 38-jährigen Bürgermeisters Schulz, der wie sein Wolfenbüttler Bürgermeisterkollege auf den A.u.S. Rat zugegangen war. In Wolfenbüttel hatte der A.u.S. Rat auf dem Rathaus in Wolfenbüttel am 9. November eine rote Fahne gehisst und dem Bürgermeister die weitere Ausführung der politischen Geschäfte übergeben. Am Abend lobte Bürgermeister Eyferth vor der Stadtverordnetenversammlung das maßvolle Auftreten der A.u.S. Rates.
Damit war die sog. Revolution auf der Ebene der Kommunalverwaltungen in die bestehenden politischen Strukturen eingebunden. Die Revolution wurde durch die Institution erstickt.

Schulz's Nachfolger wurde Albert Schelz, 44 Jahre und von Beruf aus Schriftsetzer u.a. bei der Druckerei Heckner in Wolfenbüttel. Also kein Jurist wie sein Vorgänger Schulz, aber mit längerer kommunalpolitischer Erfahrung. Schelz war bereits 1909 der erste SPD Abgeordnete in der Wolfenbüttler Stadtversammlung geworden, im selben Jahr auch Vorsitzender des SPD Kreisbezirkes und nach 1918 Mitglied des Landtages. Schelz brachte also politische Erfahrung mit und die hatte er bitter nötig, denn bei der Bürgermeisterwahl im Herbst 1919 kandidierte gegen ihn der prominente Braunschweiger Radikallinke Sepp Oerter, der die entscheidende Rolle in den ersten Novembertagen in Braunschweig gespielt hatte. Diese parteipolitische Auseinandersetzung lag Schelz im Grunde gar nicht. Er musste zur Kandidatur erst mühsam überredet werden.
Seiner Kandidatur kam die politische Großwetterlage entgegen. In der Landeshauptstadt war eine ganz große Koalition aus dem bürgerlichen Landeswahlverband, der SPD und der linksliberalen DDP gebildet worden. Ging so was nicht auch in der Provinz? Albert Schelz erklärte sich schließlich bereit. Er bildete zusammen mit dem Schöninger Oberamtsrichter Robert Lindemann die Liste Schelz-Lindemann, die sein Gegenkandidat Oerter in einer Annonce als "Liste der kapitalistischen Ausbeuter" bezeichnete. "Wer nicht will, dass die kapitalistischen Ausbeuter und ihre Zuhälter, die Rechtssozialisten, das Volk erneut in das ungeheure Elend eines neuen Weltkrieges stürzen, der wähle als Bürgermeister Sepp Oerter". (Sch.A. 27.9.1919).
Schelz hingegen beschwor das bürgerliche Gespenst von Arbeitsplatzverlust und Bolschewisierung.
"Wollt ihr Ruhe und Ordnung, vernünftige Kommunalpolitik", nämlich: "dass unsere Industriestadt Schöningen nicht nach Oerterschen Plänen russischen Zuständen zugeführt wird und dann verödet, weil die arbeitbietende Industrie‚ Schöningen den Rücken kehrt und so der Arbeiter, der Gewerbetreibende, der Kaufmann brotlos wird?" (Sch.A. 23.9.1919), Oerter trete dafür ein, "dass eure Betriebe, eure Häuser, euer Grundbesitz, sogar eure Möbel ohne Entschädigung enteignet werden. Die Ersparnisse sollen euch genommen werden." (Sch.A. 25.9.1919)
Schelz erhielt mit diesem bürgerlichen Wahlprogramm 2.292 Stimmen, Sepp Oerter 1.947 Stimmen. (Sch.A. 30.9.1919) Damit hatte sich Schöningen gegen rot entschieden. Auch der Versuch der enttäuschten radikalen Linken in Schöningen, Schelz am 18. April 1920 durch eine Volksabstimmung loszuwerden, schlug fehl. Die Schöninger mussten mit "Nein" für den Verbleib von Schelz stimmen. Mit Nein stimmten 2.151 Schöninger, mit Ja 2.121. Schöningen hatte zum zweiten Mal den sozialdemokratisch-bürgerlichen Schelz gewählt. Aber nur mit 30 Stimmen mehr. Schelz notierte in seinem Tagebuch einen Tag später: "..ich habe die Folgen dieser Wahlkampagne gezogen und mich andernorts um Stellung bemüht. Hoffentlich kann ich den Staub Schöningens bald von den Pantoffeln schütteln". Aber Schelz blieb bis 1925. Ihm verdankt Schöningen, dass sich die demokratischen Anfänge in dieser Stadt trotz andauernder katastrophaler Ernährungslage stabilisierten. Nach ihm gehört längst eine Straße benannt.

Als im Oktober 1925 seine Amtszeit auslief, wurde er jedoch nicht wiedergewählt, denn die Mehrheitsverhältnisse in der Schöninger Stadtversammlung hatten sich bei der Kommunalwahl im Februar1925 verändert. Die SPD hatte nur noch 6 Sitze, die KPD einen, und diesen sieben Sitzen standen acht eines Bürgerblocks gegenüber, der als dritten Bürgermeister Dr. Bernhard Scheifele wählte. Scheifele war 39 Jahre alt, promovierter Volkswirtschaftler und hatte vorher eine Stellung bei der Nationalbank in Mannheim und bei Arbeitergeberverbänden gehabt, also alles andere als ein Roter. Scheifele blieb Bürgermeister bis 1945. Scheifele verzog nach Mannheim, behielt aber Schöningen in guter Erinnerung. Er wurde beim Entnazifizierungsverfahren als Parteimitglied seit Mai 1933 und als politisch Verantwortlicher automatisch in die harte Kategorie III eingestuft, was aber über seine kommunalpolitische Tätigkeit in Schöningen nichts besagt.

Der Traum eines roten Schöningen war, soweit es seine Bürgermeister betraf, jedenfalls ausgeträumt.

Das parteipolitische Patt der Magistrate
Aber ein Bürgermeister kann allein wenig ausrichten, wenn er nicht die passenden Zu- und Mitarbeiter hat. Engste Mitarbeiter waren nach der damaligen Kommunalverfassung die Magistrate, bzw. Stadträte, die ebenfalls gewählt wurden. Jeder der drei Schöninger Bürgermeister hatte einen Magistrat neben sich, der von 1919 - 1929 durch Wählerentscheidung mit zwei Bürgerlichen und zwei Sozialdemokraten besetzt war. Mit seiner 5. Stimme hatte der Bürgermeister die Mehrheit. Dieser Magistrat brachte in der Regel die Anträge in die Stadtversammlung ein, und die Anträge waren, weil der Magistrat parteilich gleichmäßig besetzt war, in der Regel so formuliert, dass sie die Zustimmung der Sozialdemokraten und der Rechten fanden. Ich habe dazu die Sitzungsberichte des Jahres 1923 durchgesehen. Die meisten Beschlüsse wurden einvernehmlich gefasst.

2.) Der kalt gestellte Arbeiter - und Soldatenrat (A.u.S. Rat)
Der revolutionäre A.u.S. Rat hatte in Schöningen einen Fehlstart. Hier fand die Wende nicht wie in Braunschweig und Wolfenbüttel auf der Straße, sondern im Saal statt. Die SPD hatte am Sonnabend, dem 9. November, abends im Kleppschen Saal an der Salinenstraße ihre reguläre Monatsversammlung, die nun besonders zahlreich von Soldaten und Zivilpersonen besucht war. Es sprach der 64jährige Heinrich Wassermann, von Beruf Zigarrenfabrikant, der mit ca 25 Jahren nach Schöningen gekommen war, und seit vielen Jahren Stadtverordneter für die SPD war. (Sch.A. 8.11.1919). Heinrich Wassermann klärte die Genossinnen und Genossen über die Lage auf. Es wurde auf Zuruf ein vorläufiger Arbeiter- und Soldatenrat gewählt, dem zehn Arbeiter und fünf Soldaten angehörten. Der Stadtverordnete Wassermann wurde 1. Vorsitzender und damit war eine personelle Verklammerung mit dem Stadtparlament hergestellt. "Die Versammlung verlief in Ruhe und Ordnung", stellte die Regionalpresse (Sch.Z. 12.11.1918) befriedigt fest. Es gab also keine revolutionären Umtriebe.
Höhepunkt dieses Novemberwochenendes war eine nach dem Gottesdienst am Markt um 11 Uhr von mehr als 1000 Einwohnern besuchte Friedensdemonstration, die durch die ganze Stadt zog. Eine Demo für das Ende des Krieges, nicht für die Revolution. Nichts als Freude über das Ende des Krieges und die Hoffnung auf eine Besserung der Lebensverhältnisse. Die rote Fahne vor dem Rathaus wurde "als Symbol der Republik Deutschland" - nicht der Revolution - "mit einem dreifachen Hoch begrüßt." Mit einem gemeinsamen Aufruf stellten sich Magistrat und A.u.S.Rat der Schöninger Bevölkerung vor (Sch. Z. 12.11.1918).

Die Hauptaufgabe eines A.u.S.Rates sollte es sein, die Beschlüsse der Stadtversammlung auf sozialistischen, revolutionären Gehalt zu überprüfen. Aber das blieb nicht nur in Schöningen reine Theorie. Noch im Juni 1919 klagte der A.u.S.Rat in Schöningen darüber, dass er den Wortlaut der Beschlüsse gar nicht zur Kenntnis erhielte. Die Stadtversammlung hatte ihn bisher einfach ignoriert, beschloss zwar entsprechend, aber schon bald entpuppte sich der Arbeiterrat als eine unproduktive Doppelstruktur, die sich allmählich auflöste. Der A.u.S.Rat stieß auf eine gewachsene, kommunalpolitische, aufeinander eingespielte Struktur und Verwaltung, die sich von einer sachfremden Gruppe nicht reinreden ließ.
Immerhin hatten die A.u.S.Räte eine beachtliche praktische Funktion, nämlich gehortete Nahrungsmittelbestände aufzuspüren und der Stadtverwaltung zur Verfügung zu stellen. Dazu wurde ein 30 Mann starker Sicherheitsdienst aufgestellt. Gelegentlich wurden solche Beschlagnahmungen auch mitgeteilt: "Der A. und S. Rat teilt uns zur Bekanntgabe mit, dass in einem hiesigen Haushalt 75 Pfund Fleischwaren, 80 Pfund feines Weizenmehl, 80 Pfund Erbsen und 130 Eier, von denen ca 100 bereits verdorben waren, und verschiedene andere Lebensmittel beschlagnahmt sind." (Sch.A. 26.1.1919) Aber solche Beschlagnahmungen blieben nur ein Tropfen auf dem heißen Stein der Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit.

Ein weiterer Grund für das Scheitern der A.u.S. Räte war die vom Landes-A.u.S.Rat bald ausgerufene Kommunalwahl im Dezember 1918.

3.) Die Kommunalwahl am 15. Dezember 1918
Eines der ersten Gesetze war die Einführung eines neuen Wahlrechtes. Endlich konnten alle Männer und Frauen ab 20 Jahre wählen und ab 25 Jahren gewählt werden und zwar bei der Kommunalwahl am 15. Dezember und der Landtagswahl am 22. Dezember. Sozialdemokraten und Unabhängige Sozialisten waren dazu gut organisiert, die Rechte sammelte sich vor allem in den Städten in Windeseile in Bürgerausschüssen und stellte ihre Kandidaten auf. In Schöningen hatte Oberamtsrichters Robert Lindemann die Initiative ergriffen, wiederholt deutlich erklärt, dass er sich auf den Boden der Demokratie stelle, und hatte zusammen mit Handwerksmeistern und Lehrern einen Bürgerausschuss unter Leitung von Lehrer Benz gebildet.
Die endgültige bürgerliche Liste enthielt u.a. acht Handwerkmeister, zwei Juristen, zwei Lehrer/ Lehrerin, zwei Arbeiter, einen Beamten, einen Kaufmann. (Sch.Z. 10.12.1918)
Aber die Bürgerliche Liste musste bei der Kommunalwahl am 3. Advent, dem 15. Dezember, mit nur sieben errungenen Mandaten die Mehrheit der linken Liste überlassen, die 11 Sitze erhielt. Auf der Liste der Linken hatten alle Mitglieder des Arbeiterrates kandidiert und waren auch gewählt worden. Der Ansatz, den Arbeiter und Soldatenrat in die bestehenden kommunalpolitischen Strukturen einzubinden, wurde also fortgesetzt und vertieft. Das machte den A.u.S. Rat gänzlich überflüssig.

In allen Städten des Braunschweiger Landes hatte der Bürgerblock eine Mehrheit. War also die Abhaltung der Gemeinderatswahlen taktisch ein Fehler der Linken gewesen? Sepp Oerter, Volkskommissar in Braunschweig und führend bei den Unabhängigen Sozialisten, erklärte in Schöningen bei einer USPD Versammlung am 21. März 1919: "Der größte Fehler, der bei der Revolution gemacht sei, sei die Annahme, dass der Weg zum Sozialismus über die Demokratie gehe." Das sei grundverkehrt. Nur vom Sozialismus komme man zur Demokratie. (Sch.A. 23.3.1919).

Schöningen war unter den Braunschweiger Städten die einzige mit einer linken Mehrheit, und dazu mit einer derart großen. 11:7. Auf den ersten Blick ein starkes Argument für die Redeweise eines "roten Schöningen".

4.) Die Einbindung der Linken in den gewöhnlichen kommunalpolitischen Alltag
Trotz der großen Mehrheit der linken Liste blieb in der Stadtversammlung wenig Spielraum für sozialistische Utopien. In der ersten, konstituierenden Sitzung am 3. Januar 1919 wurde die Linke in die ausgedehnte Ausschussarbeit eingegliedert - die Stadtversammlung hatte mehr als 10 Ausschüsse zu besetzen: Bau und Finanzausschuss, aber auch Steuererlass- und Steuereinschätzungskommission, Abschätzung von Gebäuden hinsichtlich ihrer Quartierfähigkeit, bei der damaligen Wohnungsnot besonders wichtig, Ackerverteilungsdeputation und andere. (Sch.A. 5.1.1919). In den Niederungen der Kommunalpolitik musste sich die sozialistische Mehrheit mit der Änderung des Hundestatus, der Vertilgung von Sperlingen, mit Teuerungszulagen für Beamte, und vor allem mit der Wohnungsnot in Schöningen befassen, die durch den Wohnungsbaustillstand während des Krieges verursacht worden war. Immer drückender wurde die Versorgungslage, die zur Sprache kam. Es gab keinen Fisch, keine Haferflocken, keine Graupen, kein Gries, keine Bohnen und Erbsen. Bürgermeister Schulz teilte mit, dass sich die Stadt mit Kohl, Salzgemüse, Mohrrüben und Steckrüben eingedeckt habe, die zur Verteilung kommen könnten. (Sch.A. 15.2.1919).

Als eine "revolutionäre" Tat könnte man den Antrag der Linken in der Stadtverordnetensitzung am 23. März 1919 ansehen, bei der nach kommunalpolitischem Kleinkram wie Umbau eines Ofens in der Gasanstalt, Erhöhung des Gaspreises, Änderung bei den Gebühren für Begräbnisse auch der Antrag behandelt wurde, die Fürstenbilder im Sitzungszimmer abzuhängen. Der Stadtverordnete der Bürgerlichen, Lindemann, argumentierte mit der listigen Begründung dagegen, durch die Fürstenbilder würde am Charakter der Zeit nichts geändert, denn "alle Kreise der Bürgerschaft hätten sich mit der Umwälzung abgefunden". Aber die Fürstenbilder wurden mit Stimmenmehrheit abgehängt. (Sch.A. 27.3.1919)
An dieser kommunalpolitischen Situation änderte sich grundsätzlich nichts, auch wenn sich die Mehrheiten in der Stadtverordnetenversammlung änderten.
Weder die Biografie der Bürgermeister noch die tatsächliche Wirksamkeit der Stadtversammlung legen es mir nahe, von einem "roten Schöningen" zu reden.

5.) Die "gefühlte" Revolution
Gab es so was wie die "gefühlte" Revolution, eine beständige Angst vor einer Veränderung der Verhältnisse? Es fällt auf, dass in der Gruppe derer, die sich auf den Boden der neuen Republik stellten, die Landwirte vollkommen fehlen. Dabei kam es auf deren Mitwirkung entscheidend an, denn sie waren für die Versorgung der Bevölkerung mit verantwortlich. Die Schlossdomäne unter Erich Bosse bewirtschaftete immerhin 381 ha, das Klostergut unter Amtsrat Schmidt 294, das Rittergut Degener 161 ha. Das Rittergut Proetzel in Esbeck 287 ha, die Domäne in Jerxheim unter Amtsrat Köchy 710 ha und das dortige Rittergut Evers 191. Wenn sie ihren Lieferverpflichtungen nicht nachkamen, hatte die Bevölkerung zu leiden. Im November 1918 erschien eine ganzseitige Annonce in der Sch.Z. worin die Landwirtschaftskammer die Braunschweiger Landwirte aufforderte, "dass die Landwirtschaft und zwar jeder einzelne, keine Nahrungsmittel über den dringend eigenen Bedarf zurückhält und freiwillig (dick unterstrichen) alles abliefert - jeder Schleichhandel muss unbedingt unterbleiben. Landwirte tut eure vaterländische Pflicht." (Sch. A. 19.11.1918)

Aber mit solchen patriotischen Aufrufen waren die Landwirte kaum zu überzeugen. Die Aufträge für das Heer waren weggebrochen, der Binnenmarkt war nicht leistungsfähig, wirtschaftliche Anreize zu mehr Produktion fehlten, weil Absatz und Preis in keinem Verhältnis standen. Die Landwirtschaft hatte durch eigene Banken ein eigenes Wirtschaftssystem, die Landarbeiter waren nicht gewerkschaftlich organisiert, und zur Not wehrten sie sich selber. Im Oktober 1923 annoncierte die Schlößdomäne zur Warnung von Dieben und Räubern "Selbstauslöser sind im Garten, in der Scheune, Kornbuden und an anderen Orten des Hofes ausgelegt." (Sch.A. 23.10.1923)

6.) Linke außerparlamentarische Opposition?
Für die besondere Radikalität eines "roten Schöningen" werden schließlich drei Ereignisse aus den Jahren 1919, 1920 und 1923 angeführt, die man als eine Art außerparlamentarische Opposition definieren könnte.
Vom 9. - 15. April 1919 wurde ein Streik im ganzen Land Braunschweig ausgerufen. Unmittelbarer Anlass waren die Ermordung des sozialistischen Ministerpräsidenten Eisner und die Ausrufung einer Räterepublik in München (siehe Sch.A. 8.4.1919), mit denen sich ein Teil der Arbeiter in Braunschweig solidarisierte. Ein revolutionärer Aktionsausschuss, bestehend aus Betriebsausschüssen und Gewerkschaftlern ließ so etwas wie eine illusionäre Räterepublik ausrufen. Die Beamten in der Landeshauptstadt streikten dagegen, und der Generalstreik wurde abgeblasen, weil selbst die USPD und der Braunschweiger A.u. S.Rat sich gegen den revolutionären Aktionsausschuss ausgesprochen hatten.
In Schöningen hatten die Betriebsausschüsse der Kali Werke am 6. April ein Betriebsrätesystem diskutiert. Sie gehörten dem Bergarbeiterverband an. ( Sch.A. 8.4.) Am 9. April rief ein ebenfalls revolutionärer Aktionsausschuss einen Generalstreik aus, der von der Belegschaft der Saline, der Firma Danzfuß und der BKB-Belegschaft der Treue ausging. (Sch.A. 10.4.1919) Bei einer Volksversammlung auf dem Burgplatz wurde die Errichtung einer Räterepublik, die Auflösung der Nationalversammlung und Beseitigung der Berliner Regierung gefordert. Das war nun politisch vollkommen lächerlich, weil sich die Linksregierung in Braunschweig bereits eine Verfassung gegeben und Delegierte in die Nationalversammlung entsandt hatte. Es war ein Krawallstreik mit illusionären Zielen, wobei unklar blieb, wie sich dieser Aktionsausschuss zur Schöninger USPD und SPD verhielt. In Schöningen hatte der Deutsche Metallarbeiter Verband einen großen Zulauf. Der Streik wurde völlig ergebnislos abgeblasen.

Das andere Ereignis vom April 1920 war wiederum keine Reaktion auf Schöninger Verhältnisse, sondern auf den Rechtsputsch des Freikorpsgenerals v. Lüttwitz und seines Komplizen Kapp, die beide ohne ausreichende Unterstützung die Berliner Reichsregierung stürzen wollten. Die Berliner Regierung war nach Stuttgart ausgewichen und rief zur Rettung der Demokratie den Generalstreik der Arbeiter aus. Der Rechtsputsch brach in Berlin bald zusammen. Aber überall streikten nun die Arbeiter, nicht nur gegen die Rechten, sondern auch für eigene sozialistische Ziele. In Schöningen auch. Massen versammelten sich vor dem Rathaus, die bewaffnete Einwohnerwehr hatte sich auf der Schlossdomäne verschanzt. Sympathisierte die etwa mit den Rechtsputschisten v. Lüttwitz/Kapp in Berlin? Die Massen drängten zur Schlossdomäne, es fielen Schüsse und es gab neun Tote, die meisten aus der demonstrierenden Masse auf dem Burgplatz, darunter zwei elfjährige Kinder. (Rose I, 250)
Fünf tote wurden gemeinsam beerdigt. "Bei der Trauerfeier standen die Särge offen. Die Beteiligung war riesenhaft. Die Erbitterung über dieses unglückselige Geschehen durchzitterte noch lange die Herzen nicht nut der Beteiligten, sondern der ganzen Stadt. Die Schöninger Atmosphäre war gleichsam mit Elektrizität geladen."
Erst von Bürgermeister Schelz herbeigerufene Regierungstruppen konnten in Schöningen den elenden Alltag wieder herstellen. Neben politischen Motiven war eine solche Versammlung auch ein Ventil, um auf die nach wie vor erbärmliche Versorgungslage und Arbeitsituation hinzuweisen.

Im August 1923 war die Ernährungslage derart katastrophal, dass die Landesregierung einen Aufruf erlässt "Hungersnot droht". Im ganzen Reich und auch im Braunschweiger Land gab es Teuerungskundgebungen und Lebensmittelunruhen. Einige der 27 Bäckerläden in Schöningen wurden gezwungen, Brot verbilligt herauszugeben, wenn es überhaupt etwas gab. (Sch. A.11.August 1923).
Die für die Landeshauptstadt gedachte Spende Süpplinger Landwirte von einem Bullen, drei Hammeln, einer Kuh, 80 Pfund Schmalz und Speck wurde in Süpplingen vom Aktionsausschuss geschlachtet und an Dorfbewohner verteilt. Die Not hat längst auch die Dörfer erreicht.(Sch.A. 23.August 1923). Die rasende Geldentwertung und die Massenentlassungen aus den Betrieben trieben die Bewohner ins Elend. Im Oktober 1923 entluden sich die immer heftiger werdenden sozialen Gegensätze in einem Sturm auf Schöninger Läden Aber dazu müsste man weniger die kommunalpolitische Lage als die wirtschaftliche Lage insbesondere bei den Arbeits- und Erwerbslosen und den auf Sozialunterstützung Angewiesenen untersuchen. Der Sturm auf die Läden hatte mit Parteipolitik nichts zu tun.

7.) das vielgestaltige, vielfarbige gesellschaftliche Leben in der Stadt
Für ein "rotes Schöningen" könnte man schließlich gesellschaftliche Verhältnisse in dieser Stadt anführen.
Rose beklagt in seiner Stadtgeschichte, wie ich finde zu Unrecht, eine Zerrissenheit des damaligen Schöninger Vereinslebens in der Weimarer Zeit. Schöningen hatte z.B. 1927 sieben Gesangvereine, reine Männergesangvereine oder für "gemischte Stimmen". Sie unterschieden sich in der Literatur, die sie einübten. Im Gesangverein für gemischten Chor mit ca 90 Mitgliedern wurde z.B. große Werke von Haydn und Brahms geprobt, im um 1900 gegründeten "Liederkranz" mehr sozialistische Kampflieder, die bei Gewerkschafts- und Parteiveranstaltungen dargeboten wurden. Wichtiger war indes, dass sie über ein hervorragendes Männerquartett verfügten. "In Tönen klar/ in Worten wahr/ sei unsre Losung immerdar" hieß ihr Motto. Insgesamt waren in den sieben Gesangvereinen 630 Mitglieder vereinigt. Nicht alle werden gesungen haben. Dabei ist es selbstverständlich, dass sie sich nicht nur in musikalischen Geschmacksfragen, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Fragen unterschieden. Im ältesten 75 Jahre lang bestehenden Bürgergesangverein trafen sich wie zu Gründungszeiten eher die Honoratioren der Stadt. Ausgesprochen national und treudeutsch klang es im Männergesangverein "Eintracht", der im Juni 1926 sein 33. Stiftungsfest unter dem Motto: "Deutscher Sinn und deutsche Art/ treu im deutschen Lied bewahrt". Der eigentlich liberale Vincenzpfarrer griff tief in die patriotische Mottenkiste und zitierte heftig umjubelt immer wieder Ernst Moritz Arndts "Das ganze Deutschland soll es sein/ O Gott vom Himmel sieh darein/ und gib uns echten deutschen Mut/ dass wir es lieben treu und gut". Hier fanden sich also die eher rechts gesinnten Sänger zusammen. Den zweiten Preis beim Sängerwettstreit unter 17 meist auswärtigen Gesangvereinen erhielt die schon (1878) (1847) gegründete Schöninger "Liedertafel", die Mitglied des Arbeitersängerbundes war. (Sch.A. 7.6.1926). Sie traten also in fröhlichen musikalischen Wettstreit miteinander. Karl Rose leitete den Damenchor "Deutsches Lied". Es war also eine vielstimmige Vereinslandschaft, die teilweise schon in der Friedenszeit vor dem 1. Weltkrieg bestanden hatte. Das kann man als demokratische Vielgestaltigkeit loben und das wird nur der als "Zerrissenheit" empfinden, der die gleichgeschalteten, braunen Heimatklänge im Ohr hat. In jener Zeit war nämlich die Heimatchronik von Rose entstanden.

Ebenso vielgestaltig war auch das Angebot bei den Turnern. Diese demokratische Vielgestaltigkeit gab es bereits weit vor dem 1. Weltkrieg und war eher ein stabilisierender Faktor bei den politischen demokratischen Anfängen nach 1918.

Vielfalt in der Schulsituation
Vielfalt galt auch für die Schulsituation. Schöningen hatte Bürgerschulen, eine Realschule und Fortbildungsschulen. Seit 1926 kam auf Initiative des "Weltlichen Elternbundes der proletarischen Freidenker" eine sog. "Weltliche Schule" hinzu. Das war keine besondere Schule, sondern innerhalb der Bürgerschulen drei besondere Klassen. Sie hoben sich von den andern durch schulreformerische Bemühungen ab. An die Stelle einer Frontal- und Prügelpädagogik, die die Schüler auf Gehorsam drillen sollte, standen Spiel und Freude am Lernen und Mitgestalten im Vordergrund.. Schülerinnen und Schüler sollten Einfluss auf die Lerninhalte haben und es sollte vor allem sollte kein Religionsunterricht gegeben werden. 1926 wurden drei Klassen eingerichtete, eine 8. Jungen- und Mädchenklasse, und eine gemischte. 1926 waren es 99 Jugendliche, 1927:45 1928:56, 1929: 57 und 1930: 33 Kinder und Jugendliche, die von elf Lehrern unterrichtet wurden. Es gab also Interesse und belebte das Schulangebot. Dass es keinen Religionsunterricht geben sollte, hing mit dem Anwachsen der Freidenkerbewegung in den 20ger Jahren zusammen, 1933 waren es in Schöningen 800 Mitglieder.

Die Freidenkerbewegung organisierte für ihre Jugendlichen als Alternative zur Konfirmation Jugendweihen, die im Kurhaus abgehalten wurden.
Ein Beispiel aus dem Jahr 1928: am 25.März 1928 fand im Kurhaus die Jugendweihe von 52 Jungen und Mädchen aus Schöningen und den umliegenden Dörfern statt. Das Ave verum von Mozart, das Largo von Händel und der Gedichtvortrag "Prometheus" von Goethe bildeten den festlichen Rahmen. Der junge Lehrer Heinrich Rodenstein von der Weltlichen Schule hielt die Ansprache, erinnerte an die schwierige Kindheit im 1. Weltkrieg und wünschte den Jugendlichen Ausdauer bei der Ausbildung in der kapitalistischen Arbeitswelt. Er leitete seine Weiherede mit einer scharfen antikirchlichen Attacke ein: "Am nächsten Sonntag wird eine große Schar von Kindern nach der Kirche wandern, um dort aus der Schule entlassen zu werden. (Rodenstein will das Wort konfirmieren vermeiden). Hier aber haben sich die zusammengefunden, die sich frei gemacht haben von jenem Glauben vergangener Zeiten. Gerade heute sehen wir den Unterschied zwischen jenen und uns. In der dunklen und kalten Kirche, wo das Licht nur wenig durch die bemalten Scheiben bricht, herrscht der Geist des Todes. Hier aber strömt das Tageslicht voll durch die Fenster und mit brennendem Rot ist der Saal geschmückt. Das Reich des Lebens herrscht bei uns". (Tagespost 27.3.1928).
Rodenstein war 1926 nach Schöningen gekommen; nach 1945 wurde er in Braunschweig Begründer der Lehrergewerkschaft und Professor für Reformpädagogik. In Schöningen war er noch Kommunist.
Jugendweihe und Weltliche Schule entsprachen dem gestiegenen Bevölkerungsanteil derer, die keiner Kirche angehörten.. Beide Einrichtungen gehörten zum vielgestaltigen demokratischen Angebot Schöningens in der Weimarer Zeit. Das Problem lag in dem Alleinvertretungsanspruch sowohl der christlichen Kirche, die neben sich nichts anderes duldete und ebenso beim Alleinvertretungsanspruch der marxistischen Ideologie, die die Kirche, wie vorhin gehört, nicht gewähren lassen konnte. Die Abgrenzung von der Kirche gehörte zum guten Ton. Als Pfarrer Hintze 1920 beim Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung in Schwarz und Zylinder seinen Antrittsbesuch machen wollte, erklärte Bernhard Pfeiffer, er könne ihn nicht in die Stube lassen.

Zur demokratischen Vielgestaltigkeit Schöningens gehörten die beiden Zeitungen. Ich finde es enorm, dass sich in einem Städtchen mit ca 10.000 Einwohnern zwei unterschiedlich ausgerichtete Zeitungen gehalten haben, die rechtsliberale Schöninger Zeitung von August Kleemann mit dem Redakteur Ernst August Kröger und dem älteren linksliberalen Schöninger Anzeiger von Julius Kaminsky, redigiert von seinem Sohn Paul Kaminsky und vom begabten Redakteur Oskar Dieling. Dazu trat links von beiden angesiedelt ab 1925 die Helmstedter Tagespost.

Ich plädiere also für einen Farbenwechsel: von der Redeweise eines roten Schöningen zu der eines vielgestaltigen, vielfarbigen, demokratischen Schöningen während der Weimarer Zeit, in der die Farbe rot natürlich ihren prägenden Platz hat, aber zusammen neben einer Reihe von anderen Farben und Gestalten.
Also statt der Redeweise vom roten Schöningen ein Lob auf die demokratischen Anfänge dieser Stadt in der Weimarer Republik. Das war die Absicht meines Vortrages.




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