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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

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Die lebenslange Liebe zwischen Pfarrer Jochen Mund und Fritz Raddatz

Eine außerordentliche schwule Liebesgeschichte
nacherzählt von Dietrich Kuessner



Sie haben sich über die Schule im total zertrümmerten West-Berlin kennengelernt. Er gab Religion, war ca 15 Jahre älter als die in der Klasse, leitete mit 20 Jahren eine Jugendgruppe der Bekennenden Kirche in Berlin und wollte nach dem Krieg den Faschismus durch Marxismus überwinden helfen. Er hatte Theologie studiert und war nach dem ersten Examen 1944 Prädikant, beliebt bei Jungen und Mädchen. Ein gefragter Tanzpartner. Spitzname, nicht abfällig, eher liebevoll: der Pfaffe. Hans Joachim Mund, so hieß der Religionslehrer auf dem Gymnasium, war Hochkirchler, trug zum Gottesdienst farbige Ornate, er war anders, als was man sonst in den unierten Kirchen Berlins zu sehen bekam. Er überzeugte die Jugendlichen durch seine Frömmigkeit, und er lud sie zu literarischen Abende zu sich nach Hause. Einige hatten die HJ und das BDM hinter sich, beim Vikar Mund erlebten sie eine andere Welt, der über Dostojewski, Thomas Mann, Trotzki referierte und auch – das war neu und gewagt – über Sexualität.
Für den Schüler Fritz war zu Hause die Situation ziemlich übel. Der „Stiefvater“, weil nicht sein Erzeuger, ein hoffnungsloser Militarist, lag im Sterben, die Stiefmutter ging ihre eigene Wege, die Schwester auch. Nach dem Tod des „Stiefvaters“ musste ein Vormund gesucht werden. Fritz war für den Religionslehrer Mund. So kam Fritz Raddatz als Fünfzehnjähriger in das Pfarrhaus Mund, wo die Pfarrfrau für Ordnung und die Schulbrote sorgte und gerade eine Tochter geboren wurde. Der Vormund Jochen Mund hat indes nur geheiratet, um seine schwulen Neigungen zu verbergen, die er in Berliner Parks und Clubs bei Männern, Studenten und Jungens praktizierte.
Fritz schreibt, er sei ca 15 Jahre alt gewesen, es war das Nachkriegsjahr 1946, als er beim Vormund Jochen lernte, was Sex bedeutet: schiere Lust und Vergnügen. Das war „übrigens keine klebrige Sexgeschichte, sondern wirkliche Liebe“, erinnert sich Raddatz noch Jahrzehnte später. „Er war der erste Mann, den ich liebte. Die Liebe währte siebzehn Jahre.... Ich war im Beieinander und Füreinander wichtige Jahre meines Lebens neben ihm“ (Unruhestifter 51).
Zu dieser Liebe gehörte die Liebe zur Literatur, von der das Pfarrhaus voll war und die Fritz, der wissbegierige Schüler, verschlang: Thomas Mann, Balzac, Fontane, Goethe. „Es heißt ja, eine Fremdsprache lernt man am besten in der Liebe. Die Fremdsprache Deutsch lernte ich in der Liebe. Beim Pfaffen“ (Unruhestifter 63).
Beide gingen auch gemeinsam aus, zu Literaturabenden etwa mit Klaus Mann, und vielen anderen und Hermann Kasack. „Diesen hört ich, tief beeindruckt 1947 in irgendeinem literarischen Hinterzimmer aus seinem „DIE STADT HINTR DEM STROM vorlesen, dazu mich der Pfaffe Mund mitgeschleppt, seinen literaturinteressierten minderjährigen Lover, der auch im NAAFI-Club am Reichskanzlerplatz (heute Theodor Heuß-Platz) verkehrte. So könnte ich endlos weiter aufschreiben“ (Tagebücher I, 698).
Fritz lernte früh die literarischen Größen im damals zwar in Sektoren zerteilten aber doch noch vereinten Berlin kennen, und das brillante Theater in Berlin West und Ost, bei Brecht und Felsenstein an der komischen Oper, mit Gründgens und Fehling.

Ihre Liebe können sie ungestört vor allem außerhalb des Pfarrhauses leben, also sind sie viel unterwegs. Der junge Fritz Raddatz weiß von Mobiliar, das seine Familie nach Quedlinburg ausgelagert hatte und die er aufstöbern will.
„Ich war 1947, noch keine 16 Jahre alt, mit dem Pfaffen Mund (er ca 30) zwei rasend ineinander Verliebte, beide mager und hungernd, er eine Frau auf der Straße um 1 Apfel für mich anbettelnd, -herumgereist - seltsamerweise in einem Zug mit von mir aufmäulig+strahläugig bewundertem Speisewagen, in dem eine Passagierin den Pfaffen fragte, ob ich Künstler sei, der schmalen langen Hände und schwarzen schulterlangen Locken wegen: „noch nicht“, sagte er – hergereist also, um ausgelagertes Silber, Steppdecken, sog. Stilmöbel des Hauses Raddatz zu finden: die Geburtsstunde meiner Romantik-Verfallenheit. .. Damals lebte ich in der entstehenden DDR – noch immer „ein Körper“ mit dem ZK-SED Pfaffen Jochen Mund“ (Tagebücher II, 488).

Jochen Mund war Mitglied der SED und wurde zum Mitarbeiter der Kulturabteilung beim Zentralsekretariat, praktisch zum Beauftragten für Kirchenfragen, berufen. Er war offiziell Vorsitzender des Referates für Kirche, Christentum und Religion beim Zentralrat der SED. Das brachte einige Vorteile mit sich. Religionslehrer Mund ließ sich im Auto zum Reliunterricht chauffieren. Das machte zusätzlich Eindruck und weckte Neugierde bei den Schülerinnen und Schülern.
Die neue Aufgabe erforderte eine neue Adresse, in Berlin Ost Grünau. Hier wurde Vikar Mund zum
Sonderbeauftragten des Zentralsekretariats für sämtliche Gefängnisse in der DDR ernannt, ein Horrorposten mit dem herausragenden Titel eines Oberst der Volkspolizei mit Sonderausweis und Sonderrechten, die nur den führenden Posten vorbehalten war, und zwar durch Zufall. Wieder waren die beiden Verliebten unterwegs, um Geranien für die neue Wohnung in Grünau zu kaufen.
„Niemand kann - ich allein den geradezu anekdotisch anmutenden Zusammenhang erzählen und erläutern, wie es wirklich zu dieser ganzen Anstaltsseelsorge kam: nämlich dass wir beiden schwulen lover, ich noch mit Westberliner Ausweispapieren und er mit ZK-Ausweis und ZK-Auto in eine SED Gärtnerei am Rande Berlins fuhren, um Geranien für den Wintergarten des neu zu beziehenden Hauses in Ostberlin (also 1949 mitten im Umzug dorthin) zu kaufen; es gab ja keine Blumen im Osten. Aber ein überbeflissener Volkspolizist kontrollierte doch die Papiere, stutzte über meinen Westausweis in einem ZK-Auto, vor Aufregung fiel Jochen Westgeld aus dem ZK-Ausweis – und schon waren wir verhaftet. Der kleine Polizist dachte, er habe DEN Agentenfang seines Lebens gemacht und erst nach endlosen Telefonaten mit Berlin durften wir mit einem Volkspolizeioffizier im Wagen, zurück – und zwar direkt ins ZK, wo wir von einem Obermotz im Allerheiligsten „verhört“ wurden, der aus allen Wolken fiel. „Wir haben einen GENOSSEN PFARRER“ IM ZK? Das wusste ich ja gar nicht und das ist ja unerhört, ich habe nämlich gerade hochkomplizierte Verhandlungen mit Bischof Dibelius wegen...“ und damit begann die ganze Geschichte (Tagebücher I, 445-446).
Aus allernächster Nähe bekommt nun Fritz Raddatz den gefährlichen, seelisch schwer belastenden Auftrag der Gefängnisseelsorge in den 7 Gefängnissen der DDR mit, zu dem der Vikar Mund im Einverständnis von Staat und Kirche beauftragt worden war. Munds besuchte nun regelmäßig, so die Personalakte, die Gefängnisse in Bautzen, Waldheim, Hoheneck, Torgau, Brandenburg, Untermaßfeld und Luckau.
„Die Praxis, die er an diesen Orten des Grauens erlebte, die Heerschar Gedemütigter, Hungernder, Kranker, Sterbender, ohne Recht und ohne Gerichtsbarkeit Geknebelter – sollte das der „befreite Mensch“ sein, den Marx halluziniert hatte.. Mein „Pfaffe“ ging viele Jahre hindurch durch eine irdische Hölle. Er riskierte mit Kassibern und Medikamentenschmuggel nicht nur täglich seine Freiheit und sein Leben, er konnte - ob beim Verwandtenbesuch im Kino oder während der Predigt – nicht eine Minute des Tages unüberwacht verbringen... Dass er nächtelang schrie, abwesend durchs Haus torkelte, dass nur die unglaublich opferbereite Kameradschaft seiner tiefreligiösen, gar nicht frömmelnden Frau ihm Woche für Woche buchstäblich das Leben neu schenkte - das weiß ich; ich war dabei....
Das ging über Menschenmaß. Die so diskrete wie wirkungsvolle Hilfe kirchlicher Institutionen (bis zu den Quäkern) - von der einzuschmuggelnden Orange über das Penizillin bis zum Brief nach Hamburg oder Duisburg – konnte dem nicht helfen, der diesen Dienst ja ganz allein auf sich gestellt verrichten musste, der Woche für Woche einsam durch die Gespenstertore eintrat in die Finsternis.....derweil unsereiner in die neuste Brecht Premiere oder zu Felsensteins Wunder-Mixturen bummelte oder in den diversen Kulturclubs (in die nur Auserwählte Einlass fanden) Krimsekt trank.“
(Unruhestifter 57).

Es war das anhaltende schwule Liebesverhältnis, das diesen furchtbaren Dienst von Pfarrer Mund erträglich machte. „Oft und immer öfter habe ich an den Fesseln dieser Bindung gezerrt, aus der er mich nicht entlassen wollte, die er stets aufs neue schnürte mit dem Bannspruch, ohne mich an seiner Seite könne er die Bürde seiner Seelsorge in den Haftanstalten nicht tragen. In einem letzten Telefonat hat er gesagt: „Du musst wissen, das du für mich immer der wichtigste Mensch in meinem Leben warst. Danke für deine Freundschaft“ (Unruhestifter 59).

Sex, Literatur und Solidarität trugen das schwule Verhältnis dieser Beiden, 17 Jahre lang.
Aus Solidarität drang der junge Fritz Raddatz, mit 21 Jahren Germanistikstudent an der Humboldtuniversität, zu Propst Grüber vor und bat ihn eindringlich darum, dass wenigstens kirchlicherseits seinem Freund, Vormund und lover keine Knüppel zwischen die beschwerliche Arbeit geworfen würden. Ihm wurde das zweite theologische Examen verweigert und es gab Proteste aus anderen Kirchenleitungen. Student Raddatz hatte Erfolg.

Aber 1956 zog die SED den Dienstausweis Munds ein, seine Tätigkeit wurde auf die Berliner Gefängnisse eingeschränkt. Immer wieder erkrankte Mund an Tuberkulose. In diesem Jahr wurde Mund durch Generalsuperintendent Fritz Führ zum Pfarrer ordiniert, nachdem er bei Bischof Dibelius ein Kolloquium absolviert, das offenbar als 2. theologisches Examen gewertet wird.

Noch im Rückblick, inzwischen 80 Jahre alt, schreibt Raddatz in seinen Erinnerungen:
„Ich bin kein Christ, und mein Herz ist nicht „rein“. Aber wenn ich je begriffen habe, welche Kraft, Hingabe, Opferbereitschaft jenseits so mancher mieser Kathedersalbaderei christlicher Glaube in einen Menschen pflanzen kann, dann durch das Leben und die Arbeit des Genossen Pastor Hans Joachim Mund. Ich kann es bezeugen; ich war sein Gefährte“ (Unruhestifter 58). Was für ein erstaunliches Zeugnis über die Möglichkeit eines christlichen Glaubens, beobachtet aus einem schwulen Liebesverhältnis.

Dazwischen immer wieder gemeinsame Reisen und Abenteuer. Einmal sind sie gemeinsam im Schloss Börnicke/Bernau. „ Das ist genau jenes Bonzen-Residuum, das Anfang der 50er Jahre dem mittelhohen SED- und ZK- Funktionären zur Verfügung stand und in das ich gelegentlich, kurze Lederhose und kariertes Hemd, fuhr, weil Jochen Mund dort 2 oder 3 oder auch mal paar mehr Tage „zur Erholung“ war, recte ein Liebensnest. Ich lief unter dem Titel „Pflegesohn“, war ja noch blutjung. Niemand nahm Anstoß daran, dass wir gemeinsam in einem Zimmer schliefen und eilends nach meiner Ankunft auf eine Art Schlossturm kletterten, während wir dort hoch oben den ersten Sex hatten, weil wir bis zur Nacht nicht warten wollten und konnten.... Ich hatte nichts als möglichst viel Sex im Kopf und ein für damalige Verhältnisse üppiges Abendessen mit Wurstsorten, die es nicht gab und Tomaten, die es auch nicht gab. In meiner Erinnerung sehe ich auch keine stilvoll eingerichtete Bibliothek. Es interessierte mich ja auch nicht - nur das Doppelbett und der schöne Park, der auch „dafür“ benutzbar war. Absonderlich zu lesen, welche Schätze dieses Haus mal beherbergte...“
(Tagebücher II, 232 27. Februar 2005).

Ein andres Mal liegen sie als Gäste eines Ostsee- Hotels, nackt am Stand, das „erschien eine Volkspolizei- Streife, die armen Burschen in ihren Uniformen schwitzend und wollten den verbotenen Frevel ahnden. Da kramte Genosse Pastor jenen kleinen blauen Sekretariatsausweis aus dem Strandkorb – die Knobelbecher salutierten: „Verzeihung Genosse“ (Unruhestifter 54).

Aber es ist bis heute schwer, die Rolle von Pastor Mund verständlich zu machen. Eines Tages, es ist das Jahr 1992, meldete sich ein Fernsehteam an zu einem Gespräch über einen TV-Film über die Haftanstalten der Ex-DDR und die kirchliche Betreuung. Die junge Redakteurin scheint verwirrt und Raddatz versucht – mit Erfolg? – ihr klar zu machen, dass eine schwarz-weiß Zeichnung der Wirklichkeit der Person Mund nicht gerecht wird.
„Schwer, die vielfach zwielichtige und dann doch wieder integre Figur des Pfaffen zu verdeutlichen:_ ZK und Pfarrer, Oberst der Volkspolizei und Vertrauter der Kirchenleitung, SED Mitglied und Nicht-mehr-Marxist...Interessant ist doch gerade, dass jemand SO war, alles, alles in einem, sein fünfzehnjähriges Mündel – also mich – verführte, und noch dazu nachts, durch die Schwulenparks streunte und sich 20 Minuten pick ups holte oder auch mal längere Affärchen hatte in irgendwelchen Studentenwohnungen – UND diesen ungeheuren Dienst verrichtete UND wirklich religiös war UND sich tatsächlich bis zur TB Erkrankung aufgeopfert hat. SO ist das Leben.“ Raddatz hält dieses Treffen in seinem Tagebuch am 8. August 1992 fest. (I, 447).
Diese widersprüchliche Struktur der Person vom Pfarrer und Liebhaber Mund bleibt für jene unverständlich, die die Gradlinigkeit für das einzig Lebendige halten und eine scheinbar unvereinbare Gegensätzlichkeit ausschließen.

Es gehört zur Eigenart dieser ungewöhnlichen, schwulen Liebesgeschichte, dass sie nicht nach fünf/ sechs Jahren auslief, sondern bestehen bleibt. trotz völlig veränderter Umstände. Fritz Raddatz ist längst nicht mehr der abhängige Mündel, hat eine eigene Wohnung und ist mit 22 Jahren stellvertretender Cheflektor des DDR Verlages „Volk und Welt“ und offenbar erfolgreich beim Aufspüren westlicher Autoren. Aber diese Aufgabe macht ihn verdächtig.
Ende der 50er Jahre hatten Beide, Raddatz zuerst, dann Familie Mund, zu unterschiedlichen Zeiten fluchtartig die Ostzone/DDR verlassen müssen. Raddatz wird seit den 60er Jahren hoch renommierter links-liberaler Journalist bei roro als Cheflektor, dann leitet er neun Jahre lang das Feuilleton der ZEIT in Hamburg, später freiberuflich, mit Haus auf Sylt und Wohnung an der Alster in Hamburg, Er hatte manche Affären hinter sich, auch kürzere feste Bekanntschaften, die jedoch frühzeitig mit dem Tod des Partners enden. „Zwei der Menschen, die ich liebte, durften nicht älter werden als Anfang dreißig. – mit jedem von beiden hatte ich gedacht, gehofft, zusammen alt zu werden. Bringt es Unglück, in meiner Nähe zu leben?“ ( 28.10.1986).
Seit langem lebte Raddatz in einer festen Partnerschaft und später eingetragener Lebenspartnerschaft mit Gerd Bruns. Aber die Lebenspartnerschaft kann die Erinnerung an das Verhältnis mit Mund nicht auslöschen. Sein Leben lang reflektiert er über sein Verhältnis zu seiner ersten leidenschaftlichen Liebe und widmet ihr ein schonungsloses Kapitel in seinen Memoiren „Unruhestifter“, erschienen 2003.
Auch Mund fasste mit seiner Familie im Westen Fuß, wurde Pfarrer in der bayrischen Landeskirche, erster Vorsitzender der Hochkirchlichen Vereinigung, Vizepräsident des International Ecumenical Fellowship. Die Familie nahm sogar einen neuen Pflegesohn auf, der sich allerdings den schwulen Avancen des Pflegevaters strikt entzog.

Beide, Raddatz und Mund treffen sich mal immer wieder und pflegen Beziehungen kürzester wie längerer Art. Das sexuelle Begehren auf Männer blieb bis ins Alter erhalten. Man erfährt viel über das schwule Leben in Hamburg der 60er und 70er Jahre, über das Hubert Fichte seinen Anfangsroman „Die Palette“ geschrieben hatte. Mit Fichte ist Raddatz unterwegs auf der Reeperbahn, besucht dort, wie er schreibt, einen „Knabenpuff“, trifft dort jedoch auch auf Studenten, „die sich gelegentlich dort ein Zubrot verdienten“, einer von ihnen liest sogar einen Essayband von Raddatz aus der Reihe „edition suhrkamp“. „Der Ort wurde fürderhin gemieden..“ (Unruhestifter 215).
In einer Bar in Amsterdam trifft er auf einen „interessant-knäbischen“ Mann, geht mit ihm auf dessen Zimmer, das vollgestopft war mit Orchideen, Konfekt, Obstschalen und teurem Champagner.“ Es war eine Nacht „ohne Zärtlichkeit, Sex pur, aber voller Grazie.“ Erst am Morgen, als der Partner ihm eine Ballettkarte schenkte, entpuppte dieser sich als Alexander Nurejew (Tagebücher I, 480).

Fritz Raddatz pflegt auch Freundschaften zu Frauen, aber das sexuelle Begehren gilt den Männern.
Im Studium hatte er Ruth Pisarek kennengelernt, eine Jüdin, die in Berlin die Nazizeit überlebt hatte. Mit dieser Studentenliebe unternimmt er Fahrten ins Ausland und hält über deren Hochzeit hinaus Verbindung.
Ruth besucht ihn auch noch, als Raddatz schon über 70 ist, und sie lassen die alten Zeiten hochkommen. Sie will ihm“ in seinem Haus in Kampen an einem Maitag 2003 sein Verhältnis zum „Pfaffen“ ausreden. „Immer klopft und martert dieses Mahlwerk, nicht zuletzt durch die Briefe und Telephonate mit Ruth verstärkt: War z.B. der Pfaffe nur ein raffinierter Lügner (und seine Frau eine schweigende Kupplerin), der sich ins Bett holte, wovon jeder Homosexuelle träumt: den 14jährigen, unschuldigen Knaben. Der ihn auch noch liebte (auch wenn er noch gar nicht wusste, was Liebe ist), weil er Zuflucht suchte? Oder war es doch gegenseitige Liebe, jedenfalls ein großer starker Magnetismus – war ich nicht auch glücklich? Und habe ich ihm nicht viel zu verdanken? Ruth, neuerdings sehr laut und stark und sogar etwas grob, meint: das alles hättest Du auch ohne ihn geschafft, lesen gelernt, Bildung gelernt, du wärest alles ohne den geworden, der dich als Opfer, wie ein unschuldiges Lamm geschnappt hat“ (Tagebuch II, 102).

Drei Wochen später sind beide, Fritz und Ruth, in Berlin im Steigenberger Hotel.
„Schmerzhaft- bohrend-peinigend dann heute ein voller Tag: Besuch von Ruth (die immer noch schön ist).. die dann in Strenge, gelegentlich mit Haß und Wut, unsere Geschichte aufblätterte. Die ja auch verzwackt genug ist, d.h. meine, nun, nennen wir es „Verbundenheit“ mit dem Pfaffen.
Für sie ist er ein Verbrecher und Schänder. Noch jetzt zittert sie vor Empörung über ihn, der „nicht gedurft hätte“ und nicht hätte sollen und der nicht zu verstehen sei.
Gut. Daran ist etwas Wahres. Auch ich frage mich heute, was eigentlich in der Seele dieses Pastors, der ja seinen Glauben ernst nahm, sich abspielte, als er ein minderjähriges Kind verführte...der bereits als junger Mann lange vor seiner Ehe ein ausgeprägt homosexuelles Leben führte, der einen seiner Lover als Taufpaten seiner Tochter (die er nie geliebt) berief, der nach mir ständig wechselnde, typisch schwule One–Hour- Stands hatte.. Alles ein verwirrender Sündenfall..
Nur: HÄTTE ich sie geliebt? Ich meine: sie zu meiner Frau gemacht? Doch eher nicht – ich liebte ja tatsächlich diesen Mann, war ja auch glücklich mit ihm, jedenfalls die Jahre, die es währte. Und selbst, als es nicht mehr währte, ließ ich mich auf Spielchen ein, mal zu dritt, immer mal wieder mit ihm, kam aus dem seltsamen Spinnennetz nicht heraus, das er über mich geworfen hatte, in dem er mich gefangen hielt – oder in dem ich mich eingerichtet hatte“ (Tagebücher II 104).

Raddatz ist inzwischen 81 Jahre alt und nach Berlin ins Brechttheater am Schiffbauerdamm zu einer Lesung eingeladen. Er isst mit seiner Jugendfreundin Ruth am Abend vorher im Hotel und quält sich wieder mit der Frage, ob er sie nicht hätte heiraten sollen. Aber alle Überlegungen münden in die Erfüllung schwuler Liebe mit Pastor Mund: „Mein Begehren war doch ganz auf den Pfaffen Mund ausgerichtet und fixiert – oder hat er mich „verzaubert“, „missbraucht“. wie es nun heute heißt, auf eine nicht rational zu erklärende Weise an sich gebunden, nachdem er den 14-15jährigen verführt hatte, sodass meine ganze Sexualität nur diese eine Richtung kannte und hatte, dort ja auch Erfüllung, Lust fand. WAR ich (von Anfang , von jung an) schwul? Oder WURDE ich es durch diese Verführung, so, dass mein Schwanz sich eben NICHT gen Ruth erhob?“ (Tagebücher II, 563).

Immer wieder reproduziert Raddatz geradezu sein junges Verhältnis zu Pfarrer Mund, erinnert sich und schreibt es auf. Zu einer Art Erfüllung und Bestätigung dieser schwulen Liebe kommt es in den Sterbestunden des Pastors.

„17. Oktober 1986
Es waren schreckliche, schöne, herzzerreißende 2 Tage. Jochen weiß, das er stirbt, die großartige Gitta (die Frau des Pastors) hats ihm – gegen den Rat der ewig lügenden Ärzte – gesagt.
Da lag der wohl doch wichtigste Mensch meines Lebens, ein flüsternder Greis, der sich selber kaum noch bewegen kann. Eine Situation, so verquer, wie auch der Romancier FJR sie sich nicht ausdenken kann. Eben noch sagt er zu mir: „Ich habe nie jemanden so geliebt wie dich“, da kommt Gitta herein und er WARTET auch geradezu ungeduldig, darauf. Sie wiederum besitzt ihn jetzt, sie bestimmt wer ihn sehen darf. Fast möchte man sagen: Zum ersten Mal im Leben hat sie ihn ganz. Zugleich ist es aber tief bewegend, wie die beiden Alten da zusammenwachsen, zusammengewachsen sind, sich ohne viele Worte verstehen. WIR waren die jähe Flamme – die beiden sind die dauernde Glut.
Schrecklich, sich so zu verabschieden – das hat man ja auch nicht gelernt.
Als Jochen, der kaum noch reden kann, munkelte: „Guten Rückflug“, sagte ich: „Auch für dich“.
Und er schaffte es zu lächeln, ich hätte ihm diese Größe, diese Würde, diese Gelassenheit fast nicht zu getraut. Religiösität (die ich ja bei ihn – ungerechterweise ? auch oft in Frage gestellt hatte) ist so, praktiziert, dann doch eine große Sache. Ich wünsche nur, dass es nun schnell geht, er nicht mehr durch die letzte Etappe der grausigen Schmerzen hindurch muss. Er hatte sogar noch die Kraft, nach Gerd zu fragen und zu meinem Satz: Ich hoffe, es geht weiter gut und wir bleiben zusammen“, zu sagen: „Ich bete täglich für euch beide.“ Ob das gar kitschig klingt, wenn ich’s hier aufschreibe, weiß ich nicht- es war tief berührend“ (Tagebücher I, 152,153).

30. Oktober.
Jochen ist tot....Ein Mäander von Zufällen – aber vielleicht gibt es gar keine Zufälle – dass Gitta ihm tatsächlich meine Rose, mit der ich zum Schluss sein Gesicht streichelte, in die Hand gab; oder das Definitive: dass er eine knappe halbe Stunde nachdem ich das Zimmer verlassen hatte, endgültig „abbaute“, wie Gitta sagte, sich minütlich vollkommen veränderte, weg war – abgeschlossnen. Unser Abschied war sein Ende.
Es war eine große Beziehung, etwas ganz ganz Seltenes im Leben und FÜR ein Leben.“ (Tagebücher I, 154).

„München den 4. November
Jochen Beerdigung. Ein Riss durch meine Existenz: In diesem Sarg also lag/liegt der Rest jenes Menschen, neben, in, bei dem ich als junger Mensch so oft glücklich lag.“ (Tagebücher I , 155)

Nach dem Tod von Mund findet Raddatz seinen Freund Gerd Bruns und schließt mit ihm eine Lebenspartnerschaft. Sie wohnen beide auf Sylt. Aber in dem Erinnerungsband „Der Unruhestifter“, erschienen 2003, mehr noch in seinen Tagebüchern, dessen erster Band 2010 erscheint und der zweite Band 2014, beschäftigt sich Raddatz durchgehend mit seinem Liebesverhältnis zu Pfarrer Jochen Mund. Weder die ständig aufgefrischte, höchst gegenwärtige Beziehung zu seinem ersten und längsten lover noch seine Freundschaft zu Gerd Bruns können ihn am Leben halten. Raddatz lässt sich am 26. Februar 2015 in der Schweiz das Leben nehmen. „Selbstbestimmt“ heißt es in den Nachrufen. „Ein gequälter und sich zerquälender Mann, eine tragisch zerrissene Persönlichkeit“, schreibt der Hamburger Journalist in einer Kirchenzeitung (EZ 8. März 2015).
Den Eindruck kann man haben, wenn man um das Schwulsein von Pfarrer Mund und sein ziemlich einzigartiges Liebesverhältnis zu Fritz Raddatz einen Bogen macht. Beide bewahrten ihr gemeinsames Leben in Berlin als einen Schatz, dessen sie sich nicht schämten, sondern bis zu ihrem Tod bewahrten.
Aber die zahlreichen Nachrufe im Feuilleton der repräsentativen Zeitungen in Hamburg, Frankfurt, München und Berlin übergehen diese prägende Seite im Leben von Fritz Raddatz.

Wie ging die Kirche mit dem Lebenslauf dieses Amtsbruders um? Was weiß sie? Was deckt sie? Was verschweigt sie? Die Personalakte enthielt offenbar keine schriftlichen Bemerkungen oder Anschuldigungen von Dritten zum schwulen Lebenslauf Munds, der auch in der bayrischen Landeskirche seiner schwulen sexuellen Orientierung folgte und lebte.
Die ehemaligen Gefangenen aus den DDR Gefängnissen, die Mund begegnet waren, loben seine Haltung und Solidarität und fordern, es müsste seine hingebungsvolle Arbeit gewürdigt werden.

Frau Siedeck-Strunk schreibt an einer Doktorarbeit über die kirchliche Arbeit in den DDR-Gefängnissen. Darin rückt sie manche Beobachtung von Raddatz zurecht, z.B. die Schilderung der Geranienfahrt und wie es zu dem Gefängnisseelsorgeauftrag kam. „Mund wird im Jahr 1950, auch hier wohl auf Betreiben und Rat von Artur Rackwitz und weniger auf Grund der von Raddatz beschriebenen Geranienfahrt, in die Gefängnisseelsorge abgeschoben. Es handelt sich hierbei keinesfalls um eine Sprosse auf der Karriereleiter, wie Raddatz dies verkauft.“
Auch die Auswirkung des Besuches des jungen Raddatz bei Propst Grüber sieht sie wesentlich zurückhaltender.
Es kann durchaus sein, dass sich der 75jährige Raddatz bei seinen Erinnerungen faktenmäßig geirrt hat, bemerkenswert bleibt es, dass derlei Irrtümer ihm ein engeres Verhältnis zu Pfarrer Mund suggerieren und er sich wohlfühlt in dieser außerordentlichen schwulen Liebesgeschichte.




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