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Karfreitag, und was dann?

Der Trauerweg der Jünger zwischen Glaube und Zweifel

Eckhard Etzold

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Zu der wichtigsten Aufgabe einer jeden Pfarrerin, eines jeden Pfarrers gehört die Beantwortung der Frage, wie hältst du's mit der Auferstehung Jesu? Ob zu Ostern, im Unterricht, bei Trauerbegleitung oder am Grabe: in allen diesen Situationen muss sich erweisen, ob die Rede von der Auferstehung Jesu nur dogmatische Leerformel ist oder mit der Lebenssituation der Zuhörerinnen und Zuhörer vermittelt ist und diese auch betrifft. Wer im Verkündigungsdienst steht, sollte sich selbst und anderen darüber Rechenschaft ablegen können, wie es zur Entstehung des Osterglaubens kam, was er aussagt und wo er zu Missverständnissen führen kann. Ist die Auferstehung Jesu die Krönung seines Wunderwirkens oder ist sie lediglich die krankhafte Einbildung seiner Jünger gewesen, die den vorzeitigen Tod ihres Herrn und Meisters nicht verwinden konnten?

In dieser Bibelarbeit(1) soll es zunächst darum gehen, die wenigen gesicherten Erkenntnisse der historisch-kritischen Forschung zur Entstehung des Osterglaubens und Erklärung des Ostergrabens zusammen zu tragen. Und in einem zweiten Schritt soll dann überlegt werden, inwieweit diese Erkenntnisse Bedeutung für die menschliche Lebenssituation in dieser Welt haben.

  1. Die Fragestellung
  2. Die seelische Verfassung der Jünger
  3. Der Prozess der Trauer
  4. Die Trauer der Jünger
  5. Das Umkippen des Trauerschmerzes
  6. Das Ende des Trauerschmerzes und die Freude über den wiedergewonnenen Jesus
  7. Die Ursachen für den besonderen Trauerweg der Jünger
  8. Der Trauerweg der Jünger als Beispiel für die christliche Existenz

I. Die Fragestellung

Wenn man den historischen Kern der Auferstehung Jesu ergründen möchte(2), hat es keinen Sinn, danach zu fragen, was mit Jesus nach seinem Tode passiert ist und in welcher Daseinsform womöglich der Auferstandene existiert. Die Auferweckung Jesu wird im Neuen Testament als eine Tat Gottes (1. Kor. 15,15; Apg. 2,32; 4,10; 5,30) aufgefasst, und sie ist deshalb genauso wenig beweisfähig wie die Annahme, dass ein Gott die Welt erschuf: "Dieses Handeln ist menschlichen Möglichkeiten und damit auch der Historie der Historiker radikal entzogen; es kommt ausschließlich Gott zu"(3). Sie ist also kein Erfahrungsgegenstand, sondern eine reine Glaubenssache. Auch das zum Erweis der Auferstehung oft zitierte "leere Grab" besagt rein faktisch nichts. Denn ein "leeres Grab" kann viele Ursachen haben, von der Verschleppung des Leichnams bis hin zu der Annahme, dass er von herumstromernden Hunden gefressen wurde.

Damit ist der Rahmen des überhaupt historisch Feststellbaren zur Auferstehung Jesu sehr eingeschränkt. Aber damit nicht genug: Wir sollten uns die Auferstehung Jesu selbst auch nicht in Analogie zur Reanimation eines klinisch Toten vorstellen, wie sie einzelne Texte aus der Evangelientradition (z. B. Lk. 24,1-6; Joh. 20,1-16, Apg. 2,31) nahe legen möchten. Im 1. Kor. 15,42ff.50 schreibt Paulus ausdrücklich: "Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich.... Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib... auch wird das Verwesliche nicht erben die Unverweslichkeit..." Paulus wehrt sich hier gegen ein Auferstehungsverständnis, das die neue Verlebendigung eines Leichnams aussagen will. Für ihn sind das Leben auf dieser Welt und die geglaubte Auferstehungswirklichkeit zwei völlig voneinander getrennte Wirklichkeiten, die nicht miteinander vermittelbar sind.

Wenn sich die Auferstehung Jesu nun aber dem menschlichen Verstehen und der menschlichen Wahrnehmung derart entzieht, stellt sich jedoch die Frage, wie sie in den Horizont menschlichen Glaubens vermittelt worden ist. Denn sonst wüssten wir nichts von der Auferstehung Jesu und dem Osterglauben. Treffend beschreibt Ingo Broer die Denkaufgabe:

"Um Missverständnissen vorzubeugen, sei von vorneherein betont, daß darunter nicht zu verstehen ist, daß der Glaube an die Auferstehung Jesu rational abgeleitet werden kann. Es geht vielmehr darum, die Genese des Auferstehungsglaubens unter den heute gültigen Denkvoraussetzungen zu betrachten. Wenn Jesus Christus die Offenbarung Gottes für alle Zeiten ist, dann muß auch unter den heute gültigen Denkvoraussetzungen ein Zugang zu ihm und zu ihr möglich sein."(4)

Über Jesus selbst und das, was mit ihm nach seinem Tod geschah, lässt sich also historisch nichts sicheres feststellen. Das letzte historische Faktum über Jesus, das wir haben ist sein Tod am Karfreitag (Mk. 15,37) und seine Grablegung (Mk. 15,46). Von dem, was sich daraufhin in den folgenden Tagen ereignete, ist das einzige, was wirklich greifbar ist, die Erfahrung der Jünger(5), die Jesus in seiner letzten Lebensphase begleitet haben. Diese Jünger waren es, die zur Gewissheit der Auferstehung Jesu durchgedrungen waren und den Osterglauben in der Welt verbreiteten. Was ist ihnen widerfahren in den Tagen nach dem Tode Jesu?(6) Kurz gefasst können wir zunächst feststellen: Jesus ist von ihnen gesehen worden (1. Kor. 15,5). Wie kam es zu dieser Wahrnehmung? Und was war der Inhalt dieses Sehens? Um darauf eine Antwort zu geben, müssen wir uns genauer die Situation der Jünger ansehen.

II. Die seelische Verfassung der Jünger

Die Jünger standen unter Schock. Die Verurteilung und der Tod Jesu hatte Entsetzen (Mk. 14,50; Lk. 24,37f.), Trauer (Lk. 24,17; Joh. 16,20) und Furcht (Mk. 14,68-72par; Joh. 20,19) in ihnen ausgelöst. Ängstlich hielten sie sich vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt. Sie erlebten das, was jeder Trauernde erlebt, der den Verlust eines ihm wichtigen Menschen zu beklagen hat. Ihre Stimmung war depressiv, und mit dem Tode Jesu wurde ihnen nicht nur ein wichtiger Mensch genommen, sondern ihr eigener Glaube geriet dadurch ebenfalls in eine schwere Krise (Lk. 22,31, Joh. 16,20-23). Spiegel bemerkt sehr allgemein, ohne diese Spur weiter zu verfolgen: "Was die Jünger als die Vorbilder der Glaubenden in Fortgang und Rückkehr Jesu erfahren, steht in enger Verbindung zu dem, was ein Trauernder erfährt."(7) Mehr noch, es besteht kein Zweifel daran, dass die Jünger sich in Trauer befanden:

"In der neutestamentlichen Wissenschaft gehört es zu den wenigen gesicherten Einsichten, daß der Ursprung der nt-lichen Traditionsbildung in der Verarbeitung des Todesgeschickes Jesu zu suchen ist und so die christliche Identität hier ihren Sitz im Leben hat. Die urchristliche Traditionsbildung ist somit das Dokument einer Trauerarbeit"(8).

Damit haben wir allerdings eine Feststellung getroffen, die für die zukünftige Entwicklung des Geschehens sehr enge Vorgaben macht. Normalerweise ist der Trauerprozess unumkehrbar. Er kann nicht den Toten wieder lebendig machen und den früheren Zustand wieder herstellen, - so sehr sich das der Trauernde auch erhoffen mag und die Auferstehung dieses zu bestätigen scheint -, sondern führt, wenn die Trauerarbeit gelingt, zum schrittweisen Abschied von dem Verstorbenen, der Anerkennung seines Todes, seines Nicht-mehr-Seins und zur erneuten Hinwendung zum Leben. Unter normalen Bedingungen wohnt der Trauer also eine gewisse Zwangsläufigkeit inne, die das, was im Fortgang dieses Prozesses zu erwarten ist, sehr eingrenzt. Und diese Zwangsläufigkeit sehen wir uns jetzt genauer an.

III. Der Prozess der Trauer

Bis ins 20. Jahrhundert hinein wusste man relativ wenig über die psychische Verfassung trauernder Menschen. Und das, obwohl fast jeder Mensch in seinem Leben irgendwann um einen anderen trauert - um den Verlust der Eltern, um den verlorenen Lebensgefährten, um den Weggang eines Freundes. Das Wissen um die Trauer veränderte sich jedoch, seitdem man in den sechziger Jahren begonnen hatte, ihrer Erforschung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Heute weiss man, dass sich der Trauerprozess in verschiedenen Phasen vollzieht.

Yorick Spiegel unterscheidet vier Phasen des Trauerprozesses, die mehr oder weniger fließend aufeinander folgen und in unterschiedlichen Ausprägungen bei vielen Trauernden zu finden sind: Zunächst ist da der Schock, verbunden mit Tränenausbrüchen oder innerer Erstarrung. Nach wenigen Stunden in der Regel ist dieses Stadium durchschritten und es folgt die "kontrollierte Phase". Mag der Name dieser Phase vielleicht suggerieren, der Trauernde habe sich wieder in der Gewalt - das Gegenteil ist der Fall. Die Welt erscheint ihm unwirklich und fremd. Das verunsichert sein Wirklichkeitsempfinden, und er versucht sich zusammenzureißen, um jeden Eindruck des Kontrollverlustes zu vermeiden. Diese kontrollierte Phase wird abgelöst durch die "regressive Phase", in der für den Trauernden die Welt vollends zusammenbricht. Er träumt von dem Verstorbenen, er hofft in kindlicher Weise auf ein Wunder: auf die Wiederkehr des Toten. Und er sieht ihn zum Beispiel plötzlich zur Tür hereinkommen. Nur unter großen Mühen kann der Trauernde nach außen hin den Schein von Normalität wahren. Allmählich vollzieht sich der Übergang zur "adaptiven Phase", in der sich der Trauernde wieder neu der Welt zuwendet.

Besonders kritisch sieht es in der zweiten und der dritten Phase aus, wo der Trauernde Erfahrungen macht, die ihn irritieren können. Nach dem Tod seiner Frau erzählt ein Geschäftsmann von einem Erlebnis, das ihn innerlich sehr aufwühlte:

"Ich konnte nicht einschlafen, nachdem meine Frau gestorben war. Ich war oben im Haus (...) und hatte das Fernsehen zum ersten Mal an, nachdem sie gestorben war; und plötzlich sah ich meine Frau, als sei nichts geschehen, in einem dieser Sessel sitzen. Ich floh die Treppe herunter und bin nie mehr in dies Zimmer gegangen. Es war sehr erschreckend."(9)

Dieses Erlebnis ist gar nicht so ungewöhnlich für Trauernde. In einer Untersuchung über den Trauerprozess bei verwitweten Frauen wusste fast die Hälfte von ihnen davon zu berichten, wie sie plötzlich dem Verstorbenen wieder begegneten oder wie sie in Personen auf der Straße ihren verstorbenen Gatten wieder erkannt hatten. Tagträume, Halluzinationen und Verwechslungen sind hier nur schwer auseinander zu halten. Man meint, die Schritte des Verstorbenen auf der Treppe zu hören und glaubt, die Tür gehe auf: "Ich sah Kay, wie er innerhalb der Haustür stand. Er sah aus, wie er immer aussah, wenn er von der Arbeit zurückkam. Er lächelte und ich rannte in seine ausgestreckten Arme, wie ich es sonst immer tat, und lehnte mich gegen seine Brust. Ich öffnete die Augen, und das Bild war verschwunden."(10)

Spiegel erklärt dazu: "Visionen dieser Art sind nicht ungewöhnlich für Hinterbliebene, die im übrigen ihre Trauer auf eine 'normale' Weise bewältigen. Aber es ist eine Erfahrung, über die Trauernde nur dann sprechen, wenn sie danach gefragt werden."(11)

Noch häufiger als die Visionen von Verstorbenen sind die Begegnungen mit Verstorbenen in Träumen. Es können dabei Erinnerungen aus dem Leben wieder lebendig werden. Ein 72jähriger Fliesenleger erzählt: "Ich träume auch über sie, sie kommt oft zu mir, wissen Sie, wir lachen miteinander und so; wir sind ständig zusammen und arbeiten zusammen in meinen Träumen. Weil wir manchmal zusammen draußen auf dem Feld vor vielen Jahren arbeiteten, und gewöhnlich hatten wir viel Spaß und machten Albereien draußen in den Feldern; und ich sehe sie in diesem Feld, Sie verstehen, und die Spielereien, die wir gewöhnlich machten."(12)

Dem Trauernden geben solche Träume Trost. Sie ermöglichen es ihm, sich mit dem geliebten Menschen wieder zu vereinigen. Sie helfen ihm, sich schrittweise von dem Verstorbenen zu lösen, um ihn dann auf neue Weise wieder für sich zu gewinnen. Dabei können zwei Gruppen von Träumen unterschieden werden: "In der einen ist die tote Person von neuem lebendig und gesund, und die vergangenen glücklichen Erfahrungen können wiederholt werden. In der anderen Gruppe erscheint der Tote als verletzt und verletzend, verfolgt und verfolgend, er trägt das Leichenkleid und hat die Zeichen seiner Krankheit oder seiner Verletzung an sich."(13)

Die Begegnungen mit Verstorbenen in Träumen und Visionen gehören also mit zu einem menschlichen Trauerprozess, und es spricht nichts dagegen, diese Vorgänge als normale menschliche Reaktionen auf den Verlust eines geliebten Menschen zu werten. In ihnen kommt symbolhaft zum Ausdruck, dass der Verstorbene nicht einfach fort ist, sondern in der Welt des Trauernden neu aufersteht und in veränderter Form weiter existiert. Das kann den Trauernden Trost und neuen Mut geben, sich dem Leben wieder zuzuwenden.

Nicht ungewöhnlich ist auch das Gespräch mit dem Verstorbenen am Grabe oder abends vor dem Einschlafen, in dem der Trauernde Rat und Hilfe für seine Lebensbewältigung im Gespräch mit dem Verstorbenen finden kann. Mögen diese Symptome auch Skepsis auslösen, man wird dem Erleben des Trauernden nicht gerecht, wenn man diesen Erfahrungen grundsätzlich die Realität abspricht und sie pauschal als Sinnestäuschungen oder pathologische Erlebnisweisen abtut, die möglichst schnell überwunden werden müssten.

Mit dem Übergang zur vierten Trauerphase, in der sich der Trauernde der neuen Wirklichkeit anpasst, und der Verstorbene für ihn in veränderter Gestalt, nicht mehr auf körperlich und sinnlich wahrnehmbare, aber doch auf unsichtbare Weise gegenwärtig ist, verblassen auch die Träume und die Halluzinationen von der Wiederkehr des Verstorbenen. Sie werden seltener und undeutlicher.

IV. Die Trauer der Jünger

Was Spiegel als typisch für die Trauer der Menschen im 20. Jahrhundert beschreibt, finden wir auch in Grundzügen in der neutestamentlichen Überlieferung wieder. Besonders die Beschreibungen der Wiederbegegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus passen sehr gut in das Bild der dritten Trauerphase, die durch regressives Verhalten gekennzeichnet ist: die gewohnte Welt bricht zusammen. Es kommt zur Vermischung von Außen- und Innenwahrnehmung. Traum, Visionen und wirkliche Welt gehen ineinander über und sind nicht mehr sauber und klar voneinander zu unterscheiden. Der Verstorbene ist nicht mehr wie zu seinen Lebzeiten als Anwesender abwesend, sondern soll jetzt als Abwesender anwesend sein. Die dritte Trauerphase ist das Konfliktfeld, auf dem der Streit zwischen Anwesenheit und Abwesenheit ausgetragen wird. Schon Werner Kühnholz vermutete 1975, dass die Erfahrungen der Jünger nach dem Tode Jesu ein Produkt dieser Trauerarbeit der Jünger sind: "In der ersten Zeit der Trauer kommt es häufig auch zu visionären Tagträumen, Auditionen und Träumen, in denen der Verstorbene als leibhaftig gegenwärtig erlebt und festgehalten wird. So finden sich auch die Emmausjünger in der Geste des Brotbrechens mit dem toten Jesus zusammen, um ihn in einem zentralen 'Bild des Glückes vergangener Tage' festzuhalten."(14)

Andere Indizien dafür, dass die Ostervisionen ihren realen Sitz im Leben in der dritten Trauerphase haben, sind die "Flüchtigkeit" des Auferstandenen: er erscheint plötzlich in der Mitte (Lk. 24,36f.; Joh. 20,19) und konnte sich genauso schnell vor den Augen der anderen wieder gleichsam in nichts auflösen (Lk. 24,31) oder in den Himmel entschweben (Lk. 24,51). Ebenfalls spricht für die enge Verwandtschaft von Ostererscheinungen und Trauervisionen der Umstand, dass diese nur eine relativ kurze Zeit (Apg. 1,3) auftraten, und auch die Beobachtung, dass Jesus nur den Personen erschien, die zu ihm zu seinen Lebzeiten eine enge persönliche Beziehung hatten. Eigenartigerweise sind keine Ostererscheinungen von den Gegnern, den Feinden Jesu oder aus dem Kreis der Pharisäer und Schriftgelehrten überliefert.(15)

V. Das Umkippen des Trauerschmerzes

Bis zu diesem Punkt entsprechen die neutestamentlichen Überlieferungen weitgehend dem Befund, der im Rahmen unserer heutigen Kenntnis von Trauerprozessen zu erwarten ist: Schock, Kontrolle, Depression und die Regression mit tagtraumartigen visionären Einblendungen lassen sich anhand von neutestamentlichen Hinweisen bei den Jüngern als Reaktionen auf den Tod Jesu und den Verlust einer für sie wichtigen und geliebten Bezugsperson nachweisen. Im Rahmen der Beschreibung von Trauerphasen bei Spiegel wäre jetzt allerdings zu erwarten, dass die Trauervisionen abnehmen und die Hinterbliebenen schrittweise die Realität des Todes und des Verlustes anerkennen: Jesus ist tot. Er kommt nicht mehr zurück. Und das Leben geht ohne ihn weiter.

An dieser Stelle kommt es allerdings zu den ersten Abweichungen: "Normal" wäre nach Spiegel, dass der Hinterbliebene, der eine visionäre Wiederbegegnung mit dem Verstorbenen erlebt und zunächst darüber erschrickt,

a) diese Vision als eine Sinnestäuschung entlarvt, und

b) der Lebendigkeit des Verstorbenen in dieser Sinnestäuschung die Realität des Todes entgegenhält und von da aus die halluzinierte Lebendigkeit anzweifelt. An die Stelle des geliebten Menschen tritt bei den Visionen während des Trauerprozesses "ein Bild des Geliebten - ein verblaßtes Bild, ein aufgewertetes Bild, zugleich aber auch ein abgewertetes Bild, aber kein wirklich lebendiges mehr".(16)

Im Fall der Ostervisionen geschieht jedoch in beiden Fällen das Gegenteil:

a) zunächst wird die Wirklichkeit des Geschauten als Wahrheit angesehen (1. Kor. 15,5f.: er ist gesehen worden...), d.h. die Jünger haben der Vision und dem Bild, das sie zeigte, geglaubt. Und in einem zweiten Schritt

b) wird der Inhalt des Gesehenen aus der Glaubensperspektive heraus gedeutet (1. Kor. 15,4: ... dass er auferstanden ist..., ähnlich auch Apg. 2,32: "Diesen Jesus hat Gott auferweckt... ")(17)

Diese "Wahrheit" des Gesehenen wurde jedoch nicht von allen Jüngern anfangs geteilt. Angesichts der Ostervision erzählt Mt. 28,17, "etliche aber zweifelten". Daraus kann gefolgert werden, dass zu Beginn nur wenige der Vision glaubten. Eine Vision an sich ist ja zunächst vieldeutig. Sie präsentiert keine physikalische Realität, sondern im besten Sinne des Wortes "nur" eine virtuelle Wirklichkeit. Diese kann symbolhaft eine Wahrheit ausdrücken, sie kann aber auch ein Trugbild, ein Phantasma sein, und anhand von Mt. 14,26 können wir voraussetzen, dass die Jünger diese Unterscheidung auch zu treffen vermochten.

Die erste Ostervision wurde nach der ältesten Quelle (1. Kor. 15,5) Simon Petrus zuteil. Anscheinend war er dafür auch besonders prädestiniert. Denn er hatte eine intensive Beziehung zu Jesus (Lk. 22,33, Mk. 1,16f.; 10,28, Mt. 16,17f.), aber auch ein sehr belastetes Verhältnis zu ihm (Mk. 8,32f.; 14,29; 37; 66-72). Diese Mischung von Hingabe, Anhänglichkeit, Bevorzugung, kindlich-kläglichen Versagens und scharfer Zurechtweisung band ihn - mehr noch als alle anderen - an Jesus und verknüfte sein Leben in besonderer Weise mit dem Leben Jesu und dessen Geschick. Insofern durften bei seiner Trauer auch visionäre und regressive Formen der Verarbeitung erwartet werden. Petrus nahm den Inhalt seiner Trauervision (= Jesus erscheint ihm) im Gegensatz zu den "etlichen" von Mt. 28,17 als Wahrheit (= Jesus ist immer noch bei ihm, Mt. 28,20) an. Die alte Notiz Lk. 22,31ff. enthält somit als kurze Beschreibung den Vorgang, den wir historisch als das Osterereignis isolieren können: es geht um das Durchhalten bzw. Wiederfinden des Glaubens angesichts der Katastrophe des Karfreitags: "Simon, Simon, siehe, der Satan hat euer begehrt, dass er euch möchte sichten wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder." Dieses Gebet Jesu ist mit der Entstehung des Osterglaubens in Erfüllung gegangen.

Die Protovision des Petrus wirkte später ansteckend auf die anderen und verhalf den Jüngern - ganz im Sinne von Lk. 22,31ff. - wieder zu dem Glauben, der durch den Kreuzestod Jesu in Frage gestellt worden war (Mk. 15,34). So setzten sich die "Gläubigen" gegenüber den "Zweiflern" aus Mt. 28,17 durch, sie glaubten dem Bild, das sie in der Vision sahen und fanden Metaphern, um es zu erfassen und zu bewahren. Dieses Bild vermochte ihrem Leben den verlorenen Sinn wieder zurück zu geben. (In unserer heutigen, von verlogenen, erfundenen, getricksten Bildern überfluteten Zeit, die dadurch das Bild massiv entwertet hat, ist eine solche Bedeutsamkeit des Bildes, wie es sich hier im dem "Sehen Jesu" zeigt, nur noch schwer nachvollziehbar.)

Das Fazit der Jünger lautet schließlich: Jesus lebt (Röm. 14,9; Off. 2,8), er ist auferstanden, und die Tatsache seines Todes wird verleugnet (Lk. 24,2-4, anders aber Paulus, 1. Kor. 2,2!). Und entsprechend wurde der realen Wahrheit des Todes (Jesus ist tot, Mk. 15,37; Joh. 19,33) die Wahrheit der visionär-halluzinativ erfahrenen Wirklichkeit (Jesus ist auferstanden, Mk. 16,6par) der ersteren gegenüber gestellt und dieser gegenüber als höherwertig eingestuft und am Ende der Tod selbst bagatellisiert (1. Kor. 15,55). Die Vision und ihre virtuelle Wirklichkeit wurde also gegenüber der physikalisch sichtbaren Welt ins Recht gesetzt und nicht als Sinnestäuschung entwertet.(18) Diese Umkehrung von Wahrnehmung und Wirklichkeit zog nun noch weitere Konsequenzen nach sich.

VI. Das Ende des Trauerschmerzes und die Freude über den wiedergewonnenen Jesus

Schon wenige Tage nach dem Tode Jesu verkündete Petrus, der Anführer der Jünger, der tote Jesus sei ihm als Lebendiger erschienen (Apg. 2). Und die Jünger erlebten einen ungewöhnlichen Stimmungswandel, der eigentlich nicht typisch ist für einen Trauerprozess: "Für die Anfänge der Kirche war eine ekstatische Stimmung bezeichnend, die mit der vorherigen Depression kontrastiert."(19) Gleichzeitig gelingt es den Jüngern, nicht nur der Umwelt ihr Bild von dem Jesus, wie sie ihn kennen gelernt haben, zu vermitteln, sondern sie scheinen geradezu erst jetzt in der Lage zu sein, zu verstehen, was Jesus für sie und andere bedeutete. Was Spiegel in Hinsicht auf die Trauernden allgemein schreibt, träfe auch auf die Jünger und Nachfolger Jesu zu: "Erst der Tod eines geliebten Menschen macht es möglich, voll zu erfassen, was er für den nun 'Verwaisten' bedeutet hat. Während die unmittelbar persönliche Gegenwart es oft nicht erlaubt, Wichtiges vom Unwichtigen, Erfreuliches von Ärgerlichem zu scheiden, gibt die Trauer die Möglichkeit, den Verstorbenen in seiner ganzen Menschlichkeit zu sehen."(20)

Bezogen auf Jesus bedeutet das: sie erkennen, dass Gott in diesem Menschen in besonderer Weise präsent gewesen ist. Sie erkennen, dass Jesus begonnen hatte, das Gottesreich auf Erden zu verwirklichen so wie er es in der zweiten und der dritten Vaterunser-Bitte gelehrt hatte: Wie im Himmel, in dem Bereich, wo sich Gottes Wille schon durchgesetzt hat, alles heil ist, so soll sich auch das Heil auf Erden durchsetzen (Mt. 6,10). Und indem Jesus die Kranken heilte (Mk. 3,10), die Ausgestoßenen in die Mitte stellte (Mk. 7,24-30) und den Armen das Evangelium predigte (Lk. 7,22), begann das Gottesreich auf Erden: sich auch hier durch zu setzen gegen die widergöttlichen Mächte. Dafür wurden den Jüngern jetzt die Augen geöffnet.

Jesus war zwar nun aber nicht mehr körperlich anwesend wie vor seinem Tode (und seine leibliche Anwesenheit hatte offenbar auch die mögliche Nähe und Erkenntnis behindert(21) ). Aber er war damit nicht einfach weg. Spiegel schreibt: "Die Form seiner Gegenwart hat sich verändert, sie ist nicht mehr gebunden an seine persönliche Erscheinung, die sich in der Erinnerung genauso auflöst wie sein Körper. Er wird unverlierbarer Besitz, indem er in dem Trauernden neu ersteht. Diese Wiedererweckung des Verstorbenen im Trauernden (...) hebt das Gefühl der Verlassenheit und der Schutzlosigkeit auf; er bleibt nicht 'Waise', sondern gewinnt den Verstorbenen als unverlierbare Gegenwart."(22)

Eine zweite phänomenologische Beobachtung tritt hinzu, die den von Spiegel beschriebenen Sachverhalt noch besser erhellt: es ist die Dynamik von Nähe und Distanz. Inmitten der größtmöglichen Distanz (und das ist der Tod, der nicht mehr überboten werden kann), war eine immer noch größere Nähe möglich. Und das muss auch unbedingt so sein, denn wie soll man sich nahe kommen, wenn man sich schon nahe ist? Die größte Distanz erst ermöglichte die immer noch größere Nähe: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende." (Mt. 28,20). Trotz seiner leiblichen Entzogenheit konnte Jesus also immer noch und jetzt erst recht als Anwesender erlebt und erfahren werden.(23) Und das nicht nur flüchtig und Furcht einflößend, sondern intensiv und belebend. Das ist - kurzgefasst - die Ostererfahrung der Jünger gewesen. (Und das sind auch Erfahrungen, die Hinterbliebene machen können, die einen ihnen sehr wichtig gewordenen Menschen durch Tod verloren haben.)

Das blieb nicht ohne Folgen für ihre psychische Verfassung: Dass ein Mensch nach seinem Tode immer noch als ein lebendiges Gegenüber erfahren werden konnte, versetzte die Jünger in Ekstase. Sie besaßen im ersten Moment nicht die Möglichkeit, mit Worten ihrer Muttersprache das ihnen Widerfahrene angemessen auszudrücken. Da brach sich das Unbegreifliche unter dem Druck der Ekstase und des Erstaunens seine eigene Bahn: Die Sprache explodierte (Mk. 16,17; Apg. 2,4). Nur in den unverständlichen Worten und Lauten der urchristlichen Glossolalie konnten die ersten Empfindungen geäußert werden (1. Kor. 14,14), die die neu gewonnene Gegenwart des zuvor verloren geglaubten Jesus (Lk. 24,19-21) in ihnen ausgelöst hatte. Nachdem die frühen Christen auf diese irrationale Weise ihren Gefühlen des Erstaunens und der Freude freien Lauf gelassen hatten, wurden sie fähig, das ihnen Widerfahrene auch in verständlichen Worten mitzuteilen (1. Kor. 14,18f.). Osterfreude und Pfingstekstase äußern sich also zunächst in den unverständlichen Lauten der Glossolalie (Apg. 2,4), und danach folgte (in der Pfingstpredigt des Petrus) die aus dem neu gewonnenen Glauben heraus formulierte Mitteilung über das Vorgefallene: "Diesen Jesus hat Gott auferweckt(24), des sind wir alle Zeugen." (Apg. 2,32)

Mit der Freude über die neugewonnene Gegenwart des verstorbenen Jesus gewann der Trauerprozess jedoch eine völlig andere, vom zu Erwartenden abweichende Dynamik: Der Abschiedsschmerz und die depressive Tönung dieses Prozesses wichen einer eher ekstatisch-euphorisch gefärbten Stimmung. Und damit erloschen auch die Trauervisionen, in denen die Wiederkehr des Verstorbenen erlebt wurde. Die Freude über die neu gewonnene Gegenwart des Gekreuzigten führte also zum plötzlichen Erlöschen der Auferstehungserscheinungen unter den Jüngern. Man könnte auch sagen: Die Ostervisionen selbst waren die Ursache ihres späteren Ausbleibens, indem sie in den Trauernden eine Freude auslösten, die den Trauerprozess (und den mit ihm verbundenen Erscheinungen) in eine neue Richtung lenkte.(25)

VII. Die Ursachen für den besonderen Trauerweg der Jünger

Wie sich Jesus schon zu Lebzeiten in seiner Wirkung auf andere Menschen von anderen unterschied, so verlief auch der Trauerprozess um ihn anders als es unserer normalen Erwartung entsprechen würde. Wo normalerweise der Abschiedsschmerz und die ihn begleitenden Depressionen die Ablösung von dem Verstorbenen und die erneute Zuwendung zum Leben vorbereiten, kippte der Trauerprozess bei den Jüngern Jesu um und mündete in die Osterfreude, die den Abschiedsschmerz überstrahlte.

Eine Ursache für dieses plötzliche Umkippen liegt in der Verkündigung Jesu zu seinen Lebzeiten. Diese war durchsetzt von vielen Gleichnissen, in denen Jesus den Menschen das anbrechende Gottesreich nahe brachte. Wie die Gleichnisse auf die Hörerinnen und Hörer wirkten, wie sie ihre Weltsicht und ihre Erfahrungsmöglichkeit veränderten, das sehen wir uns jetzt genauer an.

Die Gleichnisse wurden von Jesus so angelegt, dass der Hörer sich der Wirkung nicht entziehen konnte. Eberhard Jüngel, der sich eingehender mit der sprachlichen Struktur der Gleichnisse Jesu befasst hatte, schreibt dazu: "Im Gleichnis spitzt sich die Sprache so zu, daß das, wovon die Rede ist, in der Sprache selber konkret wird und eben dadurch die Angesprochenen in ihrer eigenen Existenz neu bestimmt. Im Gleichnis ereignet sich etwas, und zwar so, daß sich dann auch durch das Gleichnis etwas ereignet."(26)

Jesus redet in seinen Gleichnissen von alltäglichen Begebenheiten, - von Menschen, die sich in all ihrer Unvollkommenheit, und doch oft mit einer gehörigen Portion Schalk, durchs Leben schlagen müssen. (Lk. 15,11-24;16,1-9;18,1-8;19,1-10) Jesus zeigt die Welt, wie er sie sieht: nicht religiös verklärt oder moralisch geschminkt. Viele Gleichnisse sollen auch keine Anleitung zu einem tugendhaften Lebenswandel geben. Wer sie in diesem Sinne deuten will, verdirbt die Pointe dieser Gleichnisse: die Entschiedenheit, mit der sich hier Menschen über alle Formen des Anstands und der Moral hinwegsetzen, um das Gottesreich zu erlangen. Jesus zeigt die Welt mit dem, was in ihr zu finden ist: Mit den Gerechten (die sich mitunter als ganz und gar ungerecht erweisen) und den Ungerechten (die Gott näher stehen können als irgendein Gerechter). Er ist der Meinung, dass wir von allen etwas lernen können. Und wenn es um das Gottesreich geht, da können wir sogar vom Getreide auf dem Acker lernen: "Das Reich Gottes ist so, wie wenn ein Mensch hinaus geht und Samen aufs Land wirft. Einfach auf die Erde. Er schläft und steht auf, er kümmert sich nicht mehr darum. Denn von selbst bringt die Erde Frucht. Automatisch. Der Mensch weiß nicht, wie es geschieht. Aber dann ist der Tag da, der Tag der Ernte, und die Erde bringt mannigfaltig Frucht." (Mk. 4,26-29)

Ein Acker, ein Mensch, der Samen auf die Erde wirft. Die Saat, die wächst... wir können uns vor unserem inneren Auge diese Szene sehr anschaulich vorstellen. Doch mit dem Gottesreich hat sie zunächst nichts zu tun. Es ist eine rein weltliche Begebenheit.

Für Jüngel liegt gerade darin die Pointe: Jesus öffnet uns für die Wirklichkeit der Welt derart die Augen, "daß das, was wir schon hundert- oder tausendmal wahrgenommen haben, in einer neuen, bisher nicht vernommenen Weise zu sprechen beginnt: es wird gleichnisfähig für unser Verhältnis zu Gott und - mehr noch! - für Gottes Verhältnis zu uns."(27) Das Gottesreich ist wie, wenn ein Mensch hinausgeht und streut Samen auf die Erde... Das Gottesreich ist wie, wenn ein Mensch hinausgeht und streut Samen auf die Erde... Säen, Wachsen und Ernten erzählen uns auf einmal etwas über das Gottesreich: Genau so ist es! Hier in dieser Welt begegnet uns in den Gleichnissen Jesu das unsichtbare Gottesreich. Wer das einmal erlebt hat, für den wird seine Welt, werden seine eigenen Lebenserfahrungen im Hier und Jetzt gleichnisfähig. Der macht "eine Erfahrung mit der Erfahrung"(28), der macht mit seiner Welt-Erfahrung eine neue Erfahrung, eine Gottes-Erfahrung. Das war es, was die Zuhörer Jesu in den Bann zog.

Und so wie Jesus das unsichtbare Gottesreich in seinen Gleichnissen sichtbar werden ließ, wurde er selbst zum Gleichnis für jenen Gott, von dem er so weltlich erzählen konnte. Jesus wurde, um im Gleichnis zu bleiben, selbst zum Samenkorn, das in die Erde fiel, als er starb und dann begraben wurde (Joh. 12,24). Und nun, ganz von selbst, reifte die Frucht. Automatisch: Die zurückgebliebenen Jünger erlebten das, was Menschen sonst auch erleben, wenn sie sich in Trauer befanden. Sie standen unter Schock. Doch den Jüngern waren durch Jesus schon vorher die Augen für das unsichtbare Gottesreich geöffnet worden: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt... Und so blieb es nicht allein bei diesen alltäglichen Erfahrungen von Schmerz und Trauer. Sie machten mit ihrer Trauererfahrung eine neue Erfahrung, die dann den Abschiedsschmerz in die Osterfreude verkehrte. Man könnte die Entstehung des Osterglaubens auch als Produkt jener Glaubensprägung auffassen, die die Jünger unter dem Einfluss der Verkündigung Jesu erfahren haben.

Im Schock der Trauer blühte die Vision: So wie viele Angehörige nach der Beisetzung plötzlich den Verstorbenen zur Tür hereinkommen sehen und bald darauf bemerken, dass sie einer Sinnestäuschung zum Opfer fielen, - was also Menschen schon hundert oder tausendmal zuvor in Trauer erlebten, erlebten die Jünger jetzt als Gleichnis noch einmal. Sie machten eine Erfahrung mit der Erfahrung, sie machten mit der Trauererfahrung eine neue Erfahrung: Jetzt, wo den Jüngern durch die Gleichnisreden Jesu einmal die Augen für das Gottesreich geöffnet worden waren, sahen sie sehenden Auges in die Vision des totgeglaubten Jesus, die für sie jetzt gleichnisfähig geworden war. Und so erfuhren sie Gott inmitten dieser Wirklichkeit der visionären Trauerbilder. Genauso wie die Zuhörer in den weltlichen Geschichten und Gleichnissen, die Jesus erzählte, etwas über Gott erfuhren. Die Auferstehung Jesu ist also nicht der krönende Abschluss seines Wunderwirkens, sondern eine Folge der Verkündigung Jesu, die bis in die Trauervisionen der Jünger hinein wirkte: "Diese Botschaft war nicht die eines Gescheiterten, sondern sie trug sogar noch im Scheitern selbst; sie war in der Lage, das Scheitern bestehen zu helfen".(29)

VIII. Der Trauerweg der Jünger als Beispiel für die christliche Existenz

Auch heute noch versammeln sich Menschen unter dem Symbol des Kreuzes, um zu dem toten Jesus zu beten so wie die Witwe am Grab ihres verstorbenen Mannes steht, um mit ihm ihre Probleme durch zu sprechen, für die sie zuhause keine Lösung findet. In beiden Fällen - in der Kirche und am Grabe - erleben Menschen immer wieder, dass der Verstorbene nicht einfach weg ist: Siehe, ich bin bei euch alle Tage... (Mt. 28,20). Sie finden zum Glauben, machen die Erfahrung, gehört zu werden, und oft nehmen sie eine Lösung für die Probleme mit, die sie mit dem Verstorbenen durchsprechen. Dieser phänomenologische Befund ist zunächst einmal fest zu halten und ernst zu nehmen. Er zeigt, dass Menschen auch heute noch in eine Geschichte mit dem gekreuzigten Jesus verwickelt sind, von ihm angesprochen werden können und durch seine überlieferten Worte zu einem vertieften Verständnis ihres eigenen Lebens finden: Bezeichnend für die Verkündigung Jesu und sein Wirken war ja, dass er sich über den fragmentarischen Charakter dessen bewusst war. Das Gottesreich ist noch nicht da, es kommt erst, so wie viele andere Dinge dieser Welt erst im Werden sind und klein anfangen. Am Anfang: die von selbst wachsende Saat, am Ende die Ernte (Mk. 4,26-29), am Anfang: ein kleines, unscheinbares Senfkorn, am Ende: der große Baum, in dem die Vögel nisten (Mk. 4,30ff.). Am Anfang: das heilstiftende Wirken Jesu (Lk. 11,20; ) und am Ende die Erneuerung der ganzen Welt (Off. 21,4f.).

Im Himmel ist der Wille Gottes bereits präsent und wirklich, da gibt es kein Fragment (und das, was es begleitet: keine Tränen, kein Leid, kein Geschrei, keinen Schmerz), da ist alles heil. Und so soll sich der Wille Gottes auch durchsetzen in dieser Welt (Mt. 6,10). Aber durchsetzen meint eben: das Werk ist noch nicht vollendet. Es fängt erst an. Noch ächzt die Kreatur unter der Vergänglichkeit, noch leidet sie. (Röm. 8,18-25).

Da das Fragmentarische allerdings geradezu ein ontologisches Kennzeichen dieser Welt ist (Martin Heidegger spricht von der Grundverfassung des Daseins als "ständige(r) Unabgeschlossenheit."(30) ), kann auch das Werk Jesu letztlich nur ein fragmentarisches sein, und das bedeutet: Jesus beginnt zwar sein Werk, aber noch ehe es vollendet ist, wird es durch sein gewaltsames Ende am Kreuz abgebrochen.

Das Fragmentarische seines Wirkens bezog Jesus nun aber nicht nur auf das herannahende Gottesreich, sondern auch auf das Leben selbst: "Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetweillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten." (Mk. 8,35par) Also auch der Versuch, in seinem Leben so etwas wie Vollendung und Reife erreichen zu wollen, muss letztlich scheitern. Henning Luther legt das so aus: "Wer sein Leben erhalten will - und ich interpretiere: wer ganze und dauerhafte Identität anstrebt -, der wird es verlieren; und derjenige, der es nicht zu erhalten trachtet, wird es gewinnen."(31)

Die Trauer ist nun diejenige Gestimmtheit des Menschen, in der ihm das Fragmentarische als das Fragmentarische ins Bewusstsein dringt. Der Mensch kann dieser Trauerarbeit, die auch zugleich Arbeit am Leben ist, ausweichen und statt dessen einem Ideal von einem erfüllten Leben anhängen, dem dieses selbst nicht gerecht werden kann. Die zwangsläufige Folge ist dann Enttäuschung. Aber wer bereit ist, sein Leben in der Bruchstückhaftigkeit, die immerhin möglich ist, als Fragment anzunehmen und gelten zu lassen, der kann mit seinem Leben versöhnt sein.

Jesus konnte anscheinend das Fragmentarische seines Lebens gelten lassen ohne den Anspruch zu erheben, das, was er begonnen hatte, in seinem irdischen Leben zur Vollendung zu führen. Das konnte er nur, weil im Fragmentarischen bereits das Ganze als Möglichkeit sichtbar wird, seine Gleichnisse haben dieses Wissen immer wieder zum Ausdruck gebracht: "Das Fragment ist immer mehr als ein Bruchstück, weil es über sich hinausweist."(32) Das Fragment ist damit auch eschatologisch(33) qualifiziert. Es bleibt also immer die Trauer und der "Schmerz des Fragments"(34), aber auch die Hoffnung auf Vollendung.

Luther bleibt bei dieser Feststellung nicht stehen. Von dem Fragmentarischen als einem wichtigen Existenzial unseres Lebens definiert er dann das, was christlicher Glaube auf diesem Hintergrund bedeutet: "Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können."(35) In diesem Sinne verkörpert Jesus den Menschen, der sich des Fragmentarischen seines Lebens bewusst war, und es wagte, sein Leben auf diesem Hintergrund zu leben. Er konnte dieses, weil er sich selbst in einem größeren Horizont verorten konnte: Er musste hier auf Erden nicht das Reich Gottes verwirklichen. Es reichte aus, darauf hin zu weisen: Seht, wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, dann bricht das Gottesreich hier an. Wenn ich Kranke heile, dann wird etwas von dem Heil sichtbar, das im Gottesreich sich voll entfalten will. Die frühen Christen zogen daraus verschiedene Konsequenzen:

Zum einen erkannten sie den fragmentarischen Charakter des Werkes und des Lebens Jesu an, in dem sie feststellten: das, was er tat, war ein für alle Mal genug gewesen: "Durch die gewaltsame Kreuzigung ist Jesu Leben konstitutiv als fragmentarisches zu sehen. Der Auferstehungsglaube revoziert dies nicht. Im Auferstandenen wird vielmehr der Gekreuzigte geglaubt. Damit ist der üblichen Sicht widersprochen, die die Kreuzigung, die Fragmentarität, als Katastrophe und Sinnlosigkeit interpretiert. Ostern korrigiert nicht Karfreitag, sondern bewahrt ihn, indem es die Sicht auf Karfreitag neu macht."(36)

Es muss also nichts mehr hinzu getan werden. Es muss kein neuer Messias mehr erwartet werden. Es muss keine neue heilige Schrift mehr verfasst werden. Das, was am Karfreitag bereits da ist, ist genug, auch wenn es nur Fragment ist. Denn mehr gibt es nicht auf dieser Welt.

Und zum anderen sahen sie in der Nachfolge Jesu die Möglichkeit, das angefangene Werk Jesu fort zu führen - ohne allerdings auf die Idee zu verfallen, es selber vollenden zu können. All dem, was die Nachfolger Jesu tun können, haftet ebenfalls der Schmerz des Fragments an. Ja Trauer könnte geradezu ein Kennzeichen der Kirche sein: Trauer darum, dass ihre Arbeit an den Menschen und der Welt immer fragmentarisch sein wird, bruchstückhaft. Nie vollkommen, nie vollendet. Trauer darüber, dass wir nicht mehr haben als das Wort vom Kreuz (1. Kor. 1,18).(37) Aber Trauer ist auch der Bereich, in dem das Christentum den Menschen näher kommen kann als irgendeine andere Religion.

In der Trauererfahrung der Jünger hat das Christentum seine Wurzeln. Nimmt die Kirche dieses als einen ihrer Hauptwesenszüge an, dann kann sie sich von überzogenen Erwartungen und Allmachtsphantasien befreien und sich der Sorge zuwenden, die der jeweilige Tag bereit hält.

Der Aufsatz ist abgedruckt in: Gott dem Herrn Dank sagen. Festschrift für Gerhard Heintze. Herausgegeben vom Freundeskreis der Braunschweiger Kirchen- und Sozialgeschichte. ISBN 3-932735-73-0. Wuppertal 2002, S. 33-45.

Weiterführende Links: Streit um die Auferstehung Jesu bei theology.de.

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Impressum, http://bs.cyty.com/menschen/archiv/papers/, Stand: 3. Dezember 2003, ee