Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche


Die Braunschweigische Evangelisch-Lutherische Landeskirche
und der Nationalsozialismus

Ein Referat vom 11. März 1980 im Städtischen Museum in Braunschweig
von Dietrich Kuessner

(Download des gesamten Textes als pdf hier)



Teil 1: Die Landeskirche öffnet sich dem Nationalsozialismus (1930/31)

"Die Kirche ist neutral und wählt deutsch-national". Dieser Spottvers beschreibt ziemlich genau die Position der lutherischen Landeskirche während der Weimarer Zeit. 1) Man steht Mitte bis rechts und hat dafür folgende Gründe:
Die Weimarer Zeit hat der evangelischen Kirche in zweifacher Weise die Schwäche ihrer Position besonders deutlich gemacht. Die Schwäche besteht erstens darin, daß die evangelische Kirche die Mehrheit der Bevölkerung innerlich verloren hat. Das braunschweigische Herzogtum gilt zwar als ein rein protestantisches Land, aber das bezeichnet mehr einen geistlichen Hohlraum. Bürger und Arbeiter sind seit der Aufklärung aus den Kirchen ausgewandert, ohne allerdings ihre Emigration formell zu vollziehen. Die Kirche füllt diesen Hohlraum, indem sie sich in eine großartige, volkskirchliche, d. h. alle gesellschaftlichen Schichten umfassende Situation hineinphantasiert. Die hohen Prozentzahlen von Taufen und christlichen Begräbnissen beflügeln noch diese Phantasie.
Außerdem - das ist das zweite Schwächezeichen - hat sich die Kirche eng an die Seite des Staates gestellt. Der Herzog hat die Aufsicht über die äußeren Angelegenheiten der ev. Kirche, auch z.B. über das Vermögen und die Finanzen. Er ist die Spitze der kirchlichen Verfassung. Der als Volkskirche etikettierte Hohlraum wird dadurch erheblich abgestützt. Man beruft sich dazu einseitig auf das 13. Kapitel des Römerbriefes, wo Paulus schreibt, daß der Staat eine Obrigkeit von Gottes Gnaden sei. Das ist aber umstritten. Die Obrigkeit fordert von seinem Untertanen vor allem Gehorsam und sichert ihm dafür den Schutz seiner Privilegien, wenn er welche besitzt. Die Kirche besitzt sie. Gerade mit dieser Gehorsamsforderung aber entfernt sich die Kirche noch weiter vom Bürger und Arbeiter, denn der Bürger hat im 18. Jahrhundert und der Arbeiter im 19. und 20. Jahrhundert seine Rechte nicht mit Gehorsam, sondern mit Ungehorsam erkämpft.
Wenn dieser Obrigkeitsstaat von Gottes Gnaden und mit seinen geistlichen Hohlräumen in einer militärischen Katastrophe endet und der Kaiser in Berlin und der Herzog in Braunschweig abdanken, kann die Kirche dies als das Ende einer Phantasie oder als eine Kränkung ihres Selbstverständnisses empfinden. Sie kann einen Schritt ins Freie tun, nämlich zu mehr Unabhängigkeit vom Staat, oder verbissen um den Status quo kämpfen und prozessieren. Sie tut nicht den Schritt ins Freie, sondern ein Großteil der evangelischen Kirche wendet sich gekränkt gegen die Weimarer Republik. Sie hat in ihrer Verfassung 1919 die ideelle und finanzielle Trennung von Kirche und Staat, ehemals von Thron und Altar beschlossen. § 137: "Es gibt keine Staatskirche". § 138: "Staatsleistungen werden abgelöst".
In der Braunschweiger Landeskirche sitzt diese Kränkung besonders tief, weil vielen Pfarrern nun die Basis ihrer finanziellen Existenz schlicht entzogen ist, denn die sozialistische Räteregierung und die folgenden sozialdemokratischen Landesregierungen verweigern zunächst jene rechtlich zustehenden Staatszuschüsse, die ihnen der Herzog gewährt hatte, und alle Pachteinnahmen werden von der Inflation verschlungen. Die Kassen im Landeskirchenamt sind buchstäblich leer, die Pfarrer können kaum bezahlt werden. Die braunschweiger Pfarrer erleben die ideologische Krise verschärft als existenzielle Krise.
Dazu kommt weiterhin, daß die Pfarrerschaft durch den Verlust der Schulaufsicht nicht unerheblich in ihrem Selbstwertgefühl getroffen ist und einen verbitterten Kampf nun wenigstens um den konfessionellen Charakter der Volksschule entfacht. Aber die braunschweiger Sozialdemokraten nehmen es mit der Trennung von Kirche und Staat auch in der Schulfrage ernst und haben unter den Volksbildungsministern Grotewohl und Siegers den konfessionellen Charakter der braunschweigischen Schulen abgeschafft und mehrere dissidentische Schulräte eingestellt. 2) Die sozialistischen Landesregierungen nach 1919 haben aber überdies einen massiv antikirchlichen Zuschnitt. Während ihrer Regierungszeit schnellen die Kirchenaustrittszahlen besonders hoch an: es sind 1922 21.000 und 1928 2.300 Mitglieder. 3) Braunschweig steht mit 113 Freidenkern auf 1.000 Einwohner an der Spitze aller deutschen Großstädte. 4)
"Nur im roten Sowjetlande / gibt es nichts mehr abzugrasen / dort hat man der schwarzen Bande / stramm den Abschiedsmarsch geblasen / Raus Prolet heraus / aus dem Gotteshaus / hetzt er gegen Sowjetrußland / schmeißt den Pfaffen raus/ Wenn es geht zum großen Stürmen / muß die Priestermacht vergehn / bis von allen Kirchentürmen / unsere roten Banner wehn / Fliegt der Pfaffe raus / aus dem Gotteshaus / dann wird ein Kulturhaus / für das Volk daraus." 5)
Die Kirche antwortet auf diese 'Perlen deutscher Lyrik' mit einem massiven Antisozialismus. Die Sehnsucht der Pfarrer richtet sich auf eine Wiederherstellung der alten Obrigkeitsstruktur.
In den Andachten des Braunschweiger Volksblattes, der Zeitung für die evangelischen Gemeinden, liest sich das 1930/31 folgendermaßen: die kaiserliche Zeit sei die Heils- und Gnadenzeit, die Weimarer Zeit mit Revolution und Arbeitslosigkeit Stunden des göttlichen Gerichtes. Nach solcher "Passionszeit" der 20iger Jahre werde die "Auferstehungszeit" der 30iger Jahre folgen. 6)
Beim Wahlkampf zum braunschweigischen Landtag im September 1930 gibt die kirchliche Presse dem Sinne nach die Parole aus: "Auf keinen Fall Sozialdemokraten" 7) Sie erhofft sich von der Abwahl der Sozialdemokraten eine Verbesserung ihrer Gesamtlage. Die NSDAP gewinnt am 14. 9. 1930 überraschend hoch - nämlich zu einem Sitz noch zusätzlich 8 neue -, bildet mit den Bürgerlichen die Landesregierung, und diese zahlt in zwei Dezemberraten RM 225.000,-- in den kirchlichen Haushalt. 8) Das sind keine Bestechungsgelder, sondern die staatlich zustehenden Zuschüsse in voller Höhe. Das sind RM 85.000,-- mehr, als die Regierung Jasper zu zahlen bereit war.
Nun soll es auch in der Schule wieder fromm zugehen, und zwar nach dem Willen des gemäßigten nationalsozialistischen Volksbildungsministers Dr. Franzen: das Schulgebet wird wieder eingeführt, am Reformationstag wird für Schulgottesdienste schulfrei gegeben, 26 dissidentische Lehrer und sieben Schulräte werden aus personalparteipolitischen Gründen entlassen bzw. in den Ruhestand versetzt. Bischof Bernewitz berichtet dem Landeskirchentag, er habe den Eindruck, "daß im Ministerium der Wille besteht, christliche Erziehung nach Kräften zu fördern". 9)
Die Gewinne der NSDAP setzen sich bei den Kommunalwahlen im März 1931 fort. Im Braunschweiger Stadtrat werden zu dem einen Sitz 9 weitere hinzugewonnen, im Wolfenbütteler Stadtparlament liegt die NSDAP mit sieben Stimmen an der Spitze. Eindrucksvoll sind besonders die Gewinne auf dem Lande. In vielen Dörfern wird die NSDAP jetzt stärkste Partei.
Die Anzahl der NSDAP-Ortsgruppen steigt von 21 (1927) auf 90 (1931), 10) die HJ zählt 1930 7 Gruppen, im Dezember 1931 165 Gruppen mit durchschnittlich 12 Mitgliedern. 11)
Die Regierungsbeteiligung der NSDAP und das Anwachsen dieser Partei sind ein regional bedingter Anlaß für die braunschweiger Pfarrer, sich intensiv mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Das Landeskirchenamt schlägt im Frühjahr 1931 u. a. das Thema "Die religiöse Richtung der völkischen Bewegung, insbesondere des Nationalsozialismus in ihrem Verhältnis zum Christentun und zur Kirche" 12) zur schriftlichen Bearbeitung vor, und im Herbst werden die Aufsätze in den Predigersynoden zusammengefaßt und diskutiert. Der Grundtenor des Meinungsbildes ist folgender: Die umstrittene Bewegung sei so rasch gewachsen, weil sie das Vaterland wieder zu Ehren gebracht habe; die katholische Kirche und die religiösen Sozialisten warnten zwar, aber es gebe ja den Parteiprogrammpunkt 24, wonach die NSDAP das positive Christentum bejahe; eine besonders religiöse Richtung, die als Konkurrenz zu fürchten wäre, sei nicht in der Absicht Hitlers; die nationalsozialistische Landesregierung habe sich außerdem mit guten Taten eingeführt. Die Kirche habe am Nationalsozialismus eine Aufgabe, nämlich zu klären, was an dieser jungen Bewegung noch ungeklärt sei, das gute Wollen anzuerkennen und hilfreiche Kritik zu üben. "Für die evangelische Kirche wäre es ein schwerer Fehler, wenn sie an der nationalsozialistischen Bewegung vorbeigehen wollte, ihr neutral, kühl, unbeteiligt, ablehnend gegenüberstehen oder sie gar von Kirchen wegen bekämpfen würde ... Es sind viele Fäden, die sich zwischen dem, was der Nationalsozialismus will und dem, was die Kirche will, hin und her spinnen, und es sind auf Seiten des Nationalsozialismus ausgestreckte Arme. Und ausgestreckte Arme sollte man niemals zurückweisen." 13)
Man marschiert also gemeinsam in eine Richtung, nicht hintereinander, sondern in einem selbstständigen, kritischen, vertrauensvollen Nebeneinander. Die warnenden Töne fehlen nicht. Die Kirche warne den Nationalsozialismus, aus Rasse und Volkstum den höchsten Wert zu machen, vor der Torheit einer völkisch-germanischen Religion und vor der Verachtung des Alten Testamentes. Das Schlagwort 'Juda verrecke' sei absolut unchristlich.
Bischof Bernewitz, aus dem Baltikum stammend, dort von den Bolschewisten aus Heimat und Amt gejagt, seit 1922 ein von vielen anerkannter und respektierter Bischof der Braunschweigischen Landeskirche, unterstützt diese Öffnung zum Nationalsozialismus lebhaft. Er verbietet es nicht, wenn schon 1931 die Ehemänner in brauner Uniform in Gandersheim und Helmstedt vor dem Traualtar stehen. Wenn die Nationalsozialisten Feldgottesdienste halten und sich damit zur Kirche bekennen, sollte die Kirche diese nicht zurückweisen, sondern dies als missionarische Aufgabe wahrnehmen. 14)
Aber nicht nur in Braunschweig, sondern auch im Kreis der bischöflichen Kollegen macht Bernewitz aus seinen Sympathien für den Nationalsozialismus keinen Hehl. "In diesem Kreis war ich der erste, der den Nationalsozialismus als die einzige Bewegung erkannte und vertrat, die im Stande sein könnte, das zerrissene deutsche Volk zu einigen, den deutschen Arbeiter wieder in die Volksgemeinschaft zurückzuführen und den Kampf gegen den unheimlich vordringenden Marxismus siegreich vorzunehmen ...“ 15)
So liegt das Jahr der Machtergreifung in Braunschweig bereits im Jahr 1930, und das Verhältnis der Landeskirche zur NSDAP ist mit Unterstützung der Kirchenleitung bereits 1931 von einem verständnisvollen, kritischen Nebeneinander geprägt.


Zum Teil 2: Die "Deutschen Christen" intensivieren das Verhältnis von Landeskirche und Nationalsozialismus (1933/34)


Anmerkungen:

  1. Dieses Zitat und andere wichtige Einzelheiten, z.B. über den Wiederbeginn von Oberlandeskirchenrat Dr. Breust 1945 im Landeskirchenamt verdanke ich einem Gespräch mit dem Vizepräsidenten des Landgerichtes a. D, Friedrich Linke, der von 1945 - 1952 Mitglied der Kirchenregierung gewesen ist
  2. siehe E. A. Roloff "Braunschweig und der Staat von Weimar" Braunschweig 1964
  3. Statistische Übersicht betreffend Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Kalenderjahren 1922 - 1928 in "Verhandlungen des zweiten Landeskirchentages der braunschweigischen evangelisch-lutherischen Landeskirche, Erste Tagung vom 6. Januar 1930 bis 25. März 1930" Heckner 1930. Die statistische Übersicht ist eine Anlage zu einem Bericht der Kirchenregierung über die Entwicklung der Landeskirche von 1923 - 1929, die einzige umfassende Darstellung der Geschichte der Landeskirche im Weimarer Staat
  4. Braunschweigisches Volksblatt 1930 S. 262
  5. Braunschweigisches Volksblatt vom 25. 12. 1930
  6. siehe die Andacht "Unsere Zeit - Passionszeit Christi?" in Braunschweigisches Volksblatt am 29. 3. 1931
  7. Braunschweigisches Volksblatt 1930 S. 290
  8. Evangelisches Zentralarchiv Berlin B2/62. Diese Akte enthält umfangreiches Material zur Frage der Zuschüsse des Braunschweigischen Staatsministeriums in den landeskirchlichen Haushalt
  9. Braunschweigisches Volksblatt 1931 S. 42
  10. Die Akte Han 310 I G 5a im Niedersächsischen Staatsarchiv Hannover enthält eine Aufstellung über die Gründungen der NSDAP-Ortsgruppen im Gau Süd-Hannover/Braunschweig
  11. Jürgen Schultz "Die Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend in Braunschweig" Braunschweig 1978 S. 136 ff
  12. Das Thema lautet vollständig: "Die religiöse Richtung der völkischen Bewegung, insbes. des Nationalsozialismus in ihrem Verhältnis zum Christentum und zur Kirche, Darstellung und Beurteilung. Wie hat sich die Kirche dazu zu stellen, welche Aufgaben erwachsen dem Pfarramte?"
  13. Kurt Ernesti "Nationalsozialismus und Kirche" in "Die Volkskirche, Blätter der Braunschweiger kirchlichen Mitte" Nr. 4, Dezember 1931 S. 1 - 11
  14. Braunschweigisches Volksblatt 1931 S.42
  15. "Lebenserinnerungen" von Landesbischof Bernewitz, hektographiertes Manuskript S. 242 im Besitz der Familie




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/BS-LK-NS/BS-LK-NS-1.htm, Stand: Mai 2007, dk