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[Kirche von unten]

Die Geschichte des Braunschweiger Gesangbuches

von Dietrich Kuessner

1. Kapitel




Mehr als ein Jahrhundert Singen ohne Gesangbuch (1569 – 1698)

Von der Geschichte im Allgemeinen und von der Kirchengeschichte im Besonderen, hier speziell der Geschichte des Singens in der Landeskirche gilt der Satz, daß wir uns eine Geschichte erfinden, die nie bestanden hat. Durch den evangelischen Choral hätte die Reformation ihren Einzug in Häuser und Herzen gefunden, ist eine gängige Behauptung. „Schon im 16. Jahrhundert wurde Besitz und Gebrauch eines Gesangbuches durch die Gemeindeglieder allgemeiner und verbreiteter“, meint der Hymnologe Alexander Völker im Artikel „Gesangbuch“ des Theologischen Reallexikons aus dem Jahre 1984 (TRE Bd 12 S.547 ff). Diese Behauptung wird schon durch die sehr hohe Zahl von Analphabeten in den Dörfern und auch in den Städten widerlegt. Lange Zeit gab es überhaupt keine Gesangbücher. Die Reformation wurde in der Stadt Braunschweig 1528 durch Bugenhagen eingeführt und 1569, also 40 Jahre später im Land Braunschweig durch Herzog Julius. Aber das erste offiziell verordnete Braunschweiger Gesangbuch stammt erst aus dem Jahre 1698. Das sind mehr als 100 Jahre ohne ein Gesangbuch für die Mitglieder der evangelisch-lutherischen Landeskirche Braunschweigs. Wie wurde in Stadt und Land bis dahin, bis 1698 gesungen? Nach welchen Vorlagen? Wer vermittelte die Liedtexte und Melodien?
Allzu leichtfertig haben die Hymnologen von den vorliegenden Gesangbüchern auf das Singen in den Gemeinden geschlossen. In der Festschrift zum 70. Geburtstag von Christhard Mahrenholz untersuchte Konrad Ameln ein lutherisches Gesangbuch aus dem Jahre 1711, das in der Gemeinde Salach in Württemberg vom Pfarrer gebraucht wurde. Am Ende seines Aufsatzes bemerkte Ameln: „Die hymnologische Forschung steht immer wieder vor der Frage, welche aus der großen Zahl der in gedruckten Gesangbüchern angebotenen Liedern nun wirklich gesungen worden sind“ und schloß aus Pergamentstreifen, die an den Seitenrändern angebracht waren, in Salach wären es wohl zunächst neun, später 14 bis 15 Lieder gewesen (Konrad Ameln „Über die Gestalt und den Gebrauch eines lutherischen Gesangbuches zu Beginn des 18. Jahrhunderts“ in „Kerygma und Melos“ Kassel 1970 S. 350f). Das wäre gut 150 Jahre nach der Reformation eine ernüchterne Bilanz. Jedenfalls für Salach. Ob es in Niedersachsen und im Braunschweigischen wesentlich anders war?

Das Predigerseminar in Braunschweig, die Goslarsche Marktkirche, die Herzog August Bibliothek, das Niedersächsische Staatsarchiv in Wolfenbüttel sowie die Stadtbibliothek Braunschweig verfügen über eine beträchtliche Gesangbuchbibliothek. Beim Stöbern erhalten wir einen Überblick über die große Anzahl von Gesangbüchern, die im Braunschweiger Land gesammelt, gelesen und gedruckt wurden. Sie nannten sich „Gesangbücher“, tatsächlich aber waren es Liedersammlungen, vergleichbar der Sammlung von Gedichten.

Spuren vom Singen im Braunschweigischen
Es gibt nur wenig Hinweise vom wirklichen Singen in den Gemeinden seit der Reformation. Im Folgenden begeben wir uns auf solche Spurensuche.

Singen vom Flugblatt?
Zunächst wurden evangelische Lieder auf Flugblättern, sog. „Einblattdrucken“ verbreitet. Auf einem Magdeburger Exemplar aus dem Jahre 1524 war das Lied „Es wolle Gott genädig sein“ von Martin Luther abgedruckt (heute EG 280) und die Magdeburger Stadtchronik berichtet, wie solche Zettel auf der Straße verteilt, der Text gelernt und dann vor der Predigt im Meßgottesdienst angestimmt wurde. Inge Mager hat diese Situation in „Lied und Reformation“ (S. 26) beschrieben. Der langjährige Vorsitzende der Lutherischen Liturgischen Konferenz Niedersachsens Joachim Stalmann verglich diese Anfänge des protestantischen Singens mit den „Blütezeiten der APO“ 1971 und ordnete diese Lieder einer „Agit-Prop-Literatur“ zu (Joachim Stalmann „Die Anfänge des evangelischen Gesangbuches und das Gesangbuch der Gegenwart“ in: Ortwin Rudloff „Bremer Gesangbücher Bremer Kirchenlieder-Dichter Protexte 2 Bremen 1981 S. 6).
Klaus Jürgens hält ähnliche Vorgänge wie in Magdeburg auch in Braunschweig für möglich (Jürgens Reformation S. 36). Reisende Kaufleute und wandernde Handwerksgesellen hätten Flugblätter nach Braunschweig gebracht und so Luthers Lieder bekannt gemacht. Auf der Schuhstraße wäre es wegen des Absingens deutscher Lieder zu einer Schlägerei zwischen Pfarrern und Handwerksgesellen gekommen und 1526 hätte in der Martinikirche eine Gruppe von Gottesdienstbesuchern nach der Predigt statt eines lateinischen Marienliedes ein Lutherlied auf deutsch angestimmt. 1527 hätte ein Gottesdienstbesucher den Prediger in der Brüdernkirche unterbrochen, und als jener darauf beharrte, daß der Mensch durch seine guten Werke selig werden könnte, hätte ihm ein Braunschweiger Bürger zugerufen: „Pape, hei löcht“ und das Lutherlied „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ angestimmt, worauf alle Zuhörer miteingestimmt hätten. (Beste S. 17) Selbst wenn solche kurzen, von Ph.J. Rethmeyer geschilderten Szenen mehr legendär als historisch sind, sind sie doch ein Hinweis auf die Rolle des Singens in den Anfängen der Reformationszeit. Die Gilde des Braunschweiger Stadtteils Hagen hatte in ihren Reformvorschlägen von 1528 die Abschaffung der lateinischen Gesänge, Antiphone und Responsorien gefordert, und der Rat der Stadt Braunschweig hatte darauf erwidert, daß er bereits mit den Prädikanten darüber gesprochen hätte, daß der Kirchengesang „christlich, göttlich und ehrlich sein möge“ (Jürgens a.a.O. S. 53). „Sicher kann die Bedeutung des Liedes für die reformatorische Bewegung kaum hoch genug veranschlagt werden“, folgerte Jürgens. (Klaus Jürgens Die Reformation S. 36). Inge Mager spricht in diesem Zusammenhang von einer „reformatorischen Singbewegung“, einer „konfessionellen Revolution“, die die norddeutschen Städte erfaßt habe (Inge Mager „Lied und Reformation“ S. 31) und erinnert zugleich daran, wie diese Singbewegung auf der katholischen Seite tiefe Wunden geschlagen hätte.

Singen aus einer Flugblattsammlung? Das Erfurter Enchiridion in Goslar
Enchiridien sind die Fortsetzung der missionarisch-propagandistischen Flugblätter in leicht gebundener Form. Enchiridion heißt „Handbüchlein“, in Taschenbuchformat würden wir heute sagen. Zusammengebundene Flugblätter, in Taschen leicht unterzubringen, zum Mitnehmen und Weitergeben, „welch ein jeglicher Christ einfach bei sich haben soll und tragen zu steter Übung“, heißt es im Vorwort des Erfurter Enchiridions.
Das in Goslar aufbewahrte Enchiridion stammt aus dem Jahr 1524 und wurde in Erfurt vom Drucker Ludwig Trutebul zum Ferbefaß (so Friedrich Zelle) oder von Loersfeldt (die Hymnologen sind sich nicht einig) gedruckt. In Erfurt gab es noch eine zweite Druckerei, die zu gleicher Zeit ein weiteres Enchiridion mit denselben Liedern druckte. Das Geschäft lief gut, Trutebul druckte noch im selben Jahr eine zweite verbesserte Auflage und vermehrte die Anzahl der Lieder. Wir kennen nicht die Auflagenhöhe.

Trutebul – so Zelle – gab die Druckerei bald auf, studierte Jura in Wittenberg und wurde Syndikus in Goslar. So würde sich erklären, wie das Enchiridion nach Goslar gekommen ist und zwar sehr früh.
Solche flotten Liederhefte in Taschenbuchformat wurden auch noch in Wittenberg, Straßburg, Zwickau, Breslau, Leipzig und anderswo gedruckt. Der Umfang wurde immer größer und aus dem Taschenbuchformat wurde eine Liedersammlung.
Das in Goslar aufbewahrte Enchiridion enthält insgesamt 25 Lieder, davon 18 Lieder von Luther, drei von Speratus, je eines von Elisabeth Creuziger, von Justus Jonas und von Erhard Hegenwalt. Zwölf Lieder sind mit Melodien (*) versehen.
Luther verkaufte sich gut. In der zweiten Auflage waren fünf weitere Lieder von ihm enthalten.
Fast alle Lieder haben den gleichen Wortlaut, den wir aus dem Evangelischen Gesangbuch (EG) her kennen. Aber es gibt interessante Abweichungen. Das Lied „Aus tiefer Not“ (Nr. 17) hat nur vier Strophen, aber im EG (Nr. 299) fünf. Luther hat später die zweite Strophe geteilt und zwei daraus gemacht. Die 2. Strophe im Enchiridion heißt: „Es steht bei deiner Macht allein/ die Sünden zu vergeben/ Daß dich fürcht beide Groß und Klein/ auch in dem besten Leben/ darum auf Gott will hoffen ich/ mein Herz auf ihn soll lassen sich/ ich will seins Worts erharren“.
Andere Lutherlieder sind nicht mehr bekannt, weil sie zu zeitgebunden waren, so das Lied Nr. 25 „Ein neues Lied wir heben an“, dessen Überschrift den Anlaß schildert: „Ein neu Lied von den zwei Märtyrern Christi, zu Brüssel von den Sophisten zu Löwen verbrannt.“ In der niederländischen Stadt Löwen waren zwei junge Mönche am 1. Juli 1523 öffentlich zum Tod auf dem Scheiterhaufen als Ketzer verurteilt worden, weil sie sich der Reformbewegung angeschlossen hatten.

Die Lieder des Erfurter Enchiridions, das in Goslar aufbewahrt wird
Lfd Titel Verfasser EG EKG 1902
1  Dies sind die heilgen zehn Gebot Luther * 231 240 n.v
2  Nun freut euch lieben Christen g´mein Luther 341 239 253
3  Es ist das Heil uns kommen her Speratus * 342 242 243
4  Mitten wir im Leben sind Luther 518 309 505
5  In Not glaub ich, daß er hat Speratus *  n.v. n.v. n.v.
6  Hilf Gott das ist der Menschen Not Speratus n.v. n.v. n.v.
7  Gott sei gelobet und gebenedeiet Luther 214 163 187
8  Gelobet seist du Jesu Christ Luther 23 15 41
9  Das apostolische Glaubensbekenntnis        
10  Herr Christ der einig Gotts Sohn Creutziger * 67 46 n.v.
11  Jesus Christus unser Heiland, der von Luther * 215 154 192
12  Wohl dem der in Gottes Furcht steht Luther n.v. n.v. n.v.
13  Ach Gott vom Himmel sieh darein Luther * 273 177 146
14  Wo Gott der Herr nicht bei uns hält Luther 297 193 n.v.
15  So spricht der Unweisen Mund Luther n.v. n.v. n.v.
16  Es woll uns Gott genädig sein Luther 280 182 153
17  Aus tiefer Not schrei ich zu dir Luther * 299 195 210
18  Erbarm dich mein o Herre Gott Hegenwalt * n.v. n.v. n.v.
19  Christ lag in Todesbanden Luther * 101 76 97
20  Jesus Christus unser Heiland, der den Luther * 102 77 105
21  Nun komm der Heiden Heiland Luther 4 1 n.v.
22  Komm heiliger Geist erfüll mit deiner anonym * 156 124 205
23  Christum wir sollen loben schon Luther * n.v. n.v. n.v.
24  Komm Gott Schöpfer heiliger Geist Luther * 126 97 n.v.
25  Ein neues Lied wir heben an Luther * n.v. n.v. n.v.
26  In Jesu Namen heben wir an Jonas * n.v. n.v. n.v.
Erläuterung: 1902 meint das 1902 entstandene Gesangbuch, EKG= Evangelisches Kirchengesangbuch von 1950; EG = Evangelisches Gesangbuch. n.v.= nicht vorhanden

Das Lied hat 10 Strophen. Luther erklärte die Ketzer für Märtyrer, nennt die Verurteilung Mord und deutet ihren Tod als priesterliches Opfer. „Zwei große Feur sie zünden an/ die Knaben sie herbrachten/ Es nahm groß Wunder jedermann/ dass sie solch Pein verachten/ Mit Freuden sie sich gaben drein// mit Gottes Lob und Singen/ der Mut ward den Sophisten klein/ vor diesen neuen Dingen/ da sich’s Gott ließ so merken“. So ist der protestantische Choral wie manche andere Reformbewegung mit dem gewaltsamen Tod eines Reformanhängers verbunden, was der Glaubwürdigkeit in der öffentlichen Meinung einen großen Schub verleiht. Alle Lieder haben keine Verfasserangabe, nur dieses Lied.
Das Enchiridion in Goslar hat ein interessantes Vorwort. Die Hymnologen vermuten unterschiedliche Verfasser. In ziemlich polemischer Form verurteilt der Verfasser den gottesdienstlichen Gesang als „undeutliches Geschrei“ und Brüllen im Chor von Stiftskirchen und Klöstern. Sie selber verstünden oft nicht, was sie lesen und singen und die christliche Gemeinde auch nicht. Er vergleicht den Gesang mit dem Rufen der Baalspriester zu ihrem Gott, der aber nicht antwortet. Dieser Mißbrauch soll durch die Herausgabe von deutschen Liedern behoben werden, auf dass auch einmal der allgemeine christliche Haufe mit der Zeit möge lernen zu verstehen, „was man handelt unter der Gemein in Singen und Lesen“. Dadurch würde „das Bienengeschwürm in den Tempeln“ ein Ende nehmen.
Es geht um die Reform der katholischen Kirche und zwar an der zentralen Stelle des Gottesdienstes. „Verständlichkeit“ ist eine der Hauptforderungen, und die Beispiele vom „Bienengeschwürm“ und „undeutlichem Geschrei“ sind abgesehen von ihrer polemischen Form Beobachtungen aus der Gemeinde, die nicht teilnehmen kann, weil sie nichts versteht und im Chor offenbar eine Art Theater stattfindet. Der deutsche, bibelbezogene Choral soll die Möglichkeit zum Durchbruch eröffnen, zu einer Mitmachkirche.
Das Enchiridion ist, so heißt es im Titelblatt, besonders für die Erziehung der Jugend gedacht. So erklärt sich auch die Gliederung, die mit den zehn Geboten beginnt, in der Mitte das Glaubensbekenntnis in Prosa abdruckt, und am Ende mit dem heroischen Beispiel des Märtyrertodes der jungen Leute endet. Ansonsten ist es eher eine Loseblattsammlung.
17 Lieder stehen im gegenwärtigen Gesangbuch und standen bereits im Evangelischen Kirchengesangbuch, zwölf in dem von 1902. Das könnte eine bedeutsame Tradition andeuten.

Singen im Gottesdienst in der Stadt Braunschweig nach der Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1528
Diese und alle folgenden Kirchenordnungen waren Zielvorstellungen und keine Zustandsbeschreibungen. Sie stellten fest, wie in Zukunft die Landeskirche im besten Falle geordnet werden könnte.
Als Bugenhagen im Mai 1528 von Wittenberg nach Braunschweig kam und dreimal wöchentlich in der Brüdernkirche predigte, - wie mag es da mit dem Kirchengesang bestellt gewesen sein? Vorher öffentliches Einsingen neuer evangelischer Choräle? In der Stadt Braunschweig lebten damals 18.000 Einwohner. Die Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis und Vaterunser sollen ziemlich unbekannt gewesen sein, nicht nur im Braunschweigischen. Die Brüdernkirche hatte eine Orgel wie auch die Magni-, Martini-, Katharinen-, Andreaskirche und der Dom. Aber die Orgel wurde nicht als Begleitinstrument für den Gemeindegesang benutzt.

Bugenhagen, der Pfarrer an der Stadtkirche in Wittenberg war, brachte aus Wittenberg gewiß jene mehrstimmige Liedsammlung mit, bestehend aus 32 deutschen und fünf lateinischen Liedern, eine im Jahre 1524 gedruckte Gemeinschaftsarbeit von Kantor Johann Walther und Martin Luther. 24 Lieder stammten von Luther, darunter sechs Psalmlieder „Aus tiefer Not“ u.a., drei Weihnachtslieder z.B. „Gelobet seist du Jesu Christ“, zwei Osterlieder, drei Pfingstlieder, zwei Trinitatislieder und andere, außerdem von Paul Speratus „Es ist das Heil uns kommen her“ und von Elisabeth Creutziger „Herr Christ der einig Gottes Sohn“.
Davon stehen im heutigen EG folgende 20 Lieder: 4/ 23/ 67/ 101/ 102/ 124/ 125/ 126/ 138/ 183/ 214/ 215/ 231/ 273/ 280/ 299/ 341/ 342/ 518/ 519.

Deutliche Spuren, wie gesungen werden sollte, finden sich in den Gottesdienstordnungen, die ein wichtiger Bestandteil jeder Kirchenordnung war. Die entscheidende Änderung des neuen reformatorischen Gottesdienstordnung war, daß der Gottesdienst nicht mehr wie in der römischen Messe ein Gottesdienst des Priesters und Chores vor dem Volk war, sondern ein Gottesdienst des Pfarreres und des Chores mit dem Volk. Dazu war es zwingend nötig, daß weitgehend die lateinische Sprache durch die deutsche Sprache ersetzt werden mußte. Gebete, Lesungen und die Abendmahlsworte wurden laut und vernehmlich zur Gemeinde hin gesprochen. Das bedeutete zugleich eine beträchtliche Entmystifizierung, obwohl Mystifizierung durchaus beliebt war. Von der anderen inhaltlichen Änderung, daß das Abendmahl nicht mehr als Opferhandlung des Priesters verstanden wurde, blieb die damalige Gottesdienstgemeinde ziemlich unberührt, nicht aber davon, daß sie beim Abendmahl außer einer Oblate auch Wein erhielt. Das teilnehmende Volk sollte also am Gottesdienst mit beteiligt werden, und das ging am leichtesten durch das Singen. Andrerseits wünschten Luther und Bugenhagen, möglichst wenig am Gottesdienst zu ändern. Der Pastor trug Messgewänder, die Lesungen und Gebete waren dieselben, der Schülerchor sang nach wie vor und konnte der Gemeinde das Singen auch abnehmen.

Bugenhagen legte im September 1528 eine sog. Kirchenordnung vor, die aber aber nach Gliederung, Stil und Inhalt keine „Ordnung“ im geläufigen Wortsinn war, sondern sie enthielt Reformvorschläge für die Schule (21 Seiten), Pfarrdienst, Superintendenten, Küster (26 Seiten), von den Schülern in der Kirche (7 Seiten), von der Messe (40 Seiten), von den Altären in den Kirchen (6 Seiten), Wirtschaftsfragen, Kasten – und Schatzordnung (6 Seiten). Da die Schule nach Bugenhagen eine Fortwirkung der Taufe und des Taufbefehls war, bestand der Abschnitt über die Schule aus einem Teil über die Taufe (10 Seiten) und dann erst über die Schulen. Uns interessiert, was wir über die Lieder im Gottesdienst erfahren. Sechs mal wird in der Ordnung der Messe („ordeninge der misse“) ein „düdesch led“ oder ein „düdesch psalm“ erwähnt, aber das waren keine Gemeindelieder, wie wir sie kennen. Das Gemeindelied hat in der Gottesdienstordnung von Bugenhagen keine tragende Bedeutung. Den Gesang bestimmte wie bisher der Schülerchor. Dieser sang zu Beginn einen deutschen Psalm, zwischen Epistel und Evangelium eine deutsche Evangeliumsmotette, danach sog. „Sequenzen“ und zwar gemischt lateinisch/ deutsch. In der Weihnachtszeit folgte nach dem lateinischen Vers das Lied „Gelobet seist du Jesu Christ“ (EG23), in der Osterzeit „Christ lag in Todesbanden“ (EG 101) und in der Pfingstzeit „Nun bitten wir den heiligen Geist“ (EG 124). Nach der Predigt, wenn der Pfarrer von der Kanzel stieg „singet me eynen düdeschen psalm edder led“, beim Abendmahl „singet dat chör eyn latinisch Sanctus“.
Das Volk, also die Gemeinde, sang lediglich zweimal und zwar das Glaubensbekenntnis „Wir glauben all an einen Gott“. Das war nichts besonderes. Schon seit 100 Jahren, seit 1417 gab es ein gesungenes deutsches Glaubensbekenntnis, das Luther als Vorlage für sein Lied benutzt hatte (WA 35 S. 172 f). Da Bugenhagen möglichst wenig gerade beim Gottesdienst ändern wollte, griff er hierbei auch auf eine gottesdienstliche Sitte im katholischen Gottesdienst zurück und ließ nach den Lesungen wie bisher das Glaubensbekenntnis singen, diesmal in der Lutherschen Fassung. Beim Abendmahl stand die Gemeinde im Chorraum, bekam erst das Brot, dazu wurden je nach Bedarf ein oder zwei Lieder gesungen. Bugenhagen nannte auch zwei Lieder, das Osterlied „Jesus Christus unser Heiland“ (EG 102) und „Gott sei gelobet und gebeneiet“ (EG 214), danach wurde der Wein gereicht und wenn alle kommuniziert hatten, begann sogleich das „Christe du Lamm Gottes“ und zwar nicht als Lied sondern in der uns aus der Liturgie gewohnten Weise (EG 190.2).
Ansonsten hatte die Gemeinde im sonntägliche Hauptgottesdienst zu schweigen. Vier oder fünf selbständige Choräle von der ganzen Gemeinde gesungen, wie wir das heute vom Gottesdienst gewohnt sind, gab es in der Reformationszeit nicht.

In der Braunschweiger Gottesdienstordnung von Bugenhagen gab es für die Gemeinde allerdings bei den sonntäglichen Nachmittagsgottesdiensten, also in der Vesper, Gelegenheit zum Mitsingen. Da könnten wohl „düdesche hymnos“ gesungen werden, meinte Bugenhagen und schränkte ein: „wen de leyen dar synt unde willen mitsingen“ (Sehling S. 442).
Die täglichen Schülergottesdienste am Vormittag und am Nachmittag dagegen, von denen Bugenhagen unter der Überschrift „Vam singene und lesende der scholekynderen in der kerken“ schrieb (Sehling S. 399), waren vor allem zur Übung der Schüler gedacht. Daher wurde sehr viel lateinisch gesungen und gebetet. Allerdings machte sich Bugenhagen Gedanken, ob die lateinischen Gesänge die deutschen nicht zurückdrängen würden, aber er vermutete: „Sulke latinische gesenge werden den leyen öre düdesche gesenge nicht verhinderen“, vor allem, wenn die Gemeinde von der Predigt nicht viel mitbekommen hätte, dann „se werden doch sus genöch düdesch to singen krigen“. Nach der Predigt „schal me wedder eyn düdesch let singen“, nämlich der Schülerchor. Dann verließ in der Regel die Gemeinde den Nachmittagsgottesdienst („Darmede geyt da meyste volk wech“) und ließ den Schülerchor den Vespergottesdienst allein beenden.

Zu den Anfängen des Gemeindesingens stellt jetzt erfreulich nüchtern Hans Otto Korth in seinem Artikel „Der deutsche evangelische Gemeindegesang“ fest, bei Luther bleibe die Funktion des Gemeindegesangs oft ungenannt und dürfe nicht einfach stillschweigend vorausgesetzt werden wie es häufig geschehe (in Musik in Geschichte und Gegenwart Bd 3 1995 Artikel Gemeindegesang Sp. 1162 ff.). Bugenhagen hatte schon Erfahrungen mit dem Umsetzen in Wittenberg machen können. Martin Luther hatte ab Weihnachten 1525 in Wittenberg eine „Deutsche Messe“ gefeiert und die Ordnung veröffentlicht, aber schon im Advent 1526 klagte er über die mangelnde Anziehungskraft und den nach seiner Meinung schlechten Gottesdienstbesuch. Luther wollte einen Beteiligungsgottesdienst, aber die Gemeinde säße da wie Klötze. Auch die neuen Lieder bürgerten sich nur zögernd im Gottesdienst ein und keineswegs so, wie der reißende Absatz der Liedflugblätter auf der Straße Jahre zuvor vermuten ließe (Brecht S. 252). Mit diesen nicht gerade berauschenden Erfahrungen war Johannes Bugenhagen zur Osterzeit 1528 nach Braunschweig gekommen.

Zusammenfassend: die „Kirchenordnung“ Bugenhagens von 1528 kannte noch nicht den mehrmaligen Gemeindechoral als Lob und Anbetung, sondern der Gemeindegesang wurde vor allem von dem Kantor und seinem Schülerchor vollführt. Es waren aber deutsche Lieder und deutsch vertonte Psalmen bekannt und wurden vom Schülerchor in den Haupt- und Nebengottesdiensten gesungen. An dieser Ordnung wird in den folgenden Jahrzehnten auch festgehalten worden sein.

Noch kein„Allein Gott in der Höh sei Ehr“
Es fällt auf, daß Bugenhagen in seiner Gottesdienstordnung nicht das Lied „Allein Gott in der Höh sei Ehre“ erwähnte. Nicolaus Decius, 1519-1521 Propst im Chorfrauenstift Steterburg und danach Lehrer in der Stadt Braunschweig, verdeutschte dort das lateinische „Gloria in excelsis Deo“ aus der Eingangsliturgie der römischen Messe zum Lied „Allein Gott in der Höh sei Ehr.“ Die lateinischen liturgischen Texte wurden als Lieder in deutscher Sprache verlangt. Decius vertonte auch noch das „Agnus Dei“ aus der Abendmahlsliturgie zu „O Lamm Gottes unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet“. Beide Lieder, die auch im heutigen Evangelischen Gesangbuch stehen (EG 179 und 190,1), wurden in kleinen Liedersammlungen erst 1531 in Rostock, 1534 in Magdeburg und 1539 in Leipzig und dann immer wieder gedruckt. Von Decius stammt auch eine Verdeutschung des Sanctus „Heilig ist Gott der Vater“. Das Glorialied von Decius wurde erst in der Kirchenordnung von Herzog Julius erwähnt.

Übergänge
Die Gesangbuchforschung erinnert daran, daß die Verdeutschung von Liedern nicht erst mit der Reformation begann. Es gab weit vor der Reformation sogar im Rahmen der lateinischen Messe z.B. seit Anfang des 14. Jahrhunderts ein eingedeutschtes Glaubensbekenntnis „Wir glauben in einen Gott“ oder das Marienlied „Wir sollen uns alle freuen“. Nach einer volkssprachlichen Predigt wurde „Nun bitten wir den Heiligen Geist gesungen“ (so bereits im 13. Jahrhundert). „Gelobet seist du Jesu Christ“, „Mitten wir im Leben sind“, „Der Tag der ist so freudenreich“, „Ein Kind geboren zu Bethlehem“, „Nun sei uns willkommen Herre Christ“, „Christ ist erstanden“, „O Mutter der Barmherzigkeit“ waren deutsche Choräle aus dem vorreformatorischen Jahrhundert. Das Lied „in dulci jubilo“ gehörte zu den lateinisch-deutschen Mischgesängen. Johannes Janota folgert aus dem Befund: „Daher führt von den Gemeindeliedern des Mittelalters ein unmittelbarer Weg zum reformatorischen und nachreformatorischen Kirchenlied“ (MGG Bd V. Sachteil Sp. 64).
Wie weit solche deutschen Lieder auch im Braunschweigischen verbreitet waren, ist noch nicht erforscht.
Für den Bereich unserer Landeskirche gab es aber in der Predigt- und Andachtliteratur bereits Veröffentlichungen vor 1569. Der Predigtband von Peter Ulner, dem katholischen Hofprediger von Heinrich d. J., und später zum evangelischen Glauben konvertiert und Mitvisitator 1569, gehört zu diesen beachtenswerten Vorformen protestantischer Frömmigkeit, auf die Inge Mager aufmerksam gemacht hat. Ein Predigtband (Postille) von Ulner wurde auch nach 1569 auf den Dörfern viel benutzt und befand sich unter den Büchern der Pfarrer um Liebenburg und Lutter a.B. (siehe Wolters Pastoren Büchereien 1572). In diese Reihe vorreformatorischer Frömmigkeit gehörte auch das 1566 in Wolfenbüttel gedruckte Andachtsbuch des Hofjuristen Joachim v. Mynsinger „Ein Christlichs und gar schönes Bethbüchlein, voller Gottseliger betrachtungen und Gebeten, für allerley gemeine und sonderliche nöten und anliegen, zur bewegung der andacht. Aller guthhertzigen frommen Christen zu trost und nutz aus warem Christlichem eiffer zusammen getragen,..Durch Joachim Minsinger von Frundeck, der Rechten Doctor“ etc. Es ist eine Gebetssammlung von verschiedenen evangelischen wie katholischen Verfassern. Paul Althaus d.Ä. hat es in seiner Studie über das Andachtsbuch auf seine verschiedenen Quellen hin analysiert.
Es wäre also auch beim Singen zu fragen, was in den katholischen Gottesdiensten seinerzeit von der Gemeinde gesungen worden ist. Dazu gehören gewiß Marienlieder, und auch der liturgische Bittruf „ora pro nobis“ bei der Anrufung der Heiligen. Wieweit in der vorreformatorischen innerkatholischen Reformbewegung es auch zu einer Reform des Kirchenliedes gekommen ist, bedarf noch der näheren Erforschung. Aber es ist für unser Thema wichtig, diese Frage weiter zu behalten.

Singen in den Gottesdiensten auf den Dörfern und in den Städten des Landes nach der Kirchenordnung von Herzog Julius 1569
Die Stadt Braunschweig hatte eine eigene politische und kirchliche Ordnung und wurde vom Bürgermeister und dem Rat regiert. Das Land Braunschweig hingegen wurde von der Festung Wolfenbüttel aus vom Herzog regiert. Erst 40 Jahre nach Beginn der „Reformation von Unten“ in der Stadt Braunschweig wurde durch Herzog Julius im Land Braunschweig 1569 die „Reformation von Oben“ vollstreckt. Im Herzogtum Braunschweig lebten damals 72.000 Einwohner, davon 10.000 in den Städten und 62.000 Einwohner auf dem Lande. Diese wurden nicht über Nacht evangelisch. Es war keine Reformation der Herzen sondern ein Regierungsakt.
Die Kirchenordnung sollte eine Rechtsgrundlage für die neue Landes-Kirche schaffen, aber der Herzog Julius erklärte schon in der Einleitung, daß er nichts grundsätzlich Neues schaffen wollte. Seine Kirchenordnung war viel zu lang, um vollständig zur Kenntnis genommen zu werden. Es waren in der neuen Druckausgabe aus dem Jahre 1955 fast 200 zweispaltige Seiten. Sie nannten Zielvorstellungen, die von vorneherein nicht erreichbar waren und deshalb destruktiv wirkten. Sie hatte einen ausgiebigen dogmatischen Teil von Martin Chemnitz (48 Seiten), der der Mehrzahl der Pfarrer unverständlich und für die pfarramtliche Praxis auch unbrauchbar war. Das wichtige Problem der Zuordnung des Herzogs zur neugebildeten Kirchenbehörde wurde nicht erörtert. Herzog Julius stand über der Kirchenordnung. Für den Teil, der die Gottesdienste regelte, hätte eine Weiterentwicklung der Braunschweigischen Kirchenordnung von Bugenhagen erwartet werden können.
Die Kirchenordnung von Herzog Julius von 1569 unterschied zwischen Gottesdiensten in den Städten (also Helmstedt, Schöningen, Schöppenstedt, Königslutter, Seesen, Holzminden) und auf den Dörfern („Von der meß oder communion“ Sehling S. 142). Der sonntägliche Gottesdienst in den Städten wurde noch stärker als in der Stadt Braunschweig vom Pfarrer, dem Lehrer und dem Schulchor getragen. Lediglich einmal, nämlich zwischen den Lesungen von Epistel und Evangelium konnte die Gemeinde mit dem Schulchor „auß Luthers gesangbuch“ einen deutschen Psalm mitsingen, aber mehr aus pädagogischen Gründen, damit auch sie „ihr gottselige ubung haben möchte.“ Das erwähnte Lutherische Gesangbuch war das sog. Babstsche Gesangbuch, in Leipzig 1545 von Valentin Babst verlegt. Es hatte 133 Lieder. Dieses Gesangbuch sollten sich offenbar die Kirchengemeinden in den Städten anschaffen. Alle anderen Stücke wie den Eingangspsalm, das Kyrie, Gloria, Glaubenslied, die Lieder vor der Predigt und während des Abendmahls und sogar das Schlußlied „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“ und „Verleih uns Frieden“ wurden vom Lehrer mit dem Schulchor gesungen. Manche Gesänge konnten auch lateinisch vorgetragen werden, „damit die schüler auch im lateinischen gesang geübet“ werden. Anstelle des Glaubensliedes konnte der Pfarrer auch das nicänische Glaubensbekenntnis auf lateinisch sprechen, das an dieser Stelle der Agende abgedruckt war. Die Kirchenordnung nannte als Lieder, die der Schulchor je nach Kirchenjahreszeit vor der Predigt singen konnte, „Nun bitten wir den heilgen Geist“, zu Weihnachten „Ein Kindelein so löbelich“ und zu Ostern „Christ ist erstanden“ und während der Austeilung des Abendmahls „Jesus Christus, unser Heiland“, „Gott sei gelobet und gebenedeiet“, „Sanctus“, „Agnus Dei“, „Jesaja dem Propheten das geschah“ oder „O Lamm Gottes unschüldig“.
Es gab auch Frühgottesdienste, die schon um fünf Uhr beginnen sollten und mehr als eine Stunde dauerten. Sie waren mehr für die Schüler gedacht. Vor der Predigt konnte ein deutscher Psalm aus Luthers Gesangbuch und nach der Predigt „soll durch das volk die heiligen zehn gebott oder das Vaterunser etc. gesungen werden“, damit waren Luthers „Dies sind die Heilgen Zehn Gebot“ und „Vaterunser im Himmelreich“ gemeint.
Aus der Stadt Braunschweig war offensichtlich kein musikalischer Funke auf die Städte des Landes übergesprungen, der belebend auf das Singen in den Gemeinden eingewirkt hätte. Da diese Kirchenordnung unter anderem auch vom Braunschweiger Stadtsuperintendenten Martin Chemnitz entworfen worden war, ist die Schlußfolgerung vielleicht nicht ganz falsch, daß sich auch in der Stadt Braunschweig seit Bugenhagen das Singen im Gottesdienst nicht weiterentwickelt hatte.

Auch auf den Dörfern sangen der Pastor und der Küster vor allem alleine und zwar zu Beginn einen deutschen Psalm, als Glorialied „Allein Gott in der Höh sei Ehr,“ nach der Epistel ein deutsches Psalmlied und während des Abendmahls „Jesus Christus unser Heiland“ oder bei vielen Abendmahlsgästen „Gott sei gelobet“,, „O Lamm Gottes unschüldig“ und als Schlußlied „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“ und „Verleih uns Frieden.“ Nach dem Evangelium sollte jedoch „die ganze kirche“ das „Wir glauben all an einen Gott“ mitsingen. Das bedeutete, daß auch bei den Gottesdiensten in den Dörferen die Gemeinde nur ein einziges Lied und zwar das Glaubenslied mitsingen durfte. Es ist auffällig, daß das bekannte Glorialied von Decius „Allein Gott in der Höh sein Ehr“ für den Gottesdienst in den Städten nicht genannt wurde. Offenbar galt der auf lateinisch gesungene Wechselgesang als gehobener und wertvoller.

Zusammenfassend: Der Gottesdienst wurde wie schon bei Bugenhagen 1528 vom Pfarrer, vom Lehrer und vielleicht von dessen Schülern getragen. Die deutschen Choräle waren vor allem auf die Liturgie bezogen (Ehre sei Gott in der Höhe, Glaubensbekenntnis, während des Abendmahls). Die Kirchenordnung nannte eine Anzahl von deutschen Chorälen, die auf lange Sicht zum Lernpensum von Pfarrer, Lehrer und städtischem Schulchor gehörten.
Aber es wäre unrealistisch, von der veröffentlichten Gottesdienstordnung auf das tatsächliche gottesdienstliche Leben und das Singen zu schließen.

Singen in den Gottesdiensten am Wolfenbüttler Hof
Von den Gottesdiensten in der Stadt Braunschweig und in den Städten und Dörfern des Landes ist der Gottesdienst am Hofe in Wolfenbüttel zu unterscheiden. Der Gottesdienst diente dort nicht nur dem Lobpreis Gottes sondern auch der repräsentativen Darstellung des Hofes unter Herzog Julius (gest. 1589) und besonders unter dessen Nachfolger Heinrich Julius (gest. 1613). Herzog Julius holte 1584 Thomas Mancius (1552-1611) als Hofkapellmeister an den Wolfenbütteler Hof. Dieser ließ beim fürstlichen Buchdrucker Elias Holwein die „Musica Divina“ drucken (HAB Tl 190 a). Es war ein Agendenwerk, das aus Chorälen, Gebeten und den an allen Sonn- und Festtagen zu singenden Episteln und Evangelien bestand und vor allem für Pfarrer und Kantoren bestimmt war. Martin Wandersleb schrieb dazu: „Freilich war es vornehmlich für die Hand des Pastors, des Kantors und des Chores bestimmt, kaum aber für die gottesdienstliche Gemeinde, da im Gottesdienst die (wenigen) Lieder auswendig gesungen wurden.“ (Katalog der von M. Wandersleb besorgten Ausstellung „Erbe und Auftrag der Reformation“ 1968 im Braunschweiger Städtischen Museum anläßlich der 400 Jahrfeier der Landeskirche S. 61). Der Liedteil enthielt 112 Lieder, geordnet nach dem Kirchenjahr. Einer zweiten Auflage von 1620 (die erste stammte aus dem Jahr 1602) waren im Zusammenarbeit mit dem Konsistorium einige „geistreiche Gesänge“ und Psalmmelodien beigefügt, „daß man in der christlichen Versammlung desto baß mitsingen könne“. Der Buchdrucker empfahl das Notenbuch den Landständen, die es offenbar nach unten weiterreichen sollten, denn das Notenbuch enthielt auch den Kleinen Katechismus und einige einfache Gebete „für die Jugend gedruckt“. Inge Mager bemerkt dazu: „In den offiziellen Wolfenbüttelschen Gottesdiensten der damaligen Zeit wurde allgemein die Divina Musica von 1620 gebraucht.“ (Mager Die Rezeption S. 128.)
Nachfolger von Thomas Mancius am Wolfenbüttler Hof wurde Michael Prätorius, der bis zu seinem Tode 1621 als Hofkapellmeister in Wolfenbüttel wirkte. Er wurde von Herzog Heinrich Julius stark gefördert und baute in Wolfenbüttel eine überregional weithin bekannte Hofkapelle aus. Er ist der Komponist des Weihnachtsliedes „Es ist ein Ros entsprungen“. Prätorius veröffentlichte das mehrbändige Chorwerk „Musae Sionis“, das 1000 Kirchenliedsätze für zwei bis zwanzig Stimmen umfaßte.
Wie sehr aber diese Chorwerke auf den Kirchengesang in den Kirchengemeinden des Landes ausstrahlte, ist noch nicht erforscht.

Musik an St. Stephani in Helmstedt
Ein anderer musikalischer Glanzpunkt neben dem Wolfenbüttler Hof war die Helmstedter Universität und die Stephanikirche in Helmstedt, bis 1704 Universitätskirche und Ort von opulenten Dank-, Fest- und Gedenkgottesdiensten. 1584 hatte sie eine große Orgel erhalten. Der Kirchenmusiker Günter Kruse, dort Anfang der 50er Jahre Organist, rettete vom Boden der Stephanikirche einen Bestand von 36 alten Notendrucken und 1400 Notenabschriften und ließ sie in einem Holzschrank auf dem Flur des Gemeindehauses aufbewahren. Später wurden sie an die Herzog August Bibliothek verkauft und vom Erlös die Orgel renoviert. Die Inventarverzeichnisse von 1585, 1632 und 1637 belegen die Notenschätze mit Kompositionen von Michael Prätorius, Johann Hermann Schein, Samuel Scheidt, Heinrich Schütz, und es gab vom Dresdner Hofkapellmeister Wolfgang Carl Briegel einen vollständigen Kantatenjahrgang für jeden Sonntag, und für die einfachen liturgischen Gesänge des Schulchores von Bartholomäus Gesius „Geistliche Deutsche Lieder“ aus dem Jahre 1601. An der Helmstedter Universität befanden sich 1637 immerhin 600 eingeschriebene Studenten und es soll sogar ein Fach „Musik“ gegeben haben. Musik gehörte zu den sieben „Künsten“. Günter Kruse hat mit engagierten Musikern und der Bachkantorei aus diesen Noten Aufführungen veranstaltet. Danilea Garbe hat in einem 1998 erschienenen zweibändigen Werk „Das Musikalienrepertoire von St. Stephani“ den gesamten Bestand publiziert und erläutert. Es wird wohl ähnlich gewesen sein wie am Wolfenbüttler Hof: Rückschlüsse auf den Gemeindegesang in den Helmstedter Kirchen und auf Kenntnisse von evangelischen Chorälen in der ländlichen Umgebung dürfen wir nicht anstellen.

Die veränderten Bedingungen im Gottesdienst
Die besten Kirchenordnungen nutzten nichts, wenn sie nicht auch im Alltag der Kirchengemeinde umgesetzt wurden. Aber der Alltag hatte sich in der Kirchengemeinde geändert.
Für die Umsetzung der vielen gutgemeinten Kirchenordnungen und der darin enthaltenen Ratschläge für das Singen in der Gemeinde war zunächst der Pfarrer vor Ort zuständig. Aber die Voraussetzungen, einige protestantische Choräle zu lernen, waren auf dem Lande ausgesprochen schlecht. Die Kirchenordnung von Julius zählt namentlich 304 Pfarrstellen auf. Bei der Visitation der Landeskirche im Jahr 1569/70 wurden 291 Pfarrstellen gezählt, ein geringfügige Abweichung. Von diesen waren 59 Pfarrstellen unbesetzt, 77 Pfarrer wurden für dienstuntauglich gehalten, 24 aus Altersgründen oder disziplinarischen Gründen versetzt. Es sollen dem Visitationsprotokoll nach nur 26 für die Übernahme eines Pfarramtes als geeignet bezeichnet worden sein. Damit war eine ganze Pfarrergeneration für den Gemeindeaufbau und für die Erneuerung einer Gemeinde durch Singen ausgefallen. Die Wolfenbüttler Kirchenleitung konnte diese Lage nur dadurch geringfügig ändern, dass sie willige Männer ohne ein ordentliches Studium im Konsistorium prüfte und dann in die Gemeinden schickte. „Noch lange sollte sich die ländliche Geistlichkeit mit einer schnell und nicht selten nur im Privatunterricht zusammengerafften theologischen Bildung begnügen müssen“, stellte Schmid in seiner Arbeit über die Dörfer südlich von Vorsfelde fest (Schmid S. 579). Die Prüfung bestand aus 75 - 150 Fragen zur Bibel, zum Schriftverständnis und zu dogmatischen Fragen (siehe Ortsakte Volksmarsdorf 82/2 9 S. 232 ff und 2651 ff). Fragen nach Liedern und Melodien und der Singefähigkeit kamen nicht vor. Es ging darum, den Kandidaten auf seine Rechtgläubigkeit zu prüfen. Von diesem Pfarrerstand war ein Impuls für neues Singen mit neuen Liedern nicht zu erwarten.
Die Gemeinden mußten sich nicht nur an neue Pfarrer gewöhnen, sondern die Gemeindemitglieder hatten sich auch an eine völlig andere, für sie wenig attraktive Art des Gottesdienstbesuches zu gewöhnen. Bisher nahmen sie für kürzere oder längere Zeit für einen beliebigen Augenblick an der Messe teil und gingen wieder, wann sie wollten. Das genügte für die Seligkeit, jedenfalls für die Erfüllung der Sonntagspflicht. Sie waren mehr empfangende Zuschauer. Jetzt forderte der Pfarrer die Teilnahme am Gottesdienst von Anfang bis Ende, dazu das Anhören einer langen Predigt und von anhaltenden Ermahnungen, was nunmehr zu glauben wäre und was nicht. Nun sollten sie Mitwirkende sein, z.B. durch das Singen von liturgischen Stücken. Sie waren nicht gefragt worden, ob sie überhaupt mitmachen und mitwirken wollten. Diese neue Rolle konnte leicht auch als Überforderung empfunden werden.
Die Frommen mußten sich auch an einen neuen Raum gewöhnen. Die ihnen vertrauten Nebenaltäre und Heiligenstatuen, an denen sie ihre privaten Gebete und Andachten verrichteten, waren ausgeräumt. Für solche stillen Andachten, das stille Lob, den stillen Seufzer fehlten die Bilder und Anlaufstellen. Der Gottesdienst war nunmehr ausschließlich auf ein Gemeinschaftserlebnis, auf die Gemeinde ausgerichtet.
Es war plötzlich viel Platz in der Kirche, die ohne Bänke schon bisher viel Raum geboten hatte. Die Akustik hatte sich verändert. Diese Veränderungen hatten sich nicht aus dem Gemeindeleben ergeben, sondern waren die Folge eines von außen kommandierten Konfessionswechsels. Das alles waren keine guten Voraussetzungen für ein frisches, neues Singen in den vielen Dorfgemeinden.

Die Klagen der Pfarrer über den schlechten Gottesdienstbesuch sind von Ausnahmen abgesehen allgemein, und zwar am Sonntag Vormittag, wie auch am Sonntag Nachmittag zu den Katechismuspredigten und am Wochentag besonders. Wenn die Gemeinde zum Gottesdienst nicht kommt, kann sie keine Choräle lernen.

Vom Singen in den Visitationsprotokollen
Im Abstand von einigen Jahren besuchte ein Superintendent die Gemeinde und manche ließen dazu alle Bewohner in die Kirche kommen und verschafften sich einen Überblick über den Wissensstand der Gemeindemitglieder, Alten wie Jungen. 1571 wurden in der Inspektion Liebenburg in 24 Dörfern mehr als 616 Gemeindemitglieder abgefragt und zwar die zehn Gebote, manchmal mit Erklärung, Vaterunser und was Gott und die Taufe wäre. (JNKg 1940) Sie beteten auch etwas vor, einen Morgensegen oder ein Abendgebet. Die Antworten wurden protokolliert, auch die originellen: was die Taufe sei: Antwort: „Das lautet seltsam. Ich bin ein Laie, kein Doktor.“ „Was Gott sei: „soll ich das wissen? Das muß ich erst lernen“. Es wurde auch vermerkt, wenn Kinder lesen und schreiben konnten, weil es so selten war. Bei dieser Gelegenheit wurden die Kinder, die etwas konnten, zur Einsegnung empfohlen, die zur Abendmahlsbeteiligung berechtigte. Auffälligerweise wurde nach keinem Lied oder einer Liedstrophe gefragt. Die Frage nach einer Choralstrophe hätte etwas evangelisches Profil in die Visitation bringen können, denn die Kenntnisse von den Zehn Geboten, dem Vaterunser, von Taufe und wer Gott sei, sind ja nun auch dem katholischen Glauben nur allzu bekannt. Offenbar fehlte es aber an solchen grundlegenden Kenntnissen.
Der Visitator von 1596 aus der Inspektion Seesen zählt seine 14 den Küstern und Olderleut gestellten Fragen auf. Sie betreffen das Verhalten des Pfarrers, den Schmuck des Altars, die Einhaltung des Kirchenjahres, es gibt keine Frage, die den Kirchengesang oder die Kenntnis von Chorälen betreffen. Die 13 Fragen an den Pfarrer beziehen sich auf Beichte, Katechismusunterricht, Klingelbeutel, Sitte im Dorf. Es gibt keine Fragen zum Kirchengesang und zu Liederkenntnissen. (JNKG 1939 S. 84 f)
Die Visitationspraxis hatte sich bis zum Jahrhundertende nicht geändert und ein Erwachen in Sachen Kirchenlied hatte auf dem Lande offenbar auch nicht stattgefunden.

Bei der Visitation wurden auch die in der Kirche benutzten Bücher und sogar der private Bücherschrank des Pfarrers besichtigt. Bei der Visitation im Amt Seesen stellte der Visitator 1572 fest, daß in den Kirchen in Malum, Ortshausen, Jertze und Bornum, in Astfeld, Bornemhausen und Mechtshausen, Heerhausen und Engla keine Bibeln vorhanden waren. (S. 68 f). Aber das waren Ausnahmen. Die Pfarrer besaßen biblische Kommentare, den Katechismus, Kirchenväterliteratur, und einen bereits in katholischer Zeit beliebten Predigtband zum Vorlesen. Bei einem Pfarrer heißt es sogar, er habe eine Erklärung zu „Erhalt uns Herr bei deinem Wort.“ Das Vorhandensein eines Gesangbuches, bzw. einer der bekannten Liedersammlungen ist dagegen nirgends registriert.
Diese wenigen Beobachtungen aus dem kirchlichen Alltag von damals deuten darauf hin, daß im Gottesdienst keine Choräle gesungen wurden und daß auch keine der evangelischen Liedersammlungen oder Gesangbücher im Umlauf waren.

Es fällt bei diesem Tatbestand auf, wenn in den Visitationsakten gelegentlich Hinweise auf Musik auftauchen. Ein Pfarrer, der früher katholisch war (Kl. Flöthe) betonte, daß er „des Sonntags die Predigt von dem Evangelium neben christlichen Gesängen gehabt habe“ (S. 166); ein anderer ehemaliger Klosterbruder beteuerte, er hielte sich mit dem Gebet und den Kirchengesängen an die Kirchenordnung (S. 173). Das ist nur ein Hinweis, daß der in der Kirchenordnung enthaltene musikalische Teil der Gottesdienstordnung vom Pfarrer eingehalten wurde. Vom Pfarrer in Gr. Flöthe aber hieß es: „er lehrne die Menne auch mit singen“. (S. 163). Von den Kindern in Ringelheim wird vermerkt, sie könnten „mit Hilfe“ singen (S. 187) und vom Opfermann in Bockenem heißt es zustimmend „er singet wohl“ (S. 199). Wer von den Geistlichen also musikalisch war und Lust auf gemeinsames Singen hatte, der sang auch mit seiner Gemeinde. Das werden vor allem die liturgischen Antworten der Gemeinde gewesen sein, also „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ und „Wir glauben all an einen Gott“, wie es die Kirchenordnung auch vorsah. Aber diese Bemerkungen sind die Ausnahme.
Die späteren Visitationsakten, die der Generalissimus und Oberhofprediger Joachim Lütkemann anlegte, sagen nichts über den Kirchengesang oder die Kirchenmusik in den damaligen Kirchengemeinden auf dem Lande aus.

Aus den Visitationsakten geht hervor, daß oftmals die Jungen in ihren Kenntnisse besser waren als die Älteren, die sich nicht mehr umstellen konnten und wollten. Die Reformation war also auch eine Generationsfrage. Mit seinen Schülern mochte ein sangesfreudiger Opfermann im Gottesdienst singen, was sie konnten. Die Gemeinde sang schlecht und recht mit, was sie gerade beim Hören aufgeschnappt hatten. Aber das war selbst in den Städten oft etwas Verkehrtes.

Die Rolle des Lehrers war für den Gemeindegesang am Ort grundlegend. Daher ein Blick auf die damalige Schulsituation.

Schule und Kirche auf dem Lande
Herzog Julius hatte in seiner Kirchenordnung von 1569 eine sehr ausführliche, 16 zwei Spalten lange Schulordnung veröffentlicht (Sehling S. 225-240). Danach sollten in allen Dörfern und „Flecken“ des Herzogtums, wo eine Küsterei bestand, eine deutsche Schule eingerichtet werden (S. 226). Der Küster sollte die Dorfkinder im Lesen, Schreiben und Psalmen singen unterrichten. Daneben aber sollte auch in den Dörfern und Flecken je nach Möglichkeit ein ein bis fünfklassiges Schulsystem eingerichtet werden, wobei schon in der zweiten Lernstufe mit lateinischer Grammatik begonnen werden sollte. Der Unterricht sollte drei Stunden vormittags und drei Stunden nachmittags lang dauern. Die Schulordnung warnte wiederholt vor Überforderung der Kinder. In den Schulstatuten, die in den Schulen ausgehängt und alle Vierteljahr verlesen werden sollten, hieß es, daß alle Knaben gottesfürchtig, fromm und züchtig und fleißig in die Schule gehen sollen. Sie sollen während des Unterrichts und in den Kirchen „still sein und nicht schwatzen, in und außerhalb der Schulen nicht deudsch sondern lateinisch miteinander reden“ (Sehling S. 238). Diese Schulordnung hatte keinen Bezug zur Wirklichkeit auf den Dörfern im Braunschweigischen. Sie war für den süddeutschen Raum geschrieben, wo möglicherweise andere Verhältnisse herrschten.
Die Eltern schickten ihre Kinder nicht in die Dorfschule, wenn diese überhaupt eingerichtet worden war. Es bestand nämlich keine Schulpflicht. Die Kinder gehörten für die Familie zur bitter notwendigen Mithilfe auf den Acker. Alle Entscheidungen der Landleute waren bei dem harten Überlebenskampf der Überlegung untergeordnet, ob sie wirklich lebensnotwendig waren.
Joachim Schmid schreibt in seinem eindringlichen und umfassenden Kapitel „Kirche und Schule“ von sechs Dörfern nördlich von Helmstedt: „Die Bauern, von ihrer Hände Arbeit lebend, waren einer Ökonomie der raren Mittel, des Überlebens und des jähen Untergangs ausgesetzt. Das scheinbar so gelassene Gleichmaß der Agrarwirtschaft war stets bedroht von zuviel Sonne oder Regen, vom Krankheitsbefall und Zerstörung, von den Armen, den Siechen, den Schwachen – die grausame Gerechtigkeit dieser Welt kannte keine unschuldigen Opfer. Die Logik ländlicher Lebensform rührte aus der Erfahrung, daß der Krisenfall jederzeit eintreten, daß schon das nächste Jahr Not und Elend bringen konnte. Die Urangst vor dem Hunger, in den Zeiten der Entbehrung den Generationen eingebrannt, hatte in dieser Knappheitsgesellschaft die Nahrungssicherung zum Prinzip werden lassen.“ (Joachim Schmid S.686)
In diesem zähen Überlebenskampf hatten die Reformation und die Förderung der Bildung auf dem Lande, soweit sie von einer Schule ausgehen sollte, keine Bedeutung. Es ist höchst zweifelhaft, ob und welche Impulse für das tatsächliche Singen in der Kirche von diesem illusionären Schulgebilde und dieser Schulordnung von Julius ausgegangen sind.

Im krassen Gegensatz dazu stand eine „Ordnung der ceremonien auf den dorfern der stadt Braunschweigk“ (Sehling S. 473 f). So wie der Herzog Streubesitz in der Stadt Braunschweig unterhielt, so hatte die Stadt Braunschweig erheblichen steuerpflichtigen Streubesitz in den umliegenden Dörfern. Für diese Dörfer war eine Gottesdienstordnung entworfen worden, die leider undatiert ist. Sie könnte aus der Zeit von Martin Chemnitz stammen. Diese unterschied sich grundlegend von allen bisherigen dörflichen Gottesdienstordnungen dadurch, daß die Gemeinde („das ganze Volk“) alle Lieder ausdrücklich gemeinsam mit dem Opfermann zu singen hatte. Pfarrer, Opfermann und „das ganze Volk“ sangen zu Beginn „Komm Heiliger Geist, Herre Gott“, nach der Epistel „Opfermann mit dem Volk“ das Vaterunserlied von Luther, nach der Verlesung aller fünf Hauptstücke „sal der Opfermann mit dem Volk singen erstlich den Glauben, darnach Nun bitten wir den heilgen Geist“, während der Austeilung des Abendmahls „soll der Opfermann mit dem Volk“ singen abwechselnd den einen Sonntag „Jesus Christus unser Heiland“ oder „Gott sei gelobet und gebenedeiet“. Zum Beschluß soll dann „der Opfermann mit dem Volk singen“ abwechselnd „Es woll uns Gott genädig sein“ und „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“. Auch beim Frühgottesdienst singen Opfermann und Gemeinde stets gemeinsam. Anders als alle bisherigen Ordnungen sah diese Ordnung den gemeinsamen Gesang wenigstens vor. Ob sie die tatsächliche Situation am Sonntag Morgen in den Dörfern um Braunschweig widerspiegelte, steht dahin.

Die vielen Gesangbücher/Liedersammlungen in der nächsten nachreformatorischen Generation
Obwohl in den Kirchengemeinden Lieder von der Gemeinde sonntags und alltags kaum gesungen wurden, waren viele Gesangbücher und Liedsammlungen im Umlauf. Zu den ersten Gesangbüchern, die im Braunschweiger Land, nämlich in Helmstedt, gedruckt wurden, gehören die „Geistliche Kirchengesänge aus den Lehrern zusammengelesen“ von Franz Algerman aus der Heinrichsstadt von 1596 im Taschenbuchformat. „Zu täglichem Gebrauch in gemein bekannten Melodeien verdeutscht und übersetzt“, lautet der Titel weiter. Es sind lateinische Hymnen von Gregor d. Gr. und vom Kirchenvater Ambrosius, auf der linken Blatthälfte wiedergegeben und rechts die Übersetzung von Algerman, darüber die Angabe der Melodie. Das Titelblatt ist zweifarbig, die Seiten jeweils lieblich dekoriert, denn – es ist der Herzogin Elisabeth gewidmet, also nicht einer Gemeinde. Vermutlich aus diesem prominenten Anlaß hat der leitende Theologe der damaligen Landeskirche, der Generalissimus Basilius Sattler ein Vorwort geschrieben, ein altväterliches Lob auf das tägliche Gebet: „Denn da sehen wir den christlichen Eiffer und einbrünstige Andacht der lieben Alten/ die Gott stets/ Tag und Nacht/ für Augen gehabt/ ihm früh und spat für seine göttliche Gnade und Wolthat gedancket// und sich ihm mit einem hertzlichen Gebet/ befohlen haben/ daß wir uns wohl schemen mögen/ da wir bei solchem hellen Licht des Göttlichen Wortes und Erkenntnis Gottes zum Gebet und Danksagung so ganz kalt/ faul und verdrossen seien. Ach wie wohl steht es, wenn ein Mensch stets an Gott gedencket..“ Leider erfahren wir von Sattler nichts (wie erhofft) über das Singen in der Braunschweiger Landeskirche.

Algerman 1596

Die Sonn herfür tut dringen
Mit ihrem hellen Schein
laßt unser Gbet fürbringen
Gott im Himmel allein
dass er mit unserm Leben
Heut diesen ganzen Tag
Behüt vor Sünden eben
Und aller Schand und Schmach
Ambrosius (9. Jahrhundert)

Iam lucis orto sydere
Deum precemur supplices
ut in diurnis acribus
nos servat a nocentibus
Klepper (EG 453)

Schon bricht des Tages Glanz hervor
Demut fleht zu Gott empor
daß was auch diesen Tag geschieht
vor allem Unheil er behüt

Wollt unsre Zung regieren
Und stets halten im Zaum
Daß sie uns nicht verführet
Gib keinem Hader Raum
Die Augen er abwende
Von aller Eitelkeit
Daß sie uns nicht behende
Leiten in großes Leid
Linguam refrenans temperet
Ne litis horror insonet
Visum fovendo contegat
Ne vanitates hauriat
Er halte unsre Lippen rein
kein Hader soll uns heut entzwein
er mache unser Auge frei
und zeige was da eitel sei

Algerman setzte den lateinischen Titel vorneweg: „Ephemeris/ Hymnorum Ecclesiasticorum ex Patribus selecta“. Ephemeris heißt eigentlich „Tagebuch“, also Gebete für jeden Tag, am Morgen und am Abend. Im Folgenden sind zwei Strophen im Abstand von 1200 Jahren nebeneinander gesetzt:

Klepper hält sich an die lateinischen Verszahl, ist daher zu gedrängter sprachlicher Dichte gezwungen und nimmt die Bilder des Liedes auf. Algerman bindet den Text an die damals offenbar bekannte Melodie des Morgenliedes „Ich dank dir lieber Herre“, das im EKG unter Nr. 335 stand und der Revision 1994 zum Opfer gefallen ist. Es ist die Melodie von „Lob Gott getrost mit Singen“ (EG 243). Dadurch ist er gezwungen, die Strophe auf acht Verse zu erhöhen.
Das „Protestantische“ am Text von 1596 ist. daß er nun nicht mehr lateinisch sondern in deutsch gesungen werden kann und daß die lateinischen Hymnen auf Melodien lutherischer Lieder wie „Nun bitten wir den Heilgen Geist“, „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“, „Jesus Christus unser Heiland“, „Aus tiefer Not ruf ich zu dir“, „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit“ „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“, „Vom Himmel hoch da komm ich her“, „Nun freut euch lieben Christen g`mein“ gesungen werden können. Inge Mager hat dieser Liedersammlung und ihrem Verfasser eine ausführliche Interpretation gewidmet und hält es für möglich, daß diese Psalmen in protestantischen Klöstern gesungen worden seien. (Inge Mager Festschrift Mahrenholz S. 77 ff)

In die Reihe der gereimten Psalmdichtungen gehörte aus der Helmstedter Druckerei Jakob Lucius eine Liedersammlung aus dem Jahr 1607, von Wolfgang Striccius gereimt, die mit gebräuchlichen Melodien unterlegt war. Auch das Erscheinen neuer Liedertexte war ein Anlaß, eine neue Liedersammlung aufzulegen, wie die aus derelben Helmstedter Druckerei stammende Liedersammlung mit Liedern von Luther „und anderen frommen Christen nach der Ordnung der Jahreszeit aufs new zu gerichtet/ mit etlichen schönen Gesengen D. Philipp Nicolai vermehret und zum ersten Mal gedruckt“ 1617.

Reisegesangbücher
Beliebt war auch die Herausgabe von kleinformatigen, handlichen Reisegesangbüchern, die nicht nur dem Frömmigkeitsprofil des Besitzers sondern wohl auch der Mode und dem Vorzeigen von Bildung entsprachen. Jene besagte Helmstedter Druckerei Jacob Lucius gab 1626 „Geistliche Lieder von Luther und anderen frommen Christen nach der Ordnung der Jahreszeit aufs neu zugerichtet mit etlichen schönen Gesängen D. Philipp Nicolai vermehret“ mit 506 Seiten als Reisegesangbuch heraus.
Für die Hand von Hof- und Kaufleuten war ein von Balthasar Gruben 1640 gedrucktes Reisegesangbuch, 5 cm breit und 10 cm lang, gedacht, „nach der Ordnung der Jahreszeit von neuem in diese geschmeidige Form zugerichtet“. Es begann mit „Nun komm der Heiden Heiland.“ (HAB Tl 171). Ebenfalls als Reisegesangbuch, allerdings vom beträchtlichen Umfang von 636 Seiten war 1646 (so auf einem Schmuckblatt) bzw. 1653 (so auf einem weiteren Titelblatt) ein „Helmstättisches Gesangbuchlein“ (Tl 512) nämlich „Geistliche Lieder und Psalmen von Lutheri und anderen gottseligen Hertzen nach Ordnung der Jahreszeiten“, gedruckt bei Anton Hummen in Frankfurt ohne Lied- und Strophennummern erschienen. Der Benutzer orientierte sich an der Seitenzahl. Die Lieder wären so oft verbessert und vermehrt und dadurch in Unordnung geraten, daß die Lieder „durch einen gelehrten Mann“ geordnet worden wären. Es war als „Betbüchlein eines Reisenden“ gedacht.

Die Liedersammlung für die private Andacht
Die Übersetzungen, Psalmverreimungen und die Reisegesangbücher waren für die private Andacht und nicht für den Gebrauch in einer Gemeinde geschaffen. Zu dieser Sammlung privater Andachtsbücher gehörte auch die 1648 in Helmstedt bei Henning Müller d.J. gedruckte Sammlung von Liedern für jeden Sonntag, Nebentitel „Neue Evangelische Weinlese“, „durch ein Mitglied der hochlöblichen fruchtbringenden Gesellschaft gedruckt“. Joachim v. Glasenapp hatte darin für jeden Sonntag des Kirchenjahres ein Lied ausgesucht und gereimt und am Ende jeder Strophe, manchmal jedes Verses eine Bibelstelle vermerkt. Der Generalissimus und Hofprediger Lütkemann war davon so entzückt, daß er eine Vorrede verfaßte. Die Sammlung wurde bei der bekannten Druckerei Stern in Wolfenbüttel 1660 erneut aufgelegt. Zur Epistel am 1. Advent reimte Glasenapp folgende Verse zur Melodie „Auf meinen lieben Gott“:

Vom sichern Sünden Schlaff
Ein Christ sich früh aufraff
Was wollten jetzt wir schlummern
In Kammern gehn zu Trummern
Die Nacht hat sich verkroche
Der Tag ist angebroche
1. Petr.5,8
1. Thess. 5,2
Mt. 26,41
Hiob 24, 15.16.17
1. Mose 19,16
Mt. 17,5

Einen Abschied von den Liedersammlungen als privaten Andachtsbüchern bedeutete das in Braunschweig gedruckte Hannoversche Gesangbuch von 1646, hier 1652 und 1653 erneut aufgelegt und dann ab 1657 in Lüneburg. Es war das vom Konsistorium in Hannover besorgte „Hannoversche ordentliche vollständige Gesangbuch. Darin 300 auserlesene Psalmen zur Beforderung der Privat und öffentlichen Andacht zusammengetragen“ (Tl 484). „Mit unterschiedlichen neuen notwendigen und sehr nützlichen Gesängen zum allerletzten Mal endlich verbessert“ heißt es weiter. Es war eine bereits revidierte Ausgabe des ersten Territorialgesangbuches im benachbarten Calenberg/ Hannover, in kleinem, schmalem handlichem Format, und offensichtlich für den Gebrauch beim Gottesdienst gedacht. Die nicht genannten Herausgeber, es sind die Kirchenleitenden Justus Gesenius und David Denecke für den Konsistorialbereich Calenberg-Göttingen, mokierten sich im Vorwort über „so viel Orgelns und unverständige Musizierens und lateinische Singens“. Sie empfahlen die Lektüre des Gebetsteils, „wenn die musik nicht gemäßiget werde, so kann er bei der währenden überflüssigen Musik mit diesen Gebeten sich in der Andacht inzwischen üben und also für sich seinen Gottesdienst ableiten, welches er sonsten viel lieber mit Zeiten der ganzen Gemeinde und Kirchenversammlung verrichten und fortschreiten wollte“. Es war die Zeit, wo auch im Braunschweigischen große Orgeln in die Kirchen eingebaut worden waren. 1621 hatte die Katharinenkirche in Braunschweig eine Orgel mit 30 Registern erhalten, 1631 die Martinikirche, 1658 stiftete die Herzogwitwe Anna Sophie der St. Vincenzkirche in Schönigen eine Jonas Weigel-Orgel. Der spätere Lüneburger Landessuperintendent Hans Christian Droemann hat diesem ersten Hannoverschen Gesangbuch eine Arbeit gewidmet.

Das Singen im Gottesdienst nach der Kirchenordnung von Herzog August 1657
Herzog August, geb. 1579, regierte seit 1635 im Herzogtum Wolfenbüttel. In der Einleitung zu seiner Kirchenordnung von 1657 beschrieb er die Situation bei der Übernahme des Amtes. Er habe das Herzogtum als Folge des 30jährigen Krieges „in großer Zerrüttung“ vorgefunden. „So haben wir uns zwar höchlich angelegen sein lassen, das fast zerfallene und in Unordnung geratene Kirchenwesen wieder aufzurichten“. Zu diesem Zweck hatte August die Kirchenordnung von Herzog Julius revidiert und verbessert.
Die Kirchenordnung ist ein vollständiges Gottesdienstbuch, das die Ordnung des Haupt- und Nebengottesdienstes in den Städten und in den Dörfern, den Ablauf der Taufe, der Konfirmation, des Katechismusunterrichts, der Beichte, Trauung, Ordination, des Krankenbesuches und Krankenabendmahls, am Sterbebett, vom Begräbnis, Gefangenenseelsorge, die Gottesdiensten in der Passionszeit und an den Bußtagen, dem Hagelfeiertag, sowie die Gebete des Tages im Gottesdienst regelte.
Im 5. Kapitel befaßt sich die Ordnung damit „Wie es mit dem Gesänge und Lektionen in der hohen Messe vor der Predigt gehalten werden soll“, aufgeteilt in den Städten und in den Dörfern. Der Gesamteindruck ist ziemlich bedrückend: es hatte sich für die Gemeinde in den vergangenen 100 Jahren im Gottesdienst wenig geändert. Die Gemeinde übernahm Teile der Liturgie: nämlich das „Allein Gott in der Höh sei Ehr“, sie sang das Glaubensbekenntnis „Wir gläuben all an einen Gott“, während des Abendmahls ein liturgisches „Heilig ist Gott der Herre Zebaoth“, zur Austeilung das „O Lamm Gottes unschuldig“ und am Schluß „Herr nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren“ und danach „Verleih uns Frieden gnädiglich“. Das bedeutete Sonntag für Sonntag dieselben Lieder. Es fehlte völlig ein wechselnder Choral. Der Kantor und der Schulchor leiteten den Gottesdienst mit einem „O Vater allmächtiger Gott“ ein, sangen nach der Epistel einen deutschen Psalm, wo möglich mit einer „fein langsamen“ Orgelbegleitung „in Contrapuncto“ und vor Beginn der Predigt je nach der Kirchenjahreszeit „Nun bitten wir den Heilgen Geist“ oder „Ein Kindelein so löbelich“ oder „Christ ist erstanden“ und während der Austeilung mit der Gemeinde „Christus der uns selig macht“, „Herr Jesu Christ du höchstes Gut“ und „Jesus Christus unser Heiland“, je nach Teilnehmerzahl beim Abendmahl. Die Liedgestaltung des Gottesdienstes konnte eine gewisse Starre nicht verbergen. Die zahlreichen Lieder aus den Liedersammlungen waren nicht in den Gottesdienst vorgedrungen. Es besteht kein Anlaß, die reformatorische und nachreformatorische Zeit in hymnologischer Hinsicht zu glorifizieren. Dazu kommt, daß auch diese Gottesdienstordnung eine Idealvorstellung vom Gottesdienst darstellte, von der man nicht im Handumdrehen auf die Umsetzung am Sonntag schließen darf.

Zu diesem Hauptgottesdienst am Sonntag Vormittag kamen noch Gottesdienste am Sonntag früh, beginnend zwischen vier und halb fünf Uhr, am Sonntag Nachmittag, beginnend um 13.00 Uhr und am Sonnabend Nachmittag. Diese drei „Nebengottesdienste“ hatten ausgesprochen lehrhaften und pädagogischen Charakter. Der Sonnabend- Nachmittagsgottesdienst und der Sonntag-Frühgottesdienst waren vor allem für die Schüler und Schulchöre gedacht. Da wurde in den Städten abwechselnd lateinisch und deutsch gesungen, die Jungen sollten das Lesen und Singen der Epistel auf lateinisch und deutsch üben. In den Dörfern wurde eine verkleinerte Form in deutsch gehalten.
Der Sonntag-Nachmittagsgottesdienst war auch für Erwachsene gedacht. Das Verlesen aller fünf Hauptstücke gehörte zum festen Bestandteil, die Gemeinde sang nach der Predigt die lutherischen Katechismuslieder „Dies sind die heilgen Zehn Gebot“, oder den Glauben, das Vaterunserlied, „Christ unser Herr zum Jordan kam“, „Erbarm dich mein o Herre Gott“, „Jesus Christus unser Heiland“. Die zusätzliche Bemerkung „wie selbige in den gemeinen Gesangbüchern zu finden“ war ein Hinweis, daß der Pastor und der Kantor ein Gesangbuch besitzen sollten. Das Singen sollte etwa eine dreiviertel Stunde, die Predigt eine halbe und die Katechismuslehre auch eine halbe Stunde lang dauern.
Man darf nicht davon ausgehen, daß diese Nebengottesdienste gern und regelmäßig besucht worden sind.

Bei der Taufe und Trauung wurde nicht gesungen, auch während einer Beerdigung sang die Gemeinde keine Choräle, aber die Schüler jeden Ortes, Pastor und Küster sollten vor dem Sarg hergehen und singen „Mitten wir im Leben sind“, „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“, „Ich hab mein Sach Gott heimgestellt“, „O Welt ich muß dich lassen“, „Was mein Gott will gscheh allzeit“, „Herr Jesu Christ wahr Mensch und Gott“, „Ach lieben Christen seid getrost“, „Erbarm dich mein o Herre Gott“ und dergleichen andere. Dieser Singedienst war beliebt, denn die Schüler bekamen dafür Geld.

Das erste verordnete Gesangbuch für das Herzogtum (1661)
1661 erschien das erste, für das Herzogtum verbindliche, von Herzog August herausgegebene Gesangbuch. Es unterschied sich von allen anderen vorhergehenden dadurch, daß es auf Anordnung des Herzogs hergestellt wurde, also amtlich privilegiert war und sich nicht an Privatpersonen sondern an alle Bewohner des Herzogtums richtete. Es hatte den Titel „Braunschweigisches vollständiges Gesangbuch, darinnen 600 Christliche und trostreiche sowohl alte als neue Gesänge fürnemlich des Herrn Lutheri wie auch anderer der Evangelischen Lehre treuer Bekenner ordentlich zusammengebracht“. Es war als Ergänzung seiner Schulordnung von 1647 und seiner Kirchenordnung von 1657 gedacht und enthielt 571 Lieder, dem 29 lateinische Gesänge angefügt waren. Es gliederte sich in Lieder zum Kirchenjahr (I), zum Katechismus (II) und „von den christlichen Kirchen und dem Worte Gottes und wie bei der streitenden Kirche hier auf Erden ein rechtschaffener Christ in einem 1. Tun und Wandel, 2. Stand und Beruf, 3. Kreuz und Leiden sich selbst lehren und unterrichten, ermahnen und aufmuntern, trösten und erwecken könne“ (III). Darauf folgten Morgen- und Abendlieder (IV) und Lieder von den letzten Dingen (V). 48 Notenbeispiele waren für die unbekannten Melodien beigefügt. Ein ausführlicher Gebetsteil mit unterschiedlich groß gedruckten Gebeten in kräftiger, anschaulicher Sprache sollten zum Gebet anleiten. Die Morgen- und Abendgebete für jeden Tag waren im Druck hervorgehoben. Vier Register erleichterten das Aufschlagen. Die Lieder fallen durch ihre Länge auf. Die 12 Adventslieder haben meist 10,12,18 Strophen. Darunter sind „Warum willst du draußen stehen“ von Paul Gerhardt und „Mit Ernst o Menschenkinder“ von Valentin Thilo.
Auch dieses Gesangbuch war nicht für die Hand der Gemeindemitglieder gedacht, sondern eher für Pfarrer, Opfermänner und Kantoren. Es war auch eine Folge des herzoglichen Ordnungssinnes und seiner gelegentlichen Regelungswut. Der entscheidende Nachteil war seine kurze Dauer. Schon elf Jahre später erschien ein neues Gesangbuch durch einem neuen Herzog.

Von der Schule war keine Hilfe zu erwarten
Die Umsetzung der Kirchenordnung in die dörfliche Praxis und die Einübung in das Gesangbuch waren durch die Folgen des 30jährigen Krieges eingeschränkt. Der 30jährige Krieg (1618-1648) hatte auch in Teilen des Braunschweiger Landes furchtbar gewütet. Da jeder Krieg den Aufbau eines Schulwesens verhindert und ein vorhandenes geordnetes Schulwesen verwüstet, war an eine Besserung des Schulwesens auf dem Lande nicht zu denken.
Herzog August d. Jüngere (1634-1666) unternahm einen neuen Anlauf und erließ unmittelbar nach Kriegsende 1649 eine Landesordnung, worin er die allgemeine Schulpflicht anordnete. Die Landstände hatten schon 1638 die Besserung der Schulverhältnisse angemahnt. August erließ 1651 sogar eine besondere Schulordnung und schrieb darin einleitend ziemlich illusionslos vom Lehrerberuf, dass der Lehrer „bei seiner schweren Mühe und Arbeit ein gestrenges Leben in Hunger, Durst, Blöße und Mangel aller Notdurft führen und nebst dem von jedermann verachtet und unter die Füße getreten sein müsse.“ Die Lehrer sollten keine Handwerker sein, und „auch nicht solche genommen werden sollen, welche nicht im Lesen und Schreiben.. geübet“ wären. So eine Instruktion war offenbar nötig. Es soll vorgekommen sein, dass Analphabeten Lehrer gewesen waren. Es wurde dann nur mündlich gepaukt. In der herzoglichen Schulordnung wurden Schulzeit, Schulgeld, Lernziele formuliert, der Ortspfarrer zur Schulaufsicht ernannt, aber es fehlte an der Umsetzung. Die Kinder gehörten auf den Acker, meinten Eltern und Gutsherren. Letztere verfügten als Patrone über mehr als die Hälfte der 373 Küster- und Schulmeisterstellen auf dem Lande und waren auch für die äußeren Schulbedingungen mit verantwortlich (Koldewey S. 179). Aber die Lehrer und Opfermänner wohnten in erbärmlichen Verhältnissen, hatten zum Unterrichten keine eigenen Räumlichkeiten und mußten sich mit Nebentätigkeiten ihren Lebensunterhalt verdienen. Dazu kamen Krieg, Mißernten, Hunger, Krankheiten, die ein erfolgreiches Unterrichten unmöglich machten. In dem Katalog „Sammler Fürst Gelehrter Herzog August“ Wolfenbüttel 1979 wird die Zahl der Analphabeten im Herzogtum mit über 80 Prozent angegeben, Paul Raabe schätzt die Zahl sehr viel geringer ein. Nach Rudolf Schenda „Volk ohne Buch“ dürfte die Anzahl der Analphabeten auf dem Lande weit über 90 % betragen haben. Er ermittelte für 1770 (also 100 Jahre später) in Mitteleuropa 15 %, um 1800 25 % und um 1830 40% potentielle Leser, und zwar in allen Schichten (S. 444).
Sogar auf den Lateinschulen in Wolfenbüttel, Helmstedt, Schöningen, Gandersheim und Blankenburg herrschten Mitte des 17. Jahrhunderts beklagenswerte Zustände, wie sie Johannes Türken in seiner umfassenden Arbeit „Höhere und mittlere Schulen des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel im Spiegel der Visitationsprotokolle des Generalschulinspektors Christoph Schrader (1650-1666)“ dargestellt hat. Einige Schüler wurden zwar zum Singen in den Stadtkirchen abgeordnet, aber sie ersetzten schlecht und recht den Gesang der Gottesdienstgemeinde, der sich, wenn überhaupt, auf das Respondieren der liturgischen Stücke und einen Choral vor der Predigt beschränkte.
So war der Zustand des Gemeindegesangs durchaus abhängig von der Qualität des Schulwesens und der Schule am Ort.

Gesangbücher aus der Regierungszeit von Herzog Rudolf August
das private Andachtsbuch von Rudolf August 1667
Die Gesangbuchlandschaft blieb auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bunt: es gab Liedersammlungen zur persönlichen Andacht, private Renommierstücke, Ausdruck von Drucker- und Verlegerlust und amtlich verordnete Gesangbücher für das Volk.
Als Herzog August 1666 gestorben war, veröffentlichte sein Nachfolger, Herzog Rudolf August schon ein Jahr später zu seiner persönlichen Andacht, wohl auch als Ausdruck herzoglichen Renommees eine Liedersammlung mit selbstverfaßten Gesängen unter dem Titel „Christ-Fürstliches Davids-Harfen-Spiel zum Spiegel und Vorbild himmelflammender Andacht“ (Tl 199). Unter den Gesängen befinden sich Beispiele schlichter persönlicher Frömmigkeit und Dichtkunst .

1) Gott du bleibest doch mein Gott,
Gott mein Trotz, mein Schutz, mein Retter,
Gott in Wohlstand, Gott in Not,
Stürmen auf mich alle Wetter
kann ich mich gedrückt gar sehen
Doch läßt du es nie geschehen,
Daß ich gar müßt untergehen.

2) Gott du bleibest doch mein Gott.
Ob ich gleich in Sünden liege,
macht mich mein Gewissen rot,
macht doch Jesus daß ich siege.
Seine Plagen, seine Wunden
Und was er für mich empfunden
Haben mich der Straf entbunden.

3) Gott du bleibest doch mein Gott.
Drüm, O Herr! Kann ich dich haben,
frag ich nichtes nach dem Tod
Erd und Himmel mich nit laben
Will mir Seel und Leib zerstäuben
Laß ich mich von dir nit treiben
Gott wird doch mein Gott verbleiben.

Der Wolfenbüttler Hofbuchdrucker Paul Weiß widmete dem Herzog Ferdinand Albrecht und seiner Frau Christine 1686 ein Gesangbuch unter dem Titel „Tägliches Herzensopfer eines bußfertigen und der ewigen Seligkeit verlangenden Christen bestehend in einem auserlesenen andächtigen Gebet- und Gesang auch Buß- Beicht und Communion Büchlein“ (HAB Tl 135).

Ein Gesang- und Gebetbüchlein für die Gemeinde
1672 brachte der fürstliche Hofbuchdrucker in Wolfenbüttel Paul Weiß auf Veranlassung von Herzog Rudolf August ein Gesangbuch heraus unter dem Titel „Neues Geistreiches Gesang- und Gebetbüchlein“ (HAW Tl 147). Es habe einer hohen gottesfürchtigen Hand sehr mißfallen, heißt es im Vorwort, daß sich die alten Gesänge haben ziemlich meistern lassen müssen. Nun seien die alten Kirchengesänge von vielfältigen Änderungen befreit und die alten Gesänge würden in der Urfassung veröffentlicht. War das Gesangbuch von 1667 noch für die herzogliche Privatandacht gedacht, so wünschte der Hersteller sich offenbar dieses Gesangbuch in die Hand von Gemeindemitgliedern. Es sei ein Gesangbuch, damit einer den andern in der christlichen Gemeinde aufmuntern könne. Das Gesangbuch enthielt verschiedene Kupferstiche mit Reimen für das Volk, z.B. „Den Grund zu Seligkeit aufs best/ der Catechismus leget fest“. „Wan man aufs Fest laut spielt und singt/ mein Herz ist fröhlich und mitsingt.“ „Mitsingen“ war also die Zielvorgabe dieses Gesangbuches. Zum Bild von der Himmelsleiter: „Mein Tritt ist Himmel angestellt/ wan Noth und Creutz mich überfäll“. Es enthielt 514 Gesänge darunter 35 Lieder von Paul Gerhardt, unter anderen „Ein Lämmlein geht“, „Nun ruhen alle Wälder“, „O Haupt voll Blut und Wunden“, „Nun laßt uns gehn und treten“. Inge Mager schreibt dazu: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Rudolf August der Initiator der Paul Gerhardt Tradition in Braunschweig-Wolfenbüttel, ja in Niedersachsen ist.“ (Inge Mager Die Rezeption S. 128)
Offenbar sollte dieses Gesanbgbuch das von Herzog August von 1661 ablösen. Es waren seither erst elf Jahre vergangen. Sollten Pfarrer und Opfermänner wieder ein neues Gesangbuch anschaffen? Diesem Gesangbuch von 1672 fehlte offenbar die Verbindlichkeit für die Benutzung in den Kirchen des Herzogtums. Oder sollte etwa – was ich nicht glaube – die Einverleibung der Stadt Braunschweig 1671 in das Territorium des Herzogtums ein Anlaß gewesen sein, nun für das ganze Herzogtum ein Gesangbuch herauszugeben? Vierzehn Jahre später erschien schon wieder ein Gesangbuch.

Das Gesangbuch „Gottes Himmel auf Erden“ 1686
Wie Hannover sollte nun auch Braunschweig-Wolfenbüttel wie schon zu Zeiten von Herzog August ein für das Territorium verbindliches Gesangbuch erhalten. Herzog Rudolf August beauftragte mit dieser Aufgabe seinen Schwager Christian Ludwig Ermisch, der von 1682 - 93 Pfarrer an der Braunschweiger Katharinenkirche war und später Stadtsuperintendent wurde. 1686 erschien das von ihm zusammengestellte Gesangbuch unter dem schönen Titel „Gottes Himmel auf Erden. Das ist: Das Braunschweigische ordentliche allgemeine Gesangbuch“ (HAB TL 338). Er beklagte im Vorwort das Singen ohne Buch“ und die Vielzahl von Gesangbüchern, die die „frommen, einfältigen Herzen“ nur verwirrten. „Ach du heiliger und geliebter David, lebtest du itzo in unseren Zeiten und höretest wie die Christen in öffentlicher Andacht in der Kirchen und in geheimer Andacht in ihren Häusern ohn Verstand, oft wider sich selbst wie das tumme Vieh hinsingen, würdest du sonder Zweifel eben diese Vermahnung wiederholen: Wollt ihr singen, so lobsinget Gott klüglich. Denn man findet nicht nur leider in Babylon sondern auch in Zion, das ist außer und in unser wahren evangelischen Kirchen viele, die zwar singen, aber wie ohne Buch, also auch ohne Verstand und oft wider die Schrift und daraus gezogener Glaubensregel.“
Diese ungeschminkte Vorrede über das Singen in der Kirche („wie das tumme Vieh“, „ohn Verstand“) läßt keine Illusionen über die Kümmerlichkeit des Gemeindegesanges in der Stadt Braunschweig wie in den Landgemeinden aufkommen. Es sangen der Pfarrer, der Lehrer bzw der Opfermann und die von ihm mitgebrachten Schulkinder. Die Gottesdienstgemeinde hörte, was ihr der Kantor und die von ihm mitgebrachten Schulkinder vorsangen und sangen mit und nach, so gut sie es gehört und verstanden hatten. Das war nun bereits 150 Jahre nach Einführung der Reformation in der Stadt Braunschweig doch eine magere Bilanz.


Gottes Himmel auf Erden

Dieses Gesangbuch hatte als Zielgruppe erklärtermaßen die Gottesdienstgemeinde. Daran gemessen war allerdings die Anzahl von 900 Liedern sinnlos und geradezu monströs. Wie sollte das einfache Gemeindemitglied, in dessen Hand sich Ermisch das Gesangbuch dachte, durch seinen Inhalt durchfinden? Aus pädagogischen Gründen entsprach die Gliederung dem Katechismus, dessen Kenntnis verwegenermaßen vorausgesetzt wurde. Es könnte „auch der Allereinfältigste, wenn er seinen Katechismus weiß, ohn Register sich darein finden, welches der tägliche Gebrauch als die beste Lehrmeisterin jedem wird bekräftigen.“ Gott wolle „nach Anleitung dieses Gesangbuchleins im ganzen Lande wohnen, alle lobsingenden Seelen an Leib und Seele gesegnen.“ Die Advents- und Weihnachtslieder fand der einfältige Braunschweiger, der seinen Katechismus kannte, also nicht unter den ersten Nummern des Gesangbuches, sondern unter dem Abschnitt des zweiten Artikels des zweiten Hauptstückes („..und an Jesus Christus, unsern Herrn. Was ist das? Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren..“) ab Nummero 247. Wer die Gliederung des Gesangbuches hingegen vergessen hatte, dem half Lied Nummer eins noch einmal nach, das er unter der beziehungsreichen Melodie „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ auch singen konnte:

1) Herr Gott erhalt uns für und für
Die reine Katechismus-Lehr.
Der jungen einfältigen Welt
Durch deinen Lehrer (Luther) fürgestellt.

2) Daß wir lernen die zehn Gebot
Bewein unsre Sünd und Not
Und doch an dich, deinen Sohn
Gläuben im Geist erleuchtet schon.

3) Dich unsern Vater rufen an
Der allein will und helfen kann
Daß wir als Kinder nach der Tauf
Christlich vollbringen unsern Lauf.

4) So jemand fällt, nicht liegen bleib
Sondern zur Beicht komm und gläub
Zur Stärkung nehm das Sakrament
Amen. Gott geb ein selig End.

Aus weiteren pädagogischen Gründen waren einige Lieder groß und andere kleiner gedruckt.
Dieses Gesangbuch enthielt 33 Lieder von Paul Gerhardt.

Zu diesem Gesangbuch ist 1992 zum 2. theologischen Examen eine gründliche Arbeit von Pfarrerin Astrid Berger-Kapp erschienen. Es ist m.W. die erste wissenschaftliche Examensarbeit überhaupt, die sich mit einem der Braunschweiger Gesangbücher befaßt. Berger Kapp beschreibt die Entstehung, den Aufbau, den Liedbestand und ihre verschlungenen Quellen in anderen Gesangbüchern und seine Verbreitung.
Berger Kapp faßt ihre Arbeit folgendermaßen zusammen: „Mit seiner sprachlich und inhaltlich pietistisch gefärbten Vorrede, mit seinem einmaligen Aufbau nach dem Katechismus und seiner gleichzeitigen minutiösen Zuweisung des Liedgutes in Rubriken für jede Person und Situation, mit der Fülle von frühpietistischen Liedern, seiner ausgeprägten Paul Gerhardt Rezeption, seinem Versuch über Melodienvielfalt und Detempore-Ordnung das neue Liedgut auch wirklich in den Gottesdiensten heimisch zu machen, stellt das Braunschweiger Gesangbuch von 1686 etwas ganz Besonderes dar: in exemplarischer Weise nimmt es die Entwicklungen der pietistischen und frühaufklärerischen Gesangbücher vorweg und kann vielleicht sogar das Bindeglied zwischen den Reformgesangbüchern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und den pietistischen Freylinghausenschen und Porstschen Gesangbüchern des 18. Jahrhunderts angesehen werden.“ (S.38)

Berger-Kapp ordnet das Gesangbuch in die langsam entstehende pietistische Bewegung im Herzogtum Braunschweig ein und bringt das rasche Ende dieses Gesangbuches mit dem sog. Anti-Pietistenedikt von 1692 zusammen. Pietisten waren selbständige Kirchengemeindemitglieder, die sich auch in ihren Häusern zum Gottesdienst trafen, dort die Bibel ohne Pastor lasen und auslegten und das Abendmahl feierten. Sie beriefen sich auch auf besondere Visionen. Das störte nicht nur die kirchliche Ordnung sondern auch die staatliche. So ein Selbständigkeitststreben konnte rasch auch auf die staatliche Ordnung übergreifen, wurde befürchtet. Die Pietisten galten als Unruhestifter und Staatsfeinde. In einer hysterischen Überreaktion verlangten Herzog Anton Ulrich und Rudolf August, daß alle Pfarrer der Landeskirche ein Gesetz (Edikt) handschriftlich unterzeichnen mußten, wonach sie keine pietistischen Bücher dulden und an keinen derartigen Versammlungen teilnehmen würden. Abweichler sollten gemeldet (denunziert) werden. Nicht alle unterschrieben dieses Gesetz. Diese wurden dann entlassen, sogar ein Mitglied des Konsistoriums.
Das Gesangbuch von 1686 hatte nun einen ausgesprochen pietistischen Anstrich. Leistete es etwa dem damaligen vermeintlichen Staatfeind Vorschub? Es mußte aus der Sicht der Staats- und Kirchenleitung aus dem Verkehr gezogen werden. So kam es zu dem neuen Gesangbuch von 1698.

Allerdings war an Gesangbüchern kein Mangel. In den Neunziger Jahren entstanden rings um Wolfenbüttel folgende Liedsammlungen, die sich Gesangbuch nannten:
1691 Die „Hartzsche Berg-Andacht oder neu vollständiges Gesangbuch“ mit 600 Liedern in Clausthal von Jacob Wilcken gedruckt (in HAB Tl 504);
1695 das Lüneburgische Gesangbuch „darin über 2000 sowohl alte als neue geistreiche Gesänge aus den besten Autoren gesammelt und mit vielen neuen anmutigen Melodeien vermehret“ mit gelegentlichen Notenbildern, zweispaltig, ein „Gesangbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland“, wie der Lüneburger Superintendent Sandhagen im Vorwort betont (Tl 553), gedruckt und verlegt durch Johann Stern Lüneburg.
1695 wird in Helmstedt verlegt das „Dreyfach schallende Kirchen - Echo im Evangelischen Zion vorstellend I. Nützliche gesänge von den alten die gewöhnlichsten, von den neuen die nötigstens II. Deutliche Fragen über den Catechismo zum Schul und Kirchenexamene III. Dienliche Gebete“ von Johann Heinrich Häbeckers (Th 1103). Es enthält 917 Seiten mit Liedern und 152 Seiten mit penetranten und unbarmherzig dogmatischen Fragen zu den fünf Hauptstücken von Luthers Kleinem Katechismus.
1698 erschien das „Vollständig ordentlich wohleingerichtete Gesangbuch aus dem Hannoverschen, Krügers, Ammerbachs und mehr dergleichen Gesangbüchern nebst einem Gebetbüchlein“ in Helmstedt bei Salomon Schnorr gedruckt mit über 460 Liedern (HAB Tl 513), in einem länglich schmalen Format mit großen Buchstaben, die Lieder beginnen mit dem Kirchenjahr, eine Ausgabe für Reisende.
1698 eine weitere Auflage des Hannoverschen ordentlichen Gesangbuches, aber erneut durchgesehen, weil der Verleger der vorhergehenden Ausgabe es sich „ohn Vorwissen und Genehmhalten der Oberen habe gelüsten lassen“, einige Lieder einfach heranzuhängen, aber erweitert auf schließlich 355 Liednummern auf 959 Seiten in sehr großen Buchstaben. (HAB Tl 490). In den Liedern, so die Herausgeber im Vorwort, fänden „keine hohen poetischen expressionen statt, die sonst den weltlichen Gedichten ihren Glanz geben, statt dessen lauter Phrasen und Redensarten der göttlichen Heiligen Schrift, die das Herz zur Andacht aufmuntern.“ Außerdem sind auf weiteren 450 Seiten auch Kollektengebete, Episteln und Evangelien für jeden Sonntag abgedruckt Es ist ein ziemlich unförmiges, dickes, in weißes Schweinsleder gebundenes Gesangbuch. Diesem Gesangbuch waren die Fragen des Generalsuperintendenten Gesenius in Kurz- und Langfassung angefügt, eine auch für die damalige Zeit am Verständnis der Jugendlichen völlig vorbeigehende dogmatisch fixierte Katechismusunterrichtung. Die Kurzfassung auf sechs Seiten „Über den einfältigen Katechismus etliche einfältige Fragen, welche auch die Einfältigsten zum wenigsten verstehen müssen“, die Langfassung auf 35 Seiten. Vorne ist als Kupferstich eine große leere Stadtkirche mit kaltem Karofußboden abgebildet, um deren Kanzel sich eine Gruppe von Predigtzuhörern gesammelt hat und sich im Vordergrund eine kleine Gesellschaft am Taufbecken zu einer Taufe versammelt hat.

An sog. Gesangbüchern, richtiger: Liedsammlungen, war also kein Mangel als ein neues herausgegeben wurde.


Beobachtungen und Anfragen zur ersten Epoche Braunschweiger Gesangbücher
Zusammenfassung

In der Zeit der Reformation, der bald einsetzenden konfessionellen Verfestigung und des 30jährigen Krieges gab es keine Gesangbücher im uns heute geläufigen Sprachsinn. Man ging nicht mit einem Gesangbuch in die Kirche und sang daraus. Das damals verwendete Wort „Gesangbuch“ hatte eine anderen Sinn als heute.
Das Gesangbuch war eine Liedsammlung, deren Umfang immer mehr anschwoll.

Diese Liedsammlungen waren zunächst kein Produkt von kirchlichen Ämtern sondern von Druckereien.

Die Lieder Luthers wurden anfangs auf Flugblättern verbreitet, vorgelesen, gelernt und gesungen. Dann wurde sie in Liedsammlungen aufgenommen.

Die ersten Gottesdienstordnungen von Bugenhagen (1528), von Herzog Julius (1569) und Herzog August (1657) kannten noch nicht den von der Gottesdienstgemeinde gesungenen Choral zu Beginn des Gottesdienstes und vor und nach der Predigt.

Der Gemeindegesang wurde vor allem vom Kantor und seinem Schulchor ausgeführt. Die Lieder wurden von Kantor ausgesucht.
Die Gemeinde beteiligte sich mit ihnen beim Singen einiger liturgischer Stücke: beim gesungenen Glaubensbekenntnis, später beim Glorialied „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ und bei einem Lied am Schluß des Gottesdienstes.

Anders als in den zahlreichen Dorfgemeinden war die musikalische Lage an den Höfen und großen Stadtkirchen. Dort wurde zu den großen Kirchenfesten und bedeutenden repräsentativen Ereignissen von bezahlten Kantoreien und Kapellen festliche Musik aufgeführt. Die beiden bedeutendsten Musiker jener Zeit waren in unserer Landeskirche Thomas Mancius und Michael Prätorius in der Festung Wolfenbüttel.

Die kümmerliche Schulsituation in vielen Dörfern ist wesentlich für die Frage, wie und was in den Dorfgemeinden gesungen wurde.

In der kurzen Zeit von 37 Jahren entstanden zwischen 1661 und 1698 für das Herzogtum vier Gesangbücher (1661/ 1672/ 1686/ 1698). Ihr Verhältnis zueinander nach Entstehung, Liedbestand und Wirksamkeit muß noch untersucht werden.


Zum Teil 2: Das erste Gemeindegesangbuch von 1698






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Impressum  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Gesangbuch/T1K1.htm, Stand: Dezember 2007, dk