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Die Gründe für ein neues Gesangbuch
Die obige Übersicht informiert über die Liedanfänge und in Klammern die Anzahl der Strophen.
Vier der im EG befindlichen Rist-Lieder befanden sich also bereits im ersten Gesangbuch von 1698. Sie haben in unserer Landeskirche eine lange Tradition: „Auf auf ihr Reichsgenossen“, jetzt „Auf auf ihr Christen alle“, das allerdings im Anhang steht. Es hatte ursprünglich elf Strophen, die auf neun und dann auf acht gekürzt worden sind; das Neujahrslied „Hilf, Herr Jesu, laß gelingen,“ mit ursprünglich 16 Strophen, dann auf sieben und sechs gekürzt, das Karsamstaglied „O Traurigkeit, o Herzeleid“ von acht auf sechs und fünf Strophen gekürzt, und das wohl bekannteste, das Abendlied „Werde munter, mein Gemüte“, mit 12 Strophen, die auf acht gekürzt sind.
Neben dogmatischen und konfessionellen Interessen hatten die Herausgeber auch örtliche Rücksichtnahmen zu pflegen. Das Personenregister vermerkte 16 Lieder vom Wolfenbüttler Herzog Rudolf August. Es sind in der Regel kurze fünf bis achtstrophige Lieder, von denen allein acht über eine eigene Melodie verfügen (in der Tabelle mit e.M. gezeichnet, in Klammern die Strophenanzahl). Bereits an den Liedanfängen sind sie als persönliche, schlichte Glaubenslieder erkennbar. Es überwiegt ein trauriger Ton, der besonders bei dem Morgenlied Nr. 815 auffällt. Der Beter ist schon beim Aufstehen bedrückt: „Nun tret ich wieder aus der Ruh und geh dem sauren Tage zu, wie mir ist auferleget. Nicht weiß ich, was für neue Plag mir heute noch begegnen mag.“ (Str. 1) Die Regierungsgeschäfte hatten Herzog Rudolf August offenbar keine große Freude gemacht. Jeder Morgen bahne ihm einen „frischen Weg zur Pein, der kann mit Gott erstiegen sein“ (Str. 2). „Ich leg auf dich, mein Gott und Herr/ was mir zu tragen wird zu schwer/ die Last, die mich gebogen/ Ich lege mein Würd und Stand/ in deine große Allmachtshand/ die du mir nie entzogen“ (Str. 7). Auch im anderen Morgenlied (Nr. 813) denkt der Sänger zuerst („Nun mein Herz hab fleißig acht/ wie die Nacht ist zugebracht“) beim Aufstehen an die Schrecken der Nacht. Gott wird gelobet, „daß wer dich die ganze Nacht/ vor dem Löwen, der da tobet/ vor dem Bösen hat bewacht/ Der um dein Bett her geschlichen/ und dir niemals wär gewichen“(Str. 2) Der Morgen ist die Zeit der Sündenreinigung: „Wasch mit Tränen deine Wunden/ die du hast an dir befunden/ und begib dich an den Ort/ deines Arztes Jesu fort“ (Str. 4).Wenn der Glaube eines Fürsten für die Untertanen Leitbildfunktion hatte, kann so ein Morgenlied wenig Motivation für einen fröhlichen Tag stiften. Das Lied Nr. 392 „Gott du bleibest doch mein Gott“ ist noch eine Gesangbuchgeneration bis 1902 weiter tradiert worden. Es ist bereits im vorigen Abschnitt wiedergegeben. Die innenpolitischen Interessen der Liedersammlung Das Gesangbuch hatte nicht nur religiöse Interessen, sondern auch politische. Es sollte die Herrschaft des Herzogs und den Gehorsam und Sitte der Bevölkerung festigen. Im Lied eines Untertan Nr. 855 „Es herrschet ja in dieser Zeit“ bekannte der Sänger, daß alle Obrigkeit von Gott eingesetzt ist, die dafür sorgt, daß das teure Gotteswort im Frieden gepredigt werde und die Familien ruhig wohnen können: „das macht zur Zeit die Obrigkeit/ wer kann ihr das belohnen?“ (Str. 4) Die Obrigkeit soll das Böse zähmen und das Böse erscheint offenbar in Widerspenstigkeit der Untertanen. „Gott ist es, der uns hält im Zaum/ durch Obrigkeit, drum gib ihr Raum“ (St. 7), durch Abgabe der Steuern und „stilles Leben“. „Leb sonsten still und sittiglich, vor Krieg und Aufruhr hüte dich.“ Das klingt heutzutage altväterlich, es hatte damals disziplinierende Absicht und Wirkung. Dazu diente auch das unerhört lange Gebet für die Obrigkeit, das am Ende des Gesangbuches abgedruckt war und in jedem Sonntag nach der Predigt verlesen werden sollte. Im Lied „eines großen Herrn im Regentenstande“ (Nr. 853) bittet der hochgestellte Sänger, Gott möge ihn vor Hoffart bewahren und: „ach laß mich Herz und Hände zähmen, daß sie ja nicht Geschenke nehmen“ (Str. 4), daß er die Bedrängten nicht mit Worten abspeise (Str. 5), die Lügner bei ihm „nicht gedeihen“, und er das Gesetz Gottes mit Verstand und Rat verrichte (Str. 6). Hier schimmert noch etwas von der Unabhängigkeit des geistlichen Standes hindurch, der durchaus den Regierenden den Spiegel des Wortes Gottes kritisch vorhalten konnte. Diese Standesordnung setzte sich nach unten fort. Wer die katastrophale Stellung eines Lehrers in der Stadt und mehr noch auf dem Lande, seine erbärmliche finanzielle Ausstattung und Wohnverhältnisse und miserable soziale Stellung innerhalb der Dorf- und Stadtgemeinschaft berücksichtigt, kann das Lied eines Lehrers („Schul-Dieners“) Nr. 858 „Gott der du unverhohlen“ auch nur unter dem Zweck seiner Sozialdisziplinierung verstehen. Dem Lehrer ist das Lehramt von Gott anempfohlen, „daß ich soll/ die Jugend unterrichten/ im Beten, Schreiben, Dichten/ Mein Herz ist Sorgens voll“. (Str. 1) Der Schuldiener fragt, wie er es beginnen soll, denn „sehr schlecht ist mein Verstand/ die Kräfte mir zerrinnen/ zu schwach ist Herz und Hand: mein Gott ich suche dich.“( Str. 3). Er bittet, die liebe Jugend in Gottesfurcht und Fleiß zu erziehen und daß die Schüler die Sünde, grobe Laster und Büberei meiden lernen, vielmehr „daß sie dich kindlich scheuen/ und wie sich ihrer freuen/ die Eltern alle Tag“. In der letzten Strophe bittet der Lehrer um Erhörung. „Bin ich auch hier nur klein/ muß schlechten Lohn auch haben/ so werden Gottes Gaben/ doch groß im Himmel sein“. Diese Lieder waren gewiß nur zur stillen persönlichen Betrachtung und nicht als Gemeindegesang gedacht. ![]() Bittlieder um Bewahrung vor Unwetter, Teuerung, Seuchen, Krieg Tief in das Gedächtnis vor allem der ländlichen Bevölkerung hatte sich die Abhängigkeit vom Wetter und die Hilflosigkeit bei langen Regenzeiten und anhaltender Dürre eingebrannt. Sie hatte Verteuerung, Hunger, Verelendung und massenhaftes Sterben zur Folge. Solche drückenden Teuerungs- und Hungerzeiten kehrten in gräßlicher Regelmäßigkeit ständig wieder. Wilhelm Abel nennt in seiner Arbeit „Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa“ im Reformationsjahrhundert folgende Teuerungs- und Hungerzeiten: 1515-1517/ 1527-1534/ 1551-1552/ 1557-1559/ 1570-1574/ 1586-1587/ 1594-1597 (Abel S. 27 ff). Eine Unwetterwelle ging auch im Erscheinungsjahr des Gesangbuches 1696 und folgende Jahre über Europa hinweg. (Abel S. 163 f). Diese Teuerungs- und Hungerzeiten waren vor allem verursacht durch lange, harte Winter (1512/13; April 1530; 1532/33; 1584/85), durch anhaltenden Regen (1516/1517;1586/), durch Hitze (1531; 1540; 1545). Diese Abhängigkeit spiegelte sich auch eindrucksvoll im Gesangbuch wieder. „Das Land ist nichts als Asch und Staub/ dadurch verdorret Gras und Laub/ das ganze Land sieht jämmerlich/ fürs Vieh kein Futter findet sich“ (Nr. 629,2). „Die Hitz ist groß, man spüret kaum/ in Wäldern einen frischen Baum/ Die Flamm hat angezündet/ die Felder, Stauden, Laub und Gras/ dieweil man weder Tau noch Naß/ im ganzen Lande findet. Es schreien auch die wilden Tier/ in dieser Dürre für und für/ sie nahen sich dem Sterben/ sie stehn und gaffen jämmerlich/ die Fisch im Wasser blähen sich/ sie fühlen ihr Verderben“ (Nr. 628,8+9). Neben Dürrezeiten gab es auch anhaltende Regenjahre. Man sprach im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts von einer kleinen Eiszeit. „Der Himmel ist verdunkelt ganz/ Es ist der helle Sonnenglanz/ mit Wolken ganz bedecket/ Der Regen unaufhörlich träuft/ dadurch das Land wird fast ersäuft/ Viel Krankheit auch erwecket (Nr. 625, 2). In dieser Not bittet der Fromme: „Des Himmels Fenster stopfe bald/ und wehr hinfort dem Regen/ Du kannst ja plötzlich die Gewalt/ der Wolken niederlegen“ (Nr. 626,7). Dürre und Nässe haben Mißernten, Verteuerung der Lebensmittel und Hunger zur unmittelbaren Folge. „Wir schreien itzt in unsrer Not/ und hochbetrübten Stande/ Es mangelt uns das liebe Brot/ die Teurung ist im Lande/ Der Hunger drückt uns trefflich schwer/ das Völklein muß verschmachten/ es läuft und bettelt hin und her/ dies will kein Reicher achten/ noch fremde Not betrachten“ (Nr. 633, 2). Ebenso hilflos wie dem Unwetter war die Bevölkerung insbesondere auf dem Lande den Kriegen mit Plünderung, Zerstörung der Felder, erpresserischen Abgaben, Niederbrennen von Häusern ausgesetzt. Die Erfahrung von Reformation und Krieg gehörte für sie zusammen. 1542 hatten protestantische Heere das Herzogtum erobert, hier und da übel zugerichtet, und mußten es nach sieben Jahren wieder dem katholischen Herzog Heinrich d.J. überlassen. Zwischendurch visitierte Bugenhagen das Land und entwarf für sie eine Kirchenordnung, die keine Bedeutung erlangte. In der Schlacht von Sievershausen 1553 starben 4.000 Soldaten. Während des 30jährigen Krieges fand eine entscheidende Schlacht bei Lutter am Barenberge statt, die 8.000 Tote auf beiden Seiten forderte. „Die Leichnam deiner Heilgen wert/ sind worden Vogelspeise/ und von den Tiern im Land verzehrt: Ach Herr, dein Macht beweise“ (Nr. 592,3), schildert anschaulich die Klage der zurückgebliebenen Landbevölkerung. Aber nicht nur die Kriege vor der Haustür beschäftigten die Menschen. Die Osmanen (Türken) standen 1529 vor Wien, in ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen festigte sich erst im 18. Jahrhundert eine Grenze zwischen Österreich und dem osmanischen Reich. Mehr noch als der Krieg dezimierte die Pest und andere Seuchen die Bevölkerung. In Helmstedt forderte die Pest 1625/26 1.400 Tote. In dieser ersten Seuchenwelle des 30jährigen Krieges verringerte sich die Bevölkerung im Herzogtum um 30-40 Prozent, in der zweiten Seuchenwelle 1638 um 20 Prozent, in der benachbarten Kurmark Brandenburg bis zu 50 % der Bevölkerung und in Mecklenburg über 66 Prozent. Ansteckende Krankheiten überzogen immer wieder wellenartig das Herzogtum. Noch 1850 starben 10.000 Menschen im Herzogtum an Cholera. Diese furchtbare Lage spiegelte sich im Gesangbuch wider. 56 Lieder sind unter der Rubrik „Creutz und Unglück“ (Nr. 520-75) gesammelt, es folgen 14 Lieder von der „Allgemeinen Not“, die mit der Litanei beginnen (Nr. 576-589), dann 19 Bittlieder um Bewahrung vor Krieg und Bitte um Frieden (Nr. 590-608), 14 Bittlieder um Bewahrung vor der Pest (Nr. 609-622), 19 Bittlieder um Bewahrung vor Teuerung, Hunger, Dürre und Regen (Nr. 623-641). Später folgen 25 Lieder „Vom menschlichen Elend (Nr. 676-690) und 69 Lieder von Tod und Sterben (Nr. 691-759). Das sind insgesamt über 200 Lieder von der täglichen Not, die abgeschlossen werden mit 20 Liedern vom Jüngsten Gericht (Nr. 760-779) und von Himmel und Hölle (Nr. 780-799). Schon Luther hatte im Lied „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“ sehr konkret gebetet: „und steur des Papst und Türken Mord“. „Die Türken, Tartarn hauffenweis/ indessen brauchen großen Fleiß/ zu brennen rauben morden sehr/ und was da schmerzet noch vielmehr/ so führen sie in Strick und Band/ viel tausend weg aus unserm Land“ (Nr. 590,4; auch Nr. 600,4). Es möge Gott mit seiner Hilfe erscheinen „dein’m Volk in seinem Leiden/ Es sind gefalln ins Erbe dein/ ein großer Haufe Heiden. Von ihn’n dein Gottesdienst und Wort gelästert wird an manchem Ort/ und jämmerlich zerstöret“( Nr. 592,1). Es sind aber nicht nur die Fremden, sondern auch „die Reich’n die dir tun Widerstand/ und deinen Namen schänden. Sie fressen auf die Christenheit/ sie toben wüten morden/ verwüsten Kirchen Land und Leut/ wir sind sehr dünne worden“ (592,5+6). Nach der Melodie „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ klagt der Fromme, „daß die Pest, ein scharfer Pfeil/ fleucht um uns her in schneller Eil/ von einem Ort zum andern...Man höret in so manchem Haus/ nur weinen und wehklagen/ man trägt die Toten häufig aus/ als wären sie erschlagen/ der Pestilenz geschwinder Gift/ die meisten Leut sehr plötzlich trifft/ und ist fast nicht zu heilen“ (609, 1+3; auch Nr. 621,2). Die Pest „ist noch schneller als das Schwert“ (Nr. 612,3), und die Isolierung grausam. „Schau wie uns die Menschen hassen/ und die nächsten Freunde lassen/ Wir sind aller Leute Spott/ die uns achten wie den Kot// Du hast uns gemacht zu Waisen/ Unsre besten Freund sind tot/ und wir müssen täglich speisen/ uns mit bittrem Tränenbrot/ und vor unserm Haus und Toren/ stopft ein jeder seine Ohren/ jeder fliehet diesen Ort/ Niemand redt mit uns ein Wort“ (Nr. 619, 2+3). ![]() Diese Bittlieder haben entlastende Funktionen. Der Fromme kann wenigstens seine Hilflosigkeit hinausschreien, und die Hinwendung zu Gott eröffnet ihm immer noch eine Aussicht auf Wendung aus der Notlage. Problematisch dagegen ist die Verbindung jeder Notlage mit der persönlichen Sündhaftigkeit des Frommen. Der Erreger der Not sind nicht verfehlte Politik und mangelhafte ärztliche Versorgung sondern die Abwendung der Menschen von Gott. Die Menschen haben die guten Gaben Gottes lange „zu Pracht zu Wollust Üppigkeit/ und Schwelgerei mißbrauchet/. Wir haben unsern Nebenchrist/ gedrücket und betrogen/ durch Rechtes Schein, Gewalt und List/ das Seine ihm entzogen/ Darum sich nun die Strafe findt/ ach unsre unbekannte Sünd/ wird öffentlich vergolten“ (Nr. 605, 23+3). Es ist das alte Lazarus-Jedermannmotiv, der in guten Zeiten Gott vergißt und dann böse Zeiten erlebt. „Zwar da wir waren satt und stark/ da ließen wir dich fahren/ Ein jeder fraß das beste Mark/ so daß sehr wenig waren/ welch etwas wollten sparen// Wir machten lauter gute Zeit/ mit Spielen, Essen Trinken/ Wir ließen kein Barmherzigkeit/ zum armen Häuflein sinken/ Wir halfen nicht der matten Schar/ sehr bös war unser Leben/ drum müssen wir jetzt offenbar/ in diesem Jammer schweben“ (Nr. 633, 4+5). In immer neuen Bildern, die an mittelalterliche öffentliche Geißelungen erinnern, wird die Sünde der Menschen beschworen: „wir haben unser ganzes Land und Häuser oft beflecket/ Mit Unzucht Greuel Sünd und Schand/ es hat uns nicht erschrecket/ des Höchsten Wort und Donnerstimm/ Ist es denn wunder, daß sein Grimm/ uns so hat angestecket“(Nr. 612,8). „Angestecket“ – damit meint der Dichter, daß Gott selber der Erreger der Pest ist und fährt fort: „Du schlägst zu Zeiten eine Beul/ und kannst jedoch dieselb in Eil/ als unser Arzt verbinden“ (Nr. 612,12). ![]() Die Sünde der Menschen erregt Gottes Zorn. In drastischen Bildern wird dieser Zorn Gottes als blutge Rute Gottes beschrieben („und laß nicht wüten deine blutge Rut“ Nr. 585,1). Der Fromme bittet daher nach der Melodie „Vater unser im Himmelreich“: „Nimm von uns Herr du treuer Gott die schwere Straf und große Rut/ die wir mit Sünden ohne Zahl verdienet haben allzumal/ behüt vor Krieg und teurer Zeit/ vor Seuchen, Feur und großem Leid“ (Nr. 586,1 = EG 146). Dieses Lied ist, offenbar ohne große Nachfragen, bis in das gegenwärtige Gesangbuch überliefert, wobei nur das Wort „Rut“ durch „Not“ ersetzt worden ist. Das Lied ist eine Verdeutschung des mittelalterlichen Liedes „Aufer immensam“, und dem entspricht auch sein theologischer Hintergrund. Gott könnte die Not wenden, wenn er wollte, denn „Du bist der Held, der sie kann untertreten/ und das bedrängte kleine Häuflein retten“ (Nr. 597,5). Der Fromme erinnert Gott an Jesus und seinen Tod am Kreuz, durch den er Erlösung geschaffen habe, eben auch aus derlei akuten Notlagen. Jesu Blut löscht den Zorn Gottes. „Laß deinen Zorn vorübergehn/ damit die Krankheit weiche/ Wie laufen alle her zu Hauf/ und rufen: Vater, Vater/ Nimm uns durch Christi Blut doch auf/ Sei Helfer und ein Rater“ (Nr. 613,1+2). Der Fromme erinnert Gott an die Vergebungskraft des Todes Jesu: „Du wirst mir noch genädig sein/ durch deines Sohnes Sterben/ weil der für mich gebüsset hat/ wollst du mir alle Missetat/ aus Gnaden nun vergeben“ (614, 3). Es sind aber nicht nur Sünde und Schuld, die den Frommen motivieren, sich an Gott zu wenden. Mit seinem Bittlied will der Fromme seinen Gott aufwecken: „Unfried, Teurung auf aller Seit/ Krankheit und Pestilenze/ hab’n sich schon stark zum Streit bereit’t/ zu plagen unsre Grenze/ wach auf wach auf herzliebster Gott/ verlaß uns nicht in unsrer Not“ (Nr. 594,2). Der geplagte Fromme erinnert Gott an sein eigenes Heilswerk: „Hast du denn verwerfen können/ die auf dich getaufet sind/ und nach dir sich Christen nennen/ Du bist Vater wir das Kind/ Ekelt dir vor uns so gar/ daß du zuschlägst immerdar?“ (Nr. 620, 4). In diesen Kreis der Bittlieder gehören aber auch Danklieder für Bewahrung: „Das Wetter ist vorbei/ durch Gottes Vatertreu/ Nach unserem Verlangen/ ist es wohl abgegangen/ Wir sind der Furcht entledigt/ und ist gar nichts beschädigt“(Nr. 641, 1). Jesus wird als der Friedefürst angerufen, „ein starker Nothelfer du bist im Leben und im Tod.“ Dieses Lied findet sich auch im EG (EG 422, 1-3). Es hatte ursprünglich sieben Strophen (1696: Nr. 593, 1-7), das EKG (EKG 391,1-5) noch fünf Strophen und das EG drei Strophen. Wir haben dieses Lied in der Regel am sog. Volkstrauertag gesungen. Das EKG beließ noch jene Strophen, die den Krieg als verdiente Schuld bezeichnete: „Verdient haben wir alles wohl/ und leidens mit Geduld/ doch größer deine Gnad sein soll/ denn unsre Sünd und Schuld/ darum vergib/ nach deiner Lieb/ die du fest zu uns trägest“ (EKG 391,4). Für die Auslandseinsätze der Bundeswehr gilt dies nicht mehr, denn diese Strophe ist gestrichen. Die ursprünglichen Strophen fünf und sechs geben trotzdem auch heute zu denken: „Es ist groß Elend und Gefahr/ wo Pestilenz regieret/ aber viel größer ist fürwahr/ wo Krieg geführet wird/ Da wird veracht’/ und nicht betracht’/ was recht und löblich wäre// Da fragt man nicht nach Ehrbarkeit/nach Zucht und nach Gericht/ Dein Wort liegt auch zu solcher Zeit/ Und geht im Schwange nicht/ Drum hilf uns Herr/ Treib von uns fern/ Krieg und all schädlich Wesen“ (Nr. 593,5+6). Die Lieder in der Kirchenordnung von Herzog Anton Ulrich 1709 Die Kirchenordnung vom 1. Mai 1709 unter dem Namen von Herzog Anthon Ulrich war kirchenpolitisch motiviert und nicht kirchenreformerisch. Der alte Herzog hatte sich entschlossen, persönlich zum römisch-katholischen Glauben zu konvertieren, ohne jedoch am Glaubensstand seines Herzogtums etwas ändern zu wollen. Um diese Absicht zu bekräftigen, erließ er kurz vor seinem Übertritt eine Kirchenordnung, die im wesentlichen vom obersten Geistlichen der Landeskirche, dem Konsistorialrat Gottlieb Treuer stammte. Treuer war seit 1706 Generalsuperintendent, später der höchste Geistliche des Landes, ein orthodoxer Lutheraner. Nun hieß es bei der Austeilung des Abendmahls: „Das ist der wahre Leib“ und „das wahre Blut Jesu Christi“. Das unbiblische Hinzufügung des Wörtchens „wahr“ verriet Angst vor Verunreinigung der lutherischen Lehre und weckte eher Zweifel; denn mehr als Leib und Blut Christi hatte der Pfarrer nicht auszuteilen. Daß beides nun auch noch „wahr“ sein sollte, paßte nicht zum Bild von Leib und Blut. Der Segen am Schluß des Gottesdienstes wurde leider auch verändert. Nun hieß es nicht mehr „der Herr erleuchte sein Angesicht“, sondern wie bis heute „lasse leuchten sein Angesicht“. Dadurch wurde der Parallelismus von „erleuchten“ und „erheben“ („der Herr erhebe..“) zerstört, was sprachlich schade war. Die Kirchenordnung enthielt wie bisher auch eine Gottesdienstordnung. Der Unterschied von Gottesdiensten auf dem Land und in der Stadt wurde aufgehoben. Die Rollen zwischen dem Pastor, dem Kantor und seinem Schülerchor und der Gottesdienstgemeinde waren wie schon in der Kirchenordnung von Herzog August festgelegt und unverändert. Die Gemeinde sang das Gloria in excelsis in Form von „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ oder „Ehr sei Gott in der Höhe“ und nach der Lesung des Evangeliums „singet man aus den gebräuchlichen Gesang-Büchern einen Teutschen Gesang, der sich auf die Zeit oder auf die Predigt schickt“. Dieses deutsche Lied sang in der Regel nicht die Gemeinde sondern der Kantor oder der Schülerchor. Die Gemeinde schloß sich mit dem gesungenen Glaubensbekenntnis in Form von „Wir glauben all an deinen Gott“ oder „Ich glaub an einen Gott allein“ an. Es könnte aber „auch gleich vor der Predigt „Herr Jesu Christ dich zu uns wend“ oder „Liebster Jesu wir sind hier“ gesungen werden. Nach der Predigt erfolgte kein Predigtlied sondern Beichte, Absolution, Fürbitte, Vaterunser und Segen von der Kanzel. Danach konnte noch ein Lied mit Bezug auf die Predigt gesungen werden und nach einem kurzen Wechselgesang ein „kurzes Loblied“. Das war die Ordnung auf dem Papier. In der Regel ging die Gemeinde nach dem Segen von der Kanzel nach Hause. Beim Abendmahlsgottesdienst mußte ein Lied gesungen werden, um die Zeit zu überbrücken, die der Pastor brauchte, um von der Kanzel an den Altar zu kommen. Dazu schlug die Kirchenordnung das Lied „Allein zu dir, Herr Jesu Christ“ oder „Sieh nicht an unsre Sünde groß“ vor. Während des Abendmahls sollten Passionslieder oder Gesänge vom Abendmahl gesungen werden, ob vom Kantor und Schülerchor oder von der Gemeinde blieb offen. Nach dem Segen wurde „Herr nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren“ oder „Gott sei gelobet und gebenedeiet“ gesungen. Auch diese Kirchenordnung kannte nicht wie im heutigen Gottesdienst mehrere von der ganzen Gemeinde gesungene, Sonntag für Sonntag wechselnde Choräle, sondern die Gemeinde übernahm mit dem Singen immer dieselben Lieder als liturgische Stücke (Gloria und Credo) und ebenfalls sonntäglich dasselbe Lied vor der Predigt, währenddessen der Pastor die Kanzel bestieg. Bei den Nachmittagsgottesdiensten war die passive Rolle der Gemeinde noch gravierender. Dieser Gottesdienst war ein in gottesdienstlichen Formen abgehaltener Konfirmandenunterricht. Der Kantor sang „Komm heiliger Geist“, darauf einen Wechselgesang mit den Schülern und darauf einen deutschen Hymnus nach der Kirchenjahreszeit. Zwei Jungen sagten einen Teil des Katechismus auf „langsam, laut und deutlich“ und dann wurden die Kinder die Fragen und Antworten aus dem Katechismus von Gesenius abgefragt. Vor der nun folgenden Predigt sang die Gemeinde „Liebster Jesu wir sind hier“ und nach Vaterunser und Segen „Nun Gottlob es ist vollbracht“. Auch diese Kurzform des Gottesdienstes ließ kaum Platz für wechselnde Lieder aus dem Gesangbuch. Die Beteiligung der Gemeinde beschränkte sich auf einige wenige festgelegte Lieder. Im Laufe der Zeit verkürzte sich der Gottesdienst immer mehr. Die Ordnung des Gottesdienstes nach der Kirchenordnung war eine Idealvorstellung, die nach den Örtlichkeiten je variierte. Exkurs: der Katechismus von Justus Gesenius Der in der Kirchenordnung von Anton Ulrich erwähnte Katechismus von Justus Gesenius wurde in der Bearbeitung von Generalsuperintendent Joh. Eberhard Bußmann noch 1850 in Braunschweig bei der Hofbuchdruckerei Joh. Heinr. Meyer auf 216 Seiten in Taschenformat in großem Buchstabendruck aufgelegt. Er war also fast 200 Jahre in Geltung. Justus Gesenius (1601-1673) war 1629 Pfarrer an der Magnikirche in Braunschweig gewesen und wurde 1636 Hofprediger von Herzog Georg in Hildesheim und zugleich in das Konsistorium für den Bezirk Calenberg/ Hannover berufen. Er wurde Generalissimus für den Bezirk Calenberg und schuf mit seinem Kollegen Denecke das erste Hannoversche Gesangbuch und blieb in der Kirchenleitung bis zu seinem Tod 1673. (Beste S. 217 ff und Carl Bertheau Artikel Justus Gesenius in RE Bd VI S.622 ff und Beste). Der von ihm geschaffene Katechismus hatte eine längere Entstehungsgeschichte, schließlich bildete sich eine Art Grundausgabe heraus, die von manchen späteren Herausgebern unwesentlich verändert wurde. Ich benutze die Standardausgabe vom Helmstedter Generalsuperintendenten Bußmann. Der Katechismus gliederte sich wie schon bei Gesenius vor zweihundert Jahren in vier Teile. Zunächst ist der Wortlaut des Katechismus von Martin Luther ohne Erklärung „für die allererst anfangenden Catechismus-Schüler“ (S. 3-8) (Teil 1) wiedergegeben, dann mit Luthers Erklärung (Teil 2) und darauf folgen als Teil 3 die „einfältigen Fragen über den heiligen Catechismum, welche auch die Allereinfältigsten zum wenigsten verstehen müssen“ (S. 22-48), in Form von insgesamt 49 Fragen und 102 Bibelstellen. Die Fragen sind folgendermaßen gegliedert: 1. Von Erkenntnis unser selbst (Frage 1-13), 2. Von des Menschen Erlösung (Frage 14-25), 3. Wie der Mensch solcher Erlösung teilhaftig werde (Frage 26-49). Die Hauptstücke des Katechismus wie die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser werden im Teil drei gar nicht behandelt. Diese wurden im Teil vier für fortgeschrittene Schüler als „Ausführliche und vollständige Fragen und Antworten über die fünf Hauptstücke des heiligen Katechismus (S. 48-182) gründlich durchgenommen. Es sind insgesamt 239 Fragen: 61 zu den zehn Geboten, 63 zum Glaubensbekenntnis, 29 zum Vaterunser, 28 zur Taufe und 16 zum Abendmahl, vorweg 42 allgemeine Fragen. Schließlich beendeten 17 Fragen und Antworten zu den sog. Haustafeln „darinnen heilsame Lebensregeln für allerlei Stände der Christenheit zusammengezogen sind“ (S.182-190) und „Christliche Fragestücke mit ihren Antworten für die, so zum Sakrament gehen wollen“ von M. Luther (S.190-194) und einige Gebete den Katechismus. Der dritte Teil war für die „Allereinfältigsten“ also für 8-12 Jährigen gedacht. Dieses Minimum war Voraussetzung für den Schulabschluß und die Konfirmation. Im ersten Teil „vom Erkäntniß unser selbst“, wurden die Kinder über sich belehrt, nämlich warum sie überhaupt auf der Erde waren. Darüber hatten sie sich tatsächlich bisher keine Gedanken gemacht. Frage 1:„Zu was Ende und aus was Ursachen hat Gott den Menschen anfangs erschaffen und auf die Welt gesetzt? Was hat Gott damit gemeint, dass er ein solches Geschöpf als der Mensch ist gemacht und ihm den Erdboden zu bewohnen eingetan hat? Warum und zu was Ende lebt eigentlich der Mensch in dieser Welt?“ Drei Antworten waren richtig: „Daß der Mensch 1.Gott seinen Schöpfer erkenne, ehre und ihm diene. 2. Daß er auch seinem Nächsten Dienste und Liebe erweise. 3. Weil er hie keine bleibende Stätte hat, daß er derowegen die zukünftige suche. (Heb. 13 v.14).“ Es folgten acht Fragen zur Ebenbildlichkeit des Menschen, wonach der Mensch gut, unsterblich und gottwohlgefällig war, und zu dessen Verlust durch Adam. Frage 8: „Haben denn alle Nachkommen Adams durch seinen Ungehorsam das Ebenbild Gottes verloren?“ Ja. Durch einen Menschen ist die Sünde gekommen in die Welt“ usw. Frage 9: „So sind alle Menschen von Natur und ihrer Geburt halber unter der Sünde und Verdammnis?“ „Ja wir sind allzumal Sünder..“usw. Diese allgemeine Feststellung wurde nun persönlich auf den Schüler bezogen. Frage 10: „Bist du denn auch von Natur und wegen deiner Geburt ein Sünder? Bist du auch in Sünden empfangen und geboren? Ja: ich bin aus sündlichem Samen gezeuget und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.“ Das ist nach dem 4. Gebot, wonach das Kind Vater und Mutter ehren soll, die erste ausführlichere Auskunft über seine Eltern. Die Mutter hat was mit Sünde zu tun. Sie habe ihn „in Sünden empfangen“. Das wird der Pastor näher erklären müssen. Aber das ist noch nicht existentiell genug. Damit eine Schuld nicht etwa bei den Eltern hängen blieb, fragte der Pastor noch näherhin: Frage 11. „Weil du in Sünden empfangen und geboren bist, hast du auch wirklich gesündigt? Ja. 12. Frage: „Woher weißt du das? Aus den zehn Geboten“. Das Kind erfährt etwas über sich, was es bisher noch nicht wußte. Es ist schlecht und zwar gründlich und von Anfang an. Das wird ihm neu gewesen sein. Es gab Streit zu Hause und Widerrede und auch Prügel. Es war eigensinnig und eigenwillig, aber es hat sich nicht als total schlecht empfunden. Vielleicht hatten auch die anderen Schuld. Vermutlich meistens. Nun erklärte ihm sein Pastor, woher das alles kommt: die Welt war schlecht, die Menschen auch und Schuld daran war er selber, das Kind. Frage 13: „Was hast du denn mit solchen deinen Sünden verdienet? Was hast du zu gewarten, wenn Gott nach Recht mit dir verfahren will? Gottes Zorn und Ungnade, zeitlichen Tod und ewige Verdammnis.“ Mit dieser deprimierenden Antwort endete das Kapitel über die vom Pastor eingeredete katastrophale Selbsteinschätzung und Selbsterkenntnis des „Allereinfältigsten“, des Kindes. Der zweite Teil beschrieb die Erlösung des Menschen aus dieser seiner mißlichen Lage. Frage 14. „Das ist traun ein groß Unglück und schreckliche Strafe. Hast du dawider keinen Trost? Hast du dawider keine Hilfe? Ja: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. 15. Ich muß dich das noch einmal fragen: Wes tröstest du dich denn wider solch groß Unglück, wider Gottes Zorn und die ewige Verdammnis? Meines lieben Herrn und Erlösers Jesu Christi“. Es folgen 5 Bibelstellen Frage 16. „Wer ist dein Erlöser? Wer hat dich erlöst? Jesus Christus. Nun folgte nicht etwa eine kindgerechte Beschreibung des Jesus von Nazareth, sondern die Gestalt von Jesus wurde in die Trinitätslehre eingeordnet. Frage 17 Wer ist Jesus Christus? Ist er ein Engel? Mensch oder Gott selbst?“ Auf diese Frage wäre der Jugendliche nicht gekommen? Was ist an dieser Frage für ihn wichtig? Aber der Pastor will auf die Zweinaturenlehre kommen. Also lautet die Antwort: Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Die nächste Frage Nr. 18 schließt schlecht an. Sie lautet: „Sind denn viel Götter? „Nein. Wir glauben alle an einen Gott, der 1. einig ist in seinem Wesen, aber 2. dreifaltig in Personen, ein wahrer Vater, Sohn und heiliger Geist“. Nun wird das Kind über die Geheimnisse der Trinität aufgeklärt und wird als grundlegende Frage für die Einfältigsten ernsthaft gefragt: 20. „Welche Person unter diesen dreien hat dich erlöst? Welche Person hat das Werk der Erlösung verrichtet? Welche Person in der heiligen Dreifaltigkeit ist für dich gestorben? Ist die erste, die andre oder die dritte Person, der Vater, der Sohn oder der heilig. Geist für dich gestorben?“ Der Pastor stellt vier Fragen hintereinander, aber das Kind braucht nur die richtige Antwort nachzuplappern: „Die andre Person, der Sohn Gottes“ Nachdem das Kind zur rechten, aber üblen Selbsterkenntnis geführt worden ist und aus seinen Sünden durch Christus erlöst ist, stellte sich das ethische Problem der Teilhabe und Anwendung der Erlösung, was im dritten Tel behandelt wurde. Frage 26 „Werden denn alle Menschen solcher Erlösung teilhaftig? Werden alle Menschen los von der Sünde, vom Tode, von der Macht und Gewalt des Teufels? Nein. Sie können zwar 1) alle durch Gottes Gnade. 2) Sie wollen aber nicht alle nach Gottes Ordnung und Willen Buße tun, glauben und gottselig leben.“ Teilhaftig wird der Mensch solcher Erlösung durch Buße, Glauben an das Evangelium, gute Früchte der Buße zu tun und das Joch Christi auf sich nehmen. Es ist alles ein bißchen viel auf einmal, aber es entsprach der Dogmatik, weniger den Fragen und Lebensgewohnheiten des Jugendlichen. Auf die Frage 29, was zur wahren Buße gehöre, erfuhr das Kind: Reue und Leid über die Sünde, wahrer Glaube und fester Sinn, Vorsatz und Fleiß, Böses zu lassen und Gutes zu tun und über den Kämpfen wider die Sünde nicht müde werden. Von dieser allgemeinen Feststellung schwenkte Gesenius mit Frage 30 wieder auf den Jugendlichen zu und diktierte die fällige Reue über die Sünde: „30. Reuet dichs auch und ist es dir leid, dass du gesündigt hast? Ja. Es ist mir leid und reuet mich sehr. 31. Warum ist es dir leid? Warum reuet es dich sehr? (1) Weil ich an dem gerechten heiligen Gott, meinem Herrn, gesündigt habe, der die Sünde hasset und strafet. (2) Weil ich auch an dem allgütigen Gott gesündigt habe, der mir unaussprechlich viel Gutes getan und versprochen hat. (3) Weil ich so viel und mannigfaltig und auch gröblich gesündigt habe.“ Es folgen acht Bibelzitate. „32. Bist du aber durch den Glauben der Vergebung deiner Sünden versichert und vergewissert? Ja, es heisset: Kindlein, sündiget nicht, ob aber jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christ, der gerecht ist, der ist die Versöhnung für der ganzen Welt Sünde. (1. Joh.2, v1.2)“. Es folgen 4 Bibelzitate. „33. Womit hat dich Christus erlöset? Es folgt der Wortlaut der lutherischen Erklärung: nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben. „34. Zu welchem Ende hat Christus dich so teuer erkauft und erlöset? Was hat er damit wollen ausrichten und zuwege bringen? Erstlich dass ich hie sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene. Zum andern, dass ich denn auch einmal dorten bei ihm sei und lebe in ewiger Gerechtigkeit Unschuld und Seligkeit, in dem ewigen Leben. 35. Kannst du denn an Christum gläuben und ihm dienen und gehorsam sein aus deinen eigenen Kräften und Vermögen?“ Spätestens hier würde das Kind die Antwort: natürlich will und kann ich an Gott glauben, erwarten, aber das wäre nicht lutherisch korrekt. Die korrekte dogmatische Antwort lautete: „Nein: Gott ists, der in uns durch seinen Geist wirkt, beide das Wollen und Vollbringen nach seinem Wohlgefallen. Den muß ich darum bitten und anrufen.“ Die letzten 14 Fragen beziehen sich auf die Taufe und das Gewissen des Kindes. Am Schluß sollte es ermutigt werden, sich Gott anzuvertrauen. „49. Was hast du davon, dass Gott dein Vater ist? Was hilft es dich, dass du Gottes Kind bist? Was nützt dir die Kindschaft? (1) Weil ich Gottes Kind bin, so hat er allen Zorn fallen lassen, ist mein gnädiger Vater, liebet und versorget mich väterlich. (2) Darf ich in allen Nöten ihn anrufen und alles, was ich bitte, nach seinem Willen, das will er mir geben. (3) Gibt er mir seinen kindlichen Geist in mein Herz, der mich durch sein Wort lehre, tröste und zu allem Guten stets antreibe (4) Will er mir, als einem Kinde, das ewige Erbe im Himmel schenken: Darauf heißt er mich hoffen und warten.“ Folgen acht Bibelstellen. Das ist der Schluß der Erklärung für die Allereinfältigsten. Dieser Katechismus von Gesenius galt seinerzeit als Reformkatechismus und wurde von orthodoxen Lutheranern heftig angegriffen, weil es nicht der äußersten lutherischen Linie folgte, was wir heute kaum nachempfinden können. Gesenius war enger Schüler vom Helmstedter Prof. Georg Calixt, der sich eher um einen Ausgleich zwischen den Konfessionen bemühte als um die starre Aufrechterhaltung eines lutherischen Erbes. Der Katechismus war eine aus der Gemeindearbeit entstandene selbständige Arbeit vom Gemeindepfarrer Gesenius, die wegen ihrer Selbständigkeit das Mißfallen von Herzog August erregte, der daraufhin seinen Generalissimus Lütkemann mit der Erstellung eines Wolfenbüttler Katechismus beauftragte. Dieser Lütkemann-Katechismus konnte sich aber nicht durchsetzen und auch ein weiterer Katechismus-Versuch nicht. Erst nach dem Tode von Herzog August wurde der Gesenius-Katechismus 1669 zum formellen Landeskatechismus erhoben und blieb es. Das Reformerische an ihm war die persönliche Hinwendung zum Kind durch persönliche Fragen in Du-Form und das Bemühen um Behältlichkeit etwa durch Wiederholen der Fragen. Was damals als reformerisch galt, wirkt heutzutage befremdlich. Auch bei dem Versuch, den Katechismus „aus seiner Zeit heraus“ zu verstehen, wurde dem Kind eine ihm völlig fremde Welt von Sätzen und Behauptungen als angebliche Wahrheiten vorgesetzt und übergestülpt, die für das Kind unfaßbar bleiben mußten und die sie nur auf Grund der Autorität des Pastors und Lehrers hinnehmen konnte. Tatsächlich aber wird durch die Vermittlung dieses Katechismus die innere Entfremdung des Kindes von dieser Art Kirche schon im diesem frühen Stadium eingesetzt haben. Die Gestaltung des sonntäglichen Nachmittagsgottesdienstes mit einem halbstündigen Frage- und Antwortspiel aus dem Gesenius-Katechismus, woraufhin noch eine wenigstens halbstündige Predigt folgte, hat zu einer unpassenden Verschulung des Gottesdienstes geführt. Außerdem sollte eine halbe Stunde gesungen werden. Inmitten eines derartig verschulten Gottesdienst konnte ein fröhliches Singen kaum gedeihen. Es erfolgte eine Abstimmung mit den Füßen. Die Pastoren klagten über den miserablen Besuch dieser Nachmittagsgottesdienste. Die folgenden Gesangbuchausgaben 1708 war eine neue Auflage des Gesangbuch herausgekommen. Anton Ulrich schrieb dazu im Vorwort, daß es an Gesangbüchern fehle, und das Konsistorium die Ausgabe von 1698 revidiert, „in gewissen Stücken besser verfaßt“, und um verschiedene Lieder vermehrt habe. Dieses Gesangbuch sollte durch die Spezialsuperintendenten und die Ortspfarrer rasch in den Gemeinden verbreitet werden. Dieses Gesangbuch hatte nun 870 Lieder, was bedeutete, daß die alten Liednummern des Gesangbuches von 1696 nicht mehr galten. Als Nr. 36 war das Lied „Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich“ neu aufgenommen worden, damit verschoben sich alle weiteren Nummern. Von den insgesamt neuen 63 Liedern waren 10 Paul Gerhardt-Lieder, der nun wieder zu Ehren kam. Auch das Titelblatt hatte sich erheblich geändert. Nun stand dort erstmals zu lesen, daß das Gesangbuch „aus landesväterlicher Fürsorge und Verordnung des hochfürstlichen Konsistoriums“ neu aufgelegt und verbessert wäre. 1710 erschien erstmals eine verkürzte Ausgabe von 390 Chorälen „zu bequemerem Gebrauch und Erleichterung des Preises aus dem größeren Gesangbuch ausgezogen“. Damit waren die Nummern zwar wieder völlig durcheinandergekommen, aber auf diese kam es auch gar nicht an. Ob dieses kleinere Gesangbuch eine weitere Auflage erlebt hat, erscheint zweifelhaft. Ein Herzogwechsel fördert die Gesangbuchauflage 1714 war Anton Ulrich gestorben und sein Nachfolger Herzog August Wilhelm leitete eine lutherische Restauration ein. Zwei Jahre nach Regierungsantritt erschien 1716 eine neue Gesangbuchausgabe mit einer weiteren Vermehrung der Lieder. An die 870 Lieder wurden 43 neue in einem Anhang am Ende angefügt. Unter ihnen ist nur ein einziges, das sich auch später erhalten hat „Bis hierher hat mich Gott gebracht“ (GB 1735 Nr. 886/ 1780 Nr. 426 unverändert!/ 1902 Nr. 390/ EKG Nr. 236/ EG Nr. 329). Die meisten anderen Lieder fallen durch eine intensive Jesusmystik auf. Offenbar wollte die Kirchenleitung der Frömmigkeitsstimmung im Lande entgegenkommen. In dem Lied „Meinen Jesus laß ich nicht, denn er ist allein mein Leben“ (GB 1735 Nr. 872) wurden die Gründe und Gelegenheiten für die Einheit zwischen dem Frommen und Jesus genannt: „weil kein beßrer Freund auf Erden“ (Str. 2), „wann mich alle Menschen hassen“ (Str. 3), „wenn mich meine Sünden quälen“ (Str. 4), „wenn mir bricht in letzten Zügen meiner Schwachheit Augenlicht“ (Str. 5). Alle fünf Strophen des nächsten Liedes (GB 1735 Nr. 873) beginnen mit dem Satz „Meinen Jesum will ich lieben.“ Die Strophe des nächsten Liedes (BG 1735 Nr. 874) lautet (auf die Melodie von „Es ist das Heil uns kommen her“ zu singen): „Mein Herzens-Jesu, meine Lust/, an dem ich mich vergnüge/ der ich an deiner Liebesbrust/ mit meinem Herzen liege“. In den folgenden 18 Strophen wird Jesus besungen als „Du bist mein wunderbares Licht, mein sicherer Himmelweg, mein süßes Himmelsbrot, mein Trank und deine Frucht/ ist meiner Kehle Süße, mein allerschönstes Kleid, mein Schloß und sicheres Haus, mein treuer Seelenhirt, mein holder Bräutigam, mein auserkorner Freund, mein Leitstern, mein Garten/ da ich mich in stiller Lust ergötze/ mein liebstes Blümlein welches ich/ darein als Zierde setze“. Strophe 18: „Was soll ich Schönster wohl von dir/ noch weiter sagen können/ ich will dir meine Liebsbegier/ mein ewig alles nennen“. Dieses Lied ist keine Ausnahme. Im Lied (GB 1735 Nr. 882 /Nr. 12) küssen sich endlich beide (auf die Melodie „Wie schön leuchtet der Morgenstern“): „Mein Jesus, süße Seelen-Lust/ mir ist nichts außer dir bewußt/ wenn du mein Herz erquickest/ Dieweil dein Kuß so lieblich ist/ daß man auch seiner selbst vergißt/ wenn du den Geist entzückest/ daß ich/ in dich/ Aus dem Triebe/ reiner Liebe/ von der Erde/ über mich gezogen werde“. Die gewaltsame Unterdrückung von pietistischen Ansätzen 1692 schlug nun durch die Rückkehr von pietistischem Schwulst nicht untypisch zurück. Wie wenig nun auch auf die Gesamtgestaltung des Gesangbuches geachtet wurde, sondern Lieder einfach angehängt wurden, zeigt das Schlußlied Nr. 914, das ein Bittlied um Gottes Hilfe bei anhaltender Dürre war: „..daß Vieh und Menschen traurig sein/ wenn du verschleußt den Himmel dein/ so müssen wir verschmachten“. Die Ausgabe von 1716 könnte mit dem zweihundertjährigen Reformationsjubiläum am 31.10 1717 zusammenhängen, das Herzog August Wilhelm außerordentlich ausschweifend feiern und die Braunschweiger Stadtgeistlichkeit daran teilhaben ließ. Das dazu erschienene Bild ist ein Dokument der Einbindung der Pfarrerschaft in die feudalistische Gesellschaft. Gottlieb Treuer starb 1729. In dieser Zeit gab es wenigstens sechs Gesangbuchausgaben: 1708/ 1712/ 1716/ 1721/ 1724/ 1726. ![]() Neuer Herzog – neue, leicht erweiterte Gesangbuchauflage Die Ausgaben von 1735 hing mit dem Regierungsantritt von Karl I. zusammen. Erneut wurden einige Lieder angefügt, sodaß diese Liedersammlung/Gesangbuch auf 931 Nummern anschwoll. Unter diesen befanden sich einige, die noch im heutigen Evangelischen Gesangbuch vertreten sind wie z.B. „Jesus hilf siegen du Fürste des Lebens“ Nr. 923 (14 Strophen)/ EG 373 (6 Strophen), „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ (Nr. 929 (9 Strophen)/ EG 326 (9), das Abendlied „Der Tag ist hin“ (Nr. 931/ EG Nr. 635) als Schlußlied., Vor allem aber schmückte diese Ausgabe ein üppiges Gebet für die herzogliche Familie am Ende des Gesangbuches, das jeden Sonntag im Gottesdienst gebetet werden sollte. Die Gesangbuchausgabe von 1735 war die letzte, an der am Liedbestand etwas geändert wurde. Im Überblick erstaunt die Vielfalt der unterschiedlichen Ausgaben. Es erschienen im neuen Jahrhundert zwischen 1708 und 1774 noch wenigstens 12 formal unterschiedliche Ausgaben: zweispaltig (1735 und 1742) oder einspaltig, im Kleindruck als Handausgabe (1758 und 1768), oder als Großdruck (1746), mit Lederverschluß (1772) oder mit Pappdeckel (1716), als Prachtexemplar in hellem Schweinsleder im Großdruck (1716) oder in rotem Leder mit Goldverzierung, mit zweifarbigem Titelblatt (1754 und 1769) oder schlicht einfach. Gravierender waren die verschiedenen Anhänge: es gab Ausgaben mit den sonntäglichen Evangelien und Episteln (1737/ 1742/ 1758/ 1768/ 1769), mit dem Neuen Testament und Psalter (1746), mit einem 100 Seiten langen Register von Bibelsprüchen, mit der Passionsharmonie und der Beschreibung der Zerstörung Jerusalems (1737/ 1742/ 1758/ 1769), mit und ohne Gebet für den Herzog Karl I. Kein Lied hatte ein Notenbild, sondern nur eine Liedangabe. Über jedem Lied war eine Bibelstelle angeführt. Auch eine Angabe des Verfassers fehlte unter dem Liedtext. Aber im alphabetischen Liedregister befand sich eine Verfasserangabe. In der Nachbarkirche Hannover-Calenberg hatte der frühere Offleber Pfarrer Peter Busch 1737 eine Gesangbuchsammlung veröffentlicht, aus dem 1740 ein neues Hannoversche Gesangbuch mit rund 1000 Liedern entstand.
Die Bedeutung der Schulen für die Kirche auf dem Lande und das Singen Nach wie vor war die Konsistorialbehörde in Wolfenbüttel für die Schulen im Herzogtum zuständig. In Wolfenbüttel hatten die künftigen Lehrer ein Examen abzulegen und die Konsistorialbehörde wies ihnen ihren Arbeitsplatz an. Das Lehreramt war dem Ortspfarrer unterstellt. Über die Schulen und das Singen in den Schulen konnte auch das Gesangbuch populär gemacht werden. Herzog Anton Ulrich wiederholt in seiner Kirchenordnung von 1709 als Lernziele Beten, Lesen, Schreiben und auch Rechnen und ordnete an, dass die Kinder wenigstens zwei Stunden am Tag zur Schule sollten. Es half keine Ordnung. Die Schule blieb, wie Anton Ulrich eingangs seiner Kirchenordnung geklagt hatte, „im Abgang geraten“. Einen genaueren Einblick in die Schulsituation erhalten wir durch die Visitationsprotokolle, die der von Herzog Karl I. (1735-1780) ernannte Generalschulinspektor Johan Christoph Harenberg anfertigte. Er inspizierte sieben Jahre lang die Schulen, wie seinerzeit 80 Jahre zuvor Schrader, dieses Mal besonders auch die Schulen auf dem Lande. Seine Visitationsberichte sind erhalten und teilweise von Theodor Müller im Braunschweiger Jahrbuch 1959 Bd. 40 veröffentlicht. Harenberg stieß beim Generalsuperintendenten Stißer, im Stift Gandersheim und bei Frau v. Steinberg in Bodenburg u.a. auf heftigen Widerstand. Sie fühlten sich in ihrer alleinigen Zuständigkeit für die Schule eingeschränkt und verweigerten Harenberg die Durchführung einer Schulvisitation. Öfters stand Harenberg auch vor verschlossenen Türen oder leeren Schulen, weil trotz Schulordnung von Ostern bis Martini, also von den Monaten April bis Anfang November, oft kein Schulunterricht stattfand. Seine Visitationsberichte in den Dörfern des Wesergebietes, um Kreiensen, Seesen, Vorsfelde, Helmstedt, Schöningen und den Heeseberg, in Königslutter, in Lutter a.B., Lobmachtersen, Evessen und Schöppenstedt u.a. geben ein anschauliches Bild. In seinem Abschlußbericht schrieb Harenberg, daß „verschiedene Schulen in recht gutem, überhaupt fast mehr Schulen in hiesigen Landen sich in gutem als in schlechtem Zustande befinden“ (Müller 110). Das klingt nach einer Verbesserung gegenüber den Verhältnissen vor 100 Jahren. Von der Mädchenschule in Gandersheim berichtete er, „daß die Kinder in dem Christentum wohl unterrichtet und im Buchstabieren, Lesen und Schreiben gar gut geübt“ wären (95), Frellstedt habe einen tüchtigen Schulmeister und eine vortreffliche Schuljugend (105), in Räbke waren die Schulkinder mittelmäßig (105), in Jerxheim „freute ich mich, daß die Kinder daselbst so weit gebracht werden, als es auf den Dörfern nützlich und nötig ist“, (107) in Offleben war der Schulmeister „fromm, ehrbar und fleißig. Die Schulkinder bestunden sehr wohl und machten den deputatis der Gemeinden viel Vergnügen“ (S. 107). Es gab aber auch zahlreiche Mängel, die Harenberg folgendermaßen zusammenfaßte: Ungeschicklichkeit, Faulheit und charakterliche Mängel der Lehrer, die schlechte Einrichtung der Schule, der unregelmäßige Schulbesuch und die ungenügende Schulaufsicht. Harenbergs Berichte lieferten dafür zahlreiche Beispiele: einige Lehrer ließen gerne die Stunden ausfallen, holten in dieser Zeit Holz oder fingen Vögel, (S. 99) einer „geht zuweilen unter den Schulstunden weg, ein Glas Branntwein zu trinken“ (Bevern) (S.96). In Ackenhausen traf Harenberg weder Kinder noch den Schulmeister an. „Er hatte die Kinder beurlaubt, weil er die Frühsuppe am dritten Hochzeitstage zu sich nehmen wollte“ (S. 100). In Seesen gingen „die Kinder nach Ostern sparsamer zur Schule als auf den Dörfern, Rektor und Kantor sollen den Brandwein fast zur Ungebühr lieben“ (S 102), in Warberg müßten die Schulkinder während der Schulzeit den Stall des Lehrers ausmisten, Linsen auslesen und die Spreu aus Esbeck abholen. Es wurde häufig zu brutal gestraft und geschlagen, „ehedem einem Jungen ein Holtz auf die Nase geklemmt, daß derselbe in einigen Wochen deshalb nicht recht sprechen können“ (S. 97). Harenberg bemängelte „daß einige Schulmeisters in Ausübung der Zucht über die Schranken fahren und die Kinder stoßen, bei den Haaren ziehen oder rupfen, auf den Köpfen derselben mit Fäusten oder Stöcken schlagen und ihr Amt ganz despotisch führten“ (S. 99). Harenberg beanstandete vor allem die miserable Besoldung der Lehrer „Der Schulmeister ist fromm, stille und fleißig, zugleich wegen seiner armseligen Bedienung ein Bötticher“ (S. 97) (Münchehof). Als Folge der Visitationen Harenbergs entstand wieder eine ausführliche Schulordnung, und zwar im Jahre 1753. In der Einleitung zur Schulordnung schränkte Herzog Karl bereits die Hoffnungen ein: „Selten bringen es die Kinder weiter als daß sie die vornehmsten Wahrheiten der Religion fassen, etwas schreiben und rechnen lernen, und es ist schon viel erreicht, wenn nur dieses erreicht wird“ (Schmidt 38). Die Ortspfarrer sollten die ev.luth. Dorfschule einmal in der Woche visitieren, die Superintendenten alle Vierteljahr. Es waren Berichte zu schreiben. Der Unterricht fand nach wie vor meistens in der Wohnung des Lehrers statt. Die Visitationsberichte Harenbergs waren auch von einer gewissen verständlichen Rücksichtnahme auf den Herzog geschrieben. Die Visitationsberichte der Ortspfarrer waren schonungsloser. Pfarrer Seger schrieb vom Ausbildungsstand der Schüler in Klein Sisbeck: „Die Schule zu Klein Sisbeck ist wie die mehresten in diesen Gegenden nach ihrer Verfaßung in schlechten Umständen. Die Schul-Kinder, 28 an der Zahl, waren bey meiner Gegenwart nur auf die Hälfte in der Schule, welche, wenn ich auch die besten etwa von 11,12 Jahren davon nehme, noch nicht weiter es gebracht, als daß sie stümperig lasen und den Kleinen Catechismum Lutheri auswendig gelernet, daß die Schuld an den Schulmeistern nicht ganz sondern vornehmlich wol an den Eltern liegen müßte“ ( Schmid 686). Eine erheblicher Mangel des Schulwesens war, daß es überhaupt keine ordentliche Lehrerausbildung gab, sondern Pfarrer und Gutsherren präsentierten ihrer Ansicht nach geeignete Kandidaten, die sich im Konsistorium einer Art Prüfung unterziehen mußten, bevor sie die Anstellungsurkunde erhielten. Es gibt zahlreiche Prüfungszeugnisse aus dieser Zeit. Eines aus dem Jahre 1749 lautete: „Vorzeiger dieses lieset und buchstabieret gut. Im Singen weiß er fast keine Melodie anzugeben; er gibt aber vor, daß er solche nach den Noten angeben könne. Im Catechismo ist er so schlecht, daß ich kein Kind zum hl. Abendmahl annehme, das nicht mehr Erkenntnis hat. Wie er schreibt, zeigt die Hand.“ Auch dieser Lehrer wurde angestellt. Es ist unwahrscheinlich, daß sich das Konsistorium gegen den Vorschlag eines Gutsherren durchsetzen konnte. Herzog Karl richtete, das war als Fortschritt geplant, zwei Lehrerseminare ein, eines in Braunschweig (1751), eines in Wolfenbüttel (1753). Aufnahmebedingung für den künftigen Seminaristen war das Alter von 17 Jahren, ein gutes Führungszeugnis, lesen, schreiben, etwas rechnen und ein wenig Klavier spielen. Die vorgesehenen sechs Seminarstellen blieben zunächst leer, denn Lehrerstellen waren miserabel bezahlt. Die Durchführung der Schulreform scheiterte an der Mitwirkung Karl I. am siebenjährigen Krieg (1765-63), der Teile des Herzogtums schwer in Mitleidenschaft zog. Außerdem war für Schulen und Ausbildung kein Geld vorhanden, denn der teure Hofstaat und der Krieg ruinierten den Staatshaushalt und verursachten hohe, drückende Staatsschulen. Über diese Art von Schule war eine Verbreitung des evangelischen Chorals nicht zu erwarten. Ob von den zahlreichen Auflagen der sog. Gesangbuches von 1698 einige Exemplare auch in einer Schulbibliothek Aufnahme fanden, bleibt ungeklärt. Musizieren mit und ohne Orgel? In der Regel wurde in den Gottesdiensten ohne Orgelbegleitung gesungen. Die Stadtkirchen in Braunschweig waren mit großen Orgeln versorgt. Aber auch die größeren und kleineren Städte (Wolfenbüttel, Helmstedt, Schöningen, Blankenburg, Eschershausen, Gandersheim, Holzminden, Königslutter, Schöppenstedt, Seesen, Vorsfelde) hatten in ihren Kirchen größere oder kleinere Orgelwerke installiert. Es mag erstaunen, daß nach einer Aufstellung von Uwe Pape sogar um 1750 in 55 Dorfkirchen Orgeln eingebaut waren. Die Kirchenordnung von Anton Ulrich erwähnte die Orgel beim Sonnabendgottesdienst- und sonntäglichen Nachmittagsgottesdienst. Im Cap. I § 4 heißt es: „Wo Orgeln vorhanden, werden dieselben Abwechslungsweise gerühret“. Entweder spielte also nur die Orgel oder der Schulchor bzw. die Gemeinde sangen. In Cap. II § 36 befiehlt der Herzog ernstlich, „daß der Gesang, mit welchem die Orgel abgewechselt“, insgesamt nicht mehr als eine halbe Stunde dauern soll. Daß die Orgel nicht bei der Ordnung des Hauptgottesdienste erwähnt wird, könnte bedeuten, daß die Orgel vor allem als Ersatz für die schwächer besuchten Gottesdienste vorgesehen war. Die weitere Zukunft dieses Gesangbuches Das Gesangbuch von 1698 hat in unserer Landeskirchengeschichte eine merkwürdige Darstellung erfahren. Johannes Beste schweigt sich, wenn ich richtig lese, über dieses erste Gesangbuch völlig aus. Das ist seltsam, weil er dem nächsten Gesangbuch ab 1780 einen ausführlichen Verriß widmet. Wilhelm Rauls erwähnt in seiner Abhandlung „Frömmigkeit und Bekenntnis in der Braunschweigischen Landeskirche“ zwar das Gesangbuch von 1686 allerdings unter dem falschen Titel „Gott des Himmels und der Erden“ (statt „Gottes Himmel auf Erden“), aber nicht das von 1698. Inge Mager beschäftigt sich mit diesem Gesangbuch unter dem Gesichtspunkt der Rezeption der Paul Gerhardt -Lieder. Erst die umfassende Arbeit von Astrid Berger-Kapp über das Gesangbuch von 1686 befaßt sich auch mit diesem von 1698. 1698 - 1994 Von den 931 Lieder dieses sog. ersten Gesangbuches befinden sich 125 Lieder auch im heutigen Evangelischen Gesangbuch (EG). Es sind ausnahmslos die der regelmäßigen Gottesdienstgemeinde geläufigen Choräle. Sie verteilen sich gleichmäßig auf das Kirchenjahr, Gottesdienst, Lob- und Trost-, Morgen und Abendlieder. Ich finde diesen Anteil hoch, auch wenn er nur ein Fünftel des heutigen Liedgutes im Gesangbuch umfaßt. Unter diesen 125 Liedern werden sich die ca 5-15 Lieder befinden, die seinerzeit zum festen Besitz des damaligen regelmäßigen Gottesdienstbesuchers gehörten. Beobachtungen und Anfragen Zusammenfassung Das erste für unsere Landeskirche dauerhaft eingeführte Gesangbuch ist keines nach heutigem Verständnis. Auch dieses Gesangbuch hat mehr den Charakter einer Liedersammlung, die immer wieder erweitert wurde. Es wurde vom Herzog angeregt und von dessen Schwager Pfarrer Ermisch zusammengestellt. Es war vor allem für die Hand des Pfarrers und des Kantors gedacht. Nach wie vor waren den Gemeindemitgliedern nur wenige Lieder bekannt, die in den Gottesdiensten auswendig und auf dem Lande meist ohne Orgelbegleitung gesungen wurden. Die Vermittlung der Lieder geschah vor allem durch den Schulunterricht. Schule und Kirche waren fest miteinander verbunden. Der Ortspfarrer beaufsichtigte die Schule vor Ort. Aber die Schulverhältnisse waren hinsichtlich der Lehrerbesoldung, Lehrerausbildung, Schulraumverhältnisse, Unterrichtsmittel und Unterrichtsziele schlecht. Unklar bleibt bei dieser Lesart, wozu so zahlreiche Auflagen veranstaltet wurden. Allerdings ist die Höhe der Auflage unbekannt. 125 Lieder unseres heutigen Evangelischen Gesangbuches waren bereits in dieser ersten Liedersammlung enthalten. Für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft hat eine derart lange Tradition ihre Bedeutung, die noch nicht erschlossen ist. Zum Teil 3: Das Gesangbuch der Aufklärung 1780 |