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[Kirche von unten]

Die Geschichte des Braunschweiger Gesangbuches

von Dietrich Kuessner

4. Kapitel




Reformbemühungen für ein anderes Gesangbuch im 19. Jahrhundert – der zweite Anhang

Es ist das Schicksal jedes Gesangbuches, daß es bereits bei seinem Erscheinen überholt ist und sehr bald neue Anstrengungen für seine Revision hervorruft. Ein Gesangbuch kann nur das vorhandene Liedgut am Ende einer theologie- oder geistesgeschichtlichen Epoche sammeln. So entstand die orthodox-pietistische Gesangbuchsammlung am Ende der Orthodoxie, und um 1800, zur Zeit der endgültigen Einführung des zweiten Gesangbuches, war die Aufklärung bereits überwunden. Die Freiheitskriege, Märzunruhen, die Romantik, das erwachende konfessionelle Luthertum atmeten einen anderen Geist.

Das Feldgesangbuch der Braunschweiger Truppen 1814 - zwischen Frömmigkeit und Vaterlandsliebe
Nachdem die Franzosen das Braunschweiger Land geräumt hatten, bekamen die Braunschweiger Truppen 1814 ein eigenes Liederbuch, ein schmales Heftchen, praktisch zum Einstecken in den Waffenrock, mit 16 geistlichen und 65 volkstümlichen Liedern. Es vereinigten sich Patriotismus und Pietismus. Von den geistlichen Liedern waren allein fünf von Ernst Moritz Arndt. Auf die Melodie „Jesus meine Zuversicht“ konnten nun die Soldaten singen: „Auf mit Gott zum Heldenstreit/ Auf für Freiheit und für Ehre/ Daß auf Erden weit und breit/ Deutsche Redlichkeit sich mehre/ Männer auf für Recht und Pflicht/ Gott ist meine Zuversicht“ (Nr. 7,4). Als Aufmunterungslied vor der Schlacht war nach der Melodie „Von Gott will ich nicht lassen“ zu singen: „Frischauf ihr deutschen Brüder/ frischauf zum heilgen Streit/ Der Satan droht uns wieder/ zu ernten weit und breit/ Er will die Erdenflur/ zur Schlangenwüste machen/ mit Tigern und mit Drachen/ verheeren die Natur. 2. Er will die Freiheit morden... 4. Auf/ mit dem Herrn der Scharen/ wohlauf in Not und Tod/ Er wird euch wohl bewahren/ der alte treue Gott/ Von ihm kömmt alles her/ Zu ihm geht alles wieder/ drum zagt nicht, deutsche Brüder/ Gott ist mit euch im Heer// 5. Gott steht mit euch im Leben/ Gott steht mit euch im Tod/ Will Gott den Arm erheben/ wo bleibet, was euch droht?/ Mit Gott das Schwert zur Hand/ Mit Gott hineingefallen/ und laßt die Losung schallen/ Gott Freiheit Vaterland.“ Der geistliche Liederteil wurde mit einer Umdichtung von Luthers „ein feste Burg“ eröffnet, dessen dritte Strophe nun lautete: „Und wenn die Welt voll Teufel wär/ und wollten uns gar verschlingen/ mit Gott zum Kampf du treues Heer/ dir muß der Sieg gelingen/ Der helfen will und kann/ den rufen wir an/ von Gottes Mut entbrannt/ stehn wir fürs Vaterland/ Sein Arm ist Wehr dem Schwachen“ (1,3). Nach der sog. Völkerschlacht von Leipzig wurde zum Wechselgesang des Te Deum laudamus u.a. folgender Text gesungen: „ Weit über die Gedanken weit/ging deine Macht und Herrlichkeit/ nicht unser Arm nicht unser Arm/ dein Schrecken schlug der Feinde Schwarm/ Wir fochten zwar mit frischem Mut/ wir gaben treulich Leib und Blut/ du aber hast die Christenheit/ zur rechten Zeit und Stund befreit/ des Drängers volle Schale sank/ als ihm ins Ohr dein Donner klang/ Nun liegen wir im Staube hier/ und Gott Herr Gott wir danken dir/ Das ganze Deutschland weint und lacht/ die Freiheit ist ihm wiederbracht/ Wofür der Herr am Kreuze starb/ was uns der Väter Kraft erwarb/ das haben wir das halten wir/ Herr Jesu Christ wir danken dir“ (Nr. 15). In den drei Kriegen, die zur Bildung des Kaiserreiches führten (1864-1871), und im Jahrhundert der Weltkriege (1914-1945) hat diese religiöse Verklärung vom Kämpfen und Sterben und die vorausgehende Dämonisierung des Feindes eine geradezu gotteslästerliche Wirkung entfaltet.

Klage über den schlechten Gesang
Bei den Truppen wird über schwachen Gesang kaum geklagt worden sein. Das war am Sonntag morgen in den Kirchen anders. Von den Klagen des Organisten Kelbe über schlechten Kirchengesang war bereits oben die Rede. Am Ende meiner Arbeit über das Braunschweigische Gesangbuch entdeckte ich im Magazin der Bibliothek des Predigerseminars ein kleines Heft von ca 1830 „Choralmelodien zu dem Braunschweigischen Gesangbuch für Schulen“ herausgegeben von I.H.D. Lohmann“. Heinrich Daniel Lohmann (gest. 1850) war Kantor in Wolfenbüttel und Vater von Pastor Otto Lohmann (nach Freist Die Pastoren der Braunschweigischen ev.-luth.Landeskirche Bd II S. 190). Er notierte in diesem kleinen Heft 115 Choralmelodien einstimmig mit gut lesbaren schwarzen Viertelnoten. Dieses Heft ist eine eindrucksvolle Quelle, wie sich im Laufe der Jahrhunderte die Melodien in den Schulen und Gottesdiensten abgeschliffen und zerschlissen haben. Die Melodieführung wurde immer einfacher und enger und bewegte sich von Sekunda zu Sekunda. Um etwas Bewegung und auch „Stimmung“ in die Melodie hineinzubekommen, wurden hier und da Achtelschleifen eingezogen. Lohmann hat bei der Notierung der Melodien gewiß schon die ärgsten Vereinfachungen beseitigt, um erzieherisch auf das Singen in den Schulen einzuwirken. Luthers „Wir glauben all an einen Gott“ (Nr. 114) wurde mit dem gängigen Eingang gesungen, wobei jede Silbe eine Note erhielt. Diese Notierung finden wir später auch in anderen Gesangbüchern (z.B. im Württembergischen von 1912). Auffällig ist, daß bei „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ die übliche Verschleifung auf den Silben „Ein Wohlgefallen“ nicht stattgefunden hat, wie sie in der EKG Ausgabe von Berlin-Brandenburg noch bis 1994 notiert worden ist. Jedes Zeilenende erhielt eine Fermate und erzeugte beim Singen eine Pause. Als nun die Orgel die Begleitung des Gemeindegesang übernahm, wurde dieser schleppende durch das vierstimmige Orgelspiel noch einmal verlangsamt. Der Organist behalf sich durch allerlei musikalische Mätzchen zwischen den beiden Fermaten, wobei dann die sich ausruhende Gemeinde nicht wissen konnte, wann sie wieder einsetzen sollte. Das Choralbuch von Johann Christoph Kelbe 1832 gibt davon, wie oben bereits geschildert, ein anschauliches Bild.

Diese Art von Kirchengesang erntete eine besonders ätzende Kritik von Seiten der erstarkenden Lutheraner. Das „Kirchenblatt für die evangelisch-lutherische Gemeinde des Herzogthums Braunschweig“, das seit 1851 erschien, warb von Anfang an für die Verbesserung des Kirchengesangs in den Kirchengemeinden. Den Grund für den kläglichen Gesang sah Pfarrer v. Schwartz im schleppenden Kirchengesang: „nach der bei uns zur Mode gewordenen unnatürlichen Manier, eine Note und Silbe so lang und schleppend zu singen als die andere und hinter jeder Reihe eine Pause von mehreren Takten zu machen, gleich als wäre dem ganzen Volke die Lunge verdorben, so daß es, wenn es eine Reihe von 6-10 Tönen gesungen hat, sich von der Anstrengung erst wieder erholen und verschnaufen müßte,“ und zwar „am Gängelband gehalten vom Kantor, der dazu die Orgel spielt oder mitsingt“. Von den 115 Melodien wären den meisten Gemeinden höchsten 10 Meloden geläufig etwa von „Allein Gott in der Höh sei Ehr“, „Es ist das Heil uns kommen her“, „Freu dich sehr“, „Jesus meine Zuversicht“, „Nun danket alle Gott“, „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ u.a.. Wenn ein Pfarrer hingegen einen Gesang mit einer anderen Melodie ausgesucht habe, mache der Kantor beim Abholen der Gesänge eine bedenkliches Gesicht, sträube sich dagegen, selten im Gefühl der eigenen Schwäche und im Bewußtsein, in der Schule nicht das Gehörige getan zu haben, also selten mit einer Selbstanklage, dagegen meist die Schuld auf die Gemeinde schiebend, die im Singen nicht geübt sei. v. Schwartz sah den Ausweg im Auswendiglernen der ersten Strophe eines Liedes. „100 einzelne Gesangverse in 6-7 Jahren auswendig zu lernen, das sollte man doch einem nicht ganz unfähigen Kind billig zumuten können“ (Kirchenblatt 1853 S. 25 ff). In dieses anschauliche Bild von Gemeindegesang wurde eine Glorifizierung der Reformationszeit verwoben. Nach der Reformation hätte man selbst in kleinen Landstädten Chöre und Kurrenden eingerichtet, die von Haus zu Haus gezogen wären oder singend über die Straßen gingen, wodurch neue Melodien bekannt und bereits eingeführte vertieft worden wären. Nachtwächter und Handwerksburschen, seinerzeit kräftige Sänger und Verbreiter des Evangeliums in Liedern, wären heute sang- und klanglos geworden (Kirchenblatt 1851 S. 1678 „Der Verfall des protestantischen Kirchenliedes“). So auch v. Schwartz: ursprünglich wäre die evangelische Kirche die gesangreichste und gesanglustigste gewesen, aber die Zeiten hätten sich geändert (Kirchenblatt 1853 S. 25).

In der Nr. 4 verwies das Kirchenblatt auf das in 2. Auflage erschienene „Hauschoralbuch Alte und neue Chorgesänge mit vierstimmigen Harmonien und Texten“, das 1850 in Gütersloh im Verlag Bertelsmann erschienen war. Das 240 Seiten starke Buch beginnt mit Liedern nach dem Kirchenjahr, Text und Notenbild sind zueinander geordnet, der Text der älteren Lieder ist unverändert. Die Namen der Verfasser und Komponisten sind mit Lebensdaten vermerkt. Das alles unterscheidet es von dem gängigen Gesangbuch. Vor allem aber sind es die Lieder, die im gebräuchlichen Gesangbuch nicht zu finden waren wie: „O Haupt voll Blut und Wunden“, „Christ ist erstanden“, „Ein feste Burg ist unser Gott“, „Fahre fort“, „Schmücke dich o liebe Seele“, „Jesu meine Freude“, „Auf meinen lieben Gott“, „Schwing dich auf zu deinem Gott“, „Lobe den Herren den mächtigen König der Ehren“, „Geh aus mein Herz und suche Freud“, „Die güldne Sonne voll Freud und Wonne“, „Wer weiß wie nahe mir mein Ende“, „Jerusalem du hochgebaute Stadt“, „Wachet auf ruft uns die Stimme“. Die Redaktion erhoffte sich durch die Belebung der Hausgottesdienste besonders bei den Pfarrern, Organisten, Kantoren und Lehrern einen günstigen Einfluß auch auf den Kirchengesang am Sonntag (Kirchenblatt S. 175).

Das Gesangbuch im Kirchenbuch von Domprediger Heinrich Thiele 1852
Der erste Reformversuch auf eigene Faust war das „Kirchenbuch zum evangelischen Gottesdienst in Gebeten, Lehre und Liedern nach den Agenden der christlichen Kirchen Augsburger Confession neugeordnet“ vom Braunschweiger Domprediger Heinrich Thiele (1814-1886), das 1852 in der Hofbuchhandlung Eduard Leibrock erschien. Das Kirchenbuch enthielt eine Ordnung des Haupt- und Nebengottesdienstes, der Kasualien und ein komplettes Gesangbuch mit 233 Gesänge. Thiele beklagte in seiner Vorrede, daß bei der Liturgie der Gesang der Schülerchöre im Gottesdienst verstummt wäre und auch die der Gemeinde zugewiesenen liturgischen Stücke „größtenteils ausgelassen“ würden. Die Kirchenbehörden „lassen es gehen, wenn nur keine Klage einläuft, oder fördern es auch wohl, weil sie „die Freiheit des Geistlichen nicht beschränken“ mögen (S. IV).
Thiele legte eine interessante Gliederung der Gesänge vor. Die Lieder waren nicht nach dogmatischen Gesichtpunkten sondern nach den erwünschten Singesituationen des Gemeindemitgliedes geordnet. Auf Loblieder (Nr. 1-14) und Bittlieder ( Nr. 15-26) folgten Morgen und Abendlieder (Nr. 27-39) und dann die Sonntagslieder (Nr. 40-52). Die Einordnung der Morgen und Abendlieder an den Anfang des Gesangbuches war ausgesprochen originell und erwies das Kirchenbuch als Hausbuch in den Händen eines singenden Gemeindemitgliedes in seinem häuslichen Alltag. Wer singt, sollte zunächst einmal loben, und zwar täglich gleich zu Beginn des Tages und abends auch. Das war die Idee dieser Gliederung. Erst darauf folgten die Lieder für den Sonntag. Es ist sehr schade, daß diese Gliederung später nie wieder aufgegriffen wurde. Auf diesen Block der Alltags- und Sonntagslieder folgten die Lieder zum Kirchenjahr (Nr. 53-135), wobei auch die kleineren Feste Johannis, Marias Heimsuchung und Michaelis einbezogen wurden, die Lieder von der Kirche und dem Wort Gottes, - letztere nicht unter den Sonntagsliedern! – und danach Lieder, die früher unter der Überschrift „Katechismus“ gesammelt waren, also Buße, Glaube, Taufe und Abendmahl. Erstmals waren Lieder „zum Preise Christi“ im Kapitel XXIV zusammengefaßt. Lieder von der Heiligung (19 Lieder), Kreuz und Trost (11 Lieder), Sterbe- und Begräbnis (14 Lieder), vom Weltgericht und ewigen Leben (8 Lieder) beschlossen das Gesangbuch des Dompredigers.
Domprediger Thiele brachte zahlreiche, von der Aufklärung überarbeitete Gesänge wieder in die Originalfassung zurück. Nr. 4 „Nun danket alle Gott“ erschien wieder in der ursprünglichen Form. Die gebräuchliche Fassung der zweiten Strophe lautete (Nr. 409,2) „Er unser Vater woll/ ein fröhlich Herz uns geben/ der Herr laß uns sein Volk/ in stetem Frieden leben/ und unsre Nachwelt auch/ daß seine Gnad und Treu/ das ganze Land umfah/ sein Segen mit uns sei“. Bei Thiele war die uns inzwischen geläufige Form (Nr. 4) zu lesen: „Der ewig reiche Gott woll uns in unsrem Leben/ ein immer fröhlich Herz/ und edlen Frieden geben/ und uns in seiner Gnad/ erhalten fort und fort/ und uns aus aller Not/ erlösen hier und dort.“ Die Umschreibung von „fort und fort“ mit „Nachwelt“ war ja gedanklich richtig, aber wirkt heute noch komisch.
„Wie soll ich dich empfangen“ (Nr. 56), „Mit Ernst o Menschenkinder“ (Nr. 57), „Lobt Gott ihr Christen alle gleich“ (Nr. 66), „Nun laßt uns gehn und treten“ (Nr. 77), „O Welt sieh hier dein Leben“ (Nr. 92), „Ach bleib bei uns Herr Jesu Christ“ (Nr. 143), die klassischen Lieder zum Gottesdienst „Liebster Jesu wir sind hier“ (Nr. 164), „Herr Jesu Christ dich zu uns wend“ (Nr. 43), „Unsern Ausgang segne Gott“ (Nr. 51) und sehr viele andere Lieder, die dann auch später in dieser Form in die folgenden Braunschweiger Gesangbücher gekommen sind, konnten im Dom schon ab 1852 gesungen werden. Allerdings waren diese Liedertexte zunächst für die Gottesdienstbesucher neu, denn die Tradition zum ersten Gesangbuch war völlig abgerissen.
Im ersten Teil befindet sich unter den Lobliedern auch „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“ (Nr. 9), das heutzutage unter den Liedern zur Natur- und Jahreszeit versteckt ist (EG 502) und daher nicht häufig gesungen wird. Diese heutige Einordnung erscheint mir nicht gerechtfertigt.

Thiele war aus seelsorgerlichen Gründen so klug, auch die bekannten Gesänge aus dem gebräuchlichen offiziösen Gesangbuch aufzunehmen. Es läßt sich am Gesangbuch Thieles feststellen, welche Choräle aus dem gebräuchlichen Gesangbuch der Aufklärung populär geworden waren. Dazu gehörten die Weihnachtslieder „Er kommt, er kommt, der starke Held“ von Klopstock (Thiele Nr. 72 = 75), und „Willkommen Quell der Freuden“ (Thiele Nr. 73 = 80), die Osterlieder „Triumph verlaßt die leere Gruft“ (Thiele 113 = 140) und „Jesus lebt mit ihm auch“ (Thiele Nr. 116 = 149), das Himmelfahrtslied „Herr du fährst mit Glanz und Freuden“ (Thiele Nr. 121 = 156). Besonders empfindlich war ein Änderung bei den Abendmahlsliedern. So findet sich bei Thiele auch das Abendmahlslied des sonst umstrittenen Hannoveraners Schlegel „Herr der du als ein stilles Lamm“ (Thiele Nr. 175 (7) = 197 (21), dessen 21 Strophen er aber auf sieben kürzte. Als Konfirmationslied hatte sich offenbar „Erhör o Gott das heiße Flehn“ des Braunschweiger Pfarrer E. G. Küster eingebürgert. (Thiele Nr. 166 = 195). Thiele kürzte nicht nur die Choräle sondern bearbeitete sie auch. Dazu hatte er sich im Vorwort geäußert: „Warnende, ja abschreckende Beispiele davon, wie man nicht ändern darf, wenn man nicht geradezu verderben will, lagen mir genugsam zur Hand. Ich brauchte unter anderen nur das hiesige Gesangbuch aufzuschlagen, in welchem die schönsten und kirchlichsten Bildungen durch einen mit möglichst geschmackloser Prosa und nebelgrauer Sentimentalität getränkten Pinsel auf eine unbarmherzige Weise oft bis zur Unkenntlichkeit verwachsen sind“ (S. VII).
Es waren teils kleine Änderungen, hier in der ersten Strophe von „Erfülle sie mit deinen Gaben/ Laß Tröstung ihre Seele laben“ in: „Erfülle sie mit deinen Gaben/ daß sie mit dir Gemeinschaft haben“, was ohne Frage besser ist.
Die zweite Strophe textete Thiele vollkommen um. Im gebräuchlichen Gesangbuch lautete er:
„Sie wollen deiner sich zu freun/ Gott ihren Bund mit dir erneun/ und feierlich den Eid dir schwören/ Dich Gott zu lieben zu verehren/ im Glauben treu im Herzen rein/ im Wandel ohne Falsch zu sein/ Dreieiniger sprich du das Amen/ und stärke sie und stärke sie.“
Konfirmation als feierlicher Eidschwur sollte die jungen Leute offenbar in eine erhöhte Verpflichtung führen. Sehr viel später wurde dieselbe Thematik unter der Frage geführt, ob den Konfirmanden ein Gelübde abverlangt werden konnte. Thiele textete den Eidschwur folgendermaßen weg:
„Sie wollen heut den Bund erneun/ Ihr Herz und Leben dir zu weihn/ Sie wollen treu am Glauben halten/ und in der Liebe nicht erkalten/ auf Christi hohes Vorbild sehn/ und fest in ihrer Hoffnung stehn/ Dreieiniger sprich du das Amen/ zu dem Gelübd auf deinen Namen/ Und stärke sie und stärke sie.“ Auch die dritte Strophe veränderte Thiele so stark, daß bei der Konfirmation die Gemeinde dieses Lied aus ihren üblichen Gesangbüchern nicht mitsingen konnte.
Thiele ging keineswegs immer auf den ursprünglichen Text zurück und unterließ manchmal auch eine Neufassung. In „Jesu meine Freude“ (Thiele Nr. 185) z.B. blieb es in der 2. Strophe bei „Mag der Fels zersplittern/ mag der Erdreich zittern/ Jesus steht mir bei“.
Es würde sich in einer Examensarbeit lohnen, das Thielesche Gesangbuh mit dem der Aufklärung gründlich zu vergleichen und daraus das gottesdienstliche Domprofil um 1852 zu beschreiben.
Thiele nahm schließlich auch völlig neue Liederdichter auf, wie z. B. Ernst Moritz Arndts Weihnachtslied „Der heilig Christ ist kommen“ (Thiele Nr. 74), das später auch in das Gesangbuch von 1902 aufgenommen wurde und das Jesuslied „Aus irdischem Getümmel“ (Nr. 188) nach der Melodie „Valet will ich dir geben“, das nur hier zu finden ist. „Wer leitet unser Streben/ wenn es das Ziel vergißt/ Wer führt durch Tod und Leben/ der Weg heißt Jesus Christ“, lautet die zweite Hälfte der ersten Strophe, und die zweite Strophe vollständig: „Hier irren wir und fehlen/ gehüllt in tiefe Nacht/ Durch wen wird unsern Seelen/ ein wahres Licht gebracht/ Von oben kommt die Klarheit/ die alles uns erhellt/ Denn Christus ist die Wahrheit/ er ist das Licht der Welt“.
Das Gesangbuch Thieles war ein behutsamer Versuch, das Braunschweigische Kirchengesangbuch aus der längst überwundenen Phase der Aufklärung zu lösen. Andere Landeskirchen hatten diesen Prozeß bereits hinter sich. Es gab das neue Berliner Gesangbuch 1829, das Badische 1836, das Württembergische 1839, das Hamburger 1842. Das Kirchenbuch Thieles war ein Hinweis für die Kirchenbehörde, in dieser Hinsicht tätig zu werden. Es dauerte indes noch 50 Jahre bis ein neues Gesangbuch entstand. Es gab aber weitere Zwischenschritte.

Ein revidiertes Choralbuch
1866 gab der Wolfenbüttler Musikdirektor Selmar Müller im Auftrag des Konsistoriums ein „Neues Landeschoralbuch für das Herzogthum Braunschweig“ heraus. Für Kirche, Schule und Haus veröffentlichte A. Schulz dazu ein preiswertes Heftchen „Choralmelodien des Braunschweiger Gesangbuches“ Braunschweig 1867 mit insgesamt 120 einstimmig notierten Liedern, denn es wäre zunächst wichtig, daß „alle Volksschulen unseres Landes die Choralmelodien, Schullieder, wie auch die betreffenden Gesangbuchübungen nach Noten singen lernen.“

Das Liederbuch von Otto Lohmann
Pastor Otto Lohmann, Meinbrenxen, hatte 1877 „die alten lutherischen Kirchenlieder des neuen braunschweigischen Gesangbuches in unveränderter Form herausgegeben zum Privatgebrauche für Pastoren, Lehrer und Gemeindeglieder der braunschweigischen Landeskirche“, zusammengestellt und bei Pastor v. Schwartz in der Verlagsbuchhandlung von Neuerkerode drucken lassen. Es war ein kleines handliches Buch für die Handtasche am Sonntag mit insgesamt 400 Liedern, davon 331 aus dem bestehenden Braunschweigischen Gesangbuch und als Anhang weitere ganz neue 68 Lieder, die Lohmann im Entwurf der Eisenacher Konferenz für ein neues Gesangbuch und im Kirchenbuch von Thiele vorgefunden hatte. Die Lieder im ersten Teil hatten zur Orientierung die Nummern aus dem gebräuchlichen Gesangbuch. Das Verdienst dieses Gesangbuches auf eigene Faust war die gemeindefreundliche Reduzierung der Liedermasse auf die offenbar bewährten und beliebten Lieder. Lohmann reihte dabei die Lutherlieder, die sich im Anhang befanden, wieder in den Stammteil ein. Er änderte aber auch in erheblichem Maße die Texte, indem er sie aus ihrer rationalistischen Umdeutung auf den Ursprung zurückführte. Er änderte schließlich die Gliederung und begann mit Liedern zum Kirchenjahr. Hier fanden die Gemeindemitglieder zum Advent „Mit Ernst o Menschenkinder“, aber im Anhang auch „Macht hoch die Tür“ (Nr. 323), „Auf auf ihr Reichsgenossen“ (Nr. 335). Im Vorwort wies Lohmann darauf hin, daß dieses Gesangbuch abgelöst würde, wenn ein neues von der Landessynode beschlossen würde.

Als weiterer Fortschritt war auch das Choralbuch gedacht, das 1880 im Auftrag des Konsistoriums mit vierstimmigen Sätzen für 41 Lieder erschien, die von Eduard Hille eingerichtet waren. Einige Sätze haben noch den breiten mit jeweils einer halben Note bedachten Satz, dessen Anblick allein müde macht und eine Vorstellung von dem langsamen Gesang gibt. Andere Lieder hatten die bewegtere Notation, manche waren zweifach ausgeschrieben. Mit dem neuen Lied ging es langsam voran.

Der zweite Anhang
Der Superintendent in Wahle, Christian Oberhey, veröffentlichte 1880 eine grundgelehrte Abhandlung über „Das braunschweigische Gesangbuch nach seiner Entstehung und Gestaltung. Beitrag zur Geschichte der Gesangbuchreform im vorigen Jahrhundert“. Er schilderte darin die Entstehung des Gesangbuches der Aufklärung, nahm dessen Inhalt gegen wütende Angriffe des konfessionalistisch-lutherischen Lagers in Schutz, befürwortete indes die Herstellung eines neuen Gesangbuches.

Auch aus einigen Kirchengemeinden kam der Wunsch nach einer Revision. Pfarrer Berndt aus Hehlen, die Kirchenvorstände von Warle und Schliestedt und die Inspektionssynoden von Lunsen-Thedinghausen und von Ahlum baten die Landessynode 1884 um die Einführung eines neuen Gesangbuches. Zur Bearbeitung dieser Bitte und anderer gottesdienstlicher Fragen wurde in der Landessynode eine liturgische Kommission gebildet, die aus Domprediger Thiele, Pfarrer Skerl, Superintendent Brunke aus Wolsdorf, Baron v. Cramm aus Burgdorf und Stadtsuperintendent Rothe, Wolfenbüttel bestand. Von der Arbeit der Kommission berichtete Skerl der Landessynode am 10. Dezember 1884. Die Kommission empfahl, dem Vorschlag des Kirchenvorstandes von Warle zu folgen, und dem Gesangbuch einen Anhang beizugeben, der die 150 Lieder des Gesangbuches für das Deutsche Heer enthalten sollte. In der Aussprache begrüßte der Synodale Dedekind, Superintendent von Stadtoldendorf, „die Ausmerzung der kalten und frostigen Gesänge.“ Der Gemeindevorsteher von Watzum, Eimecke, hielt dagegen eine Änderung des Gesangbuches für unnötig. Die Landessynode beschloß mit Mehrheit, an die Herzogliche Kirchenregierung einen Antrag zu richten, das bestehende Gesangbuch mit einem Anhang zu versehen. Das Konsistorium stellte in seiner Eingabe an das Staatsministerium Sommer 1885 fest, daß 77 Lieder der Militärgesangbuches ganz neu wären und 59 befänden sich zwar im gegenwärtigen Gesangbuch, jedoch in sehr stark abgeänderter Form. Der Prinzregent Albrecht billigte die Vorlage des Konsistoriums, die Landessynode beriet im Dezember 1886 über die Vorlage des Staatsministeriums und beschloß den Liederanhang. Den berechtigten Wünschen Vieler würde entgegengekommen und die Einführung eines völlig neuen Gesangbuches sollte in angemessener Frist angebahnt werden.
Es war eine weitsichtige Entscheidung. Das Register des Gesangbuches von 1887 nannte 141 Lieder im sog. Anhang des Gesangbuches. Davon sind 104 im heutigen EG enthalten. Von den 37 Liedern, die inzwischen entfallen sind, waren einige noch im EKG. Es sind die bekannten, oben bereits aufgezählten Lieder und noch folgende weitere bekannte wie „Befiehl du deine Wege“ „Fröhlich soll mein Herze springen“, „Gott des Himmels und der Erden“, „Hinunter ist der Sonne Schein“, „Tut mir auf die schöne Pforte“ u.v.a.m. Diese Lieder haben also eine nunmehr 100jährige ununterbrochene Liedtradition hinter sich.
Die Bemühungen von Domprediger Thiele und Otto Lohmann um eine Reform des Gesangbuches hatten endlich Früchte getragen. Äußerlich wirkte das Gesangbuch wie eine Einheit, tatsächlich handelte es sich bei den 141 Liedern nicht um einen Anhang, sondern um ein zweites, inhaltlich völlig anderes Gesangbuch. Ein weiterer Fortschritt war die Veränderung der Druckbuchstaben, die sich dem geläufigen Schriftbild anpaßte und daß unter jedem Lied nun der Verfasser angegeben wurde.


Anhang

Zu Ostern 1887 wurde der Anhang offiziell mit den angehängten Nummern 719-858 eingeführt. Jeder Konfirmand des Konfirmandenjahrganges 1887 erhielt ein Exemplar des Anhangs geschenkt (siehe Amtsblatt 1887 13.1.1887). In diesem Jahr erschien ein Gesangbuch mit schwarzem Samteinband und Goldschnitt, in dem nach dem Textteil mit den beiden Perikopenreihen 120 Melodien aus dem Stammteil und 41 aus dem neuen Anhang ohne Text abgedruckt waren.
Für die Organisten wurde auch ein Choralbuch zu den Liedern des Anhangs erstellt.
Dieser Anhang war ein wesentlicher Zwischenschritt zur Ablösung des Gesangbuches der Aufklärung. Er bot den Älteren die Möglichkeit, am herkömmlichen Gesangbuch festzuhalten und den reformfreudigen Lutheranern, sich wieder den Texten und Melodien des ersten Gesangbuches zuzuwenden.

In der Hannoverschen Nachbarkirche verlief die Gesangbuchgeschichte völlig anders. Erst ab 1864 wurde aus den fünf unabhängigen lutherischen „Landschaftskirchen“ Hannover, Osnabrück, Verden, Land Hadeln und Ostfriesland eine gemeinsame Hannoversche Landeskirche mit einem Landeskonsistorium. In diesem Gebiet waren 19 Gesangbücher im Gebrauch.
1881 wurde von der Hannoverschen Landessynode ein neues Gesangbuch für die ganze Landeskirche beschlossen, dessen Einführung sich allerdings noch hinzog. (nach Krumwiede II. Bd S.358/368).


Zum Teil 5: Das Gesangbuch von 1902/03 - ein Gesangbuch in der Zeit des Historismus und des Jugendstils






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Impressum  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Gesangbuch/T1K4.htm, Stand: Dezember 2007, dk