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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Die Geschichte der Pauligemeinde von 1930 - 1960

von Dietrich Kuessner

(Download des gesamten Textes als pdf hier)


Die deutsch-christliche Phase 1933-1935


Die anfängliche Begeisterung über den Machwechsel in Berlin
In Folge des Machtwechsels im Januar 1933, des Reichstagsbrands im Februar 1933 und des Erlasses von Ausnahmegesetzen zum Schutz des Staates vor „kommunistischen Terroristen“ erlebte die Stadt Braunschweig in der ersten Jahreshälfte 1933 einen raschen, sich wiederholenden Wechsel von rauschender Begeisterung und blutigem Terror auf offener Straße. Unter der Parole „Gleichschaltung“ wurden Parteien, Gewerkschaften, Vereine ausgeschaltet und zur Unterordnung unter den autoritären Staat gezwungen. Die Erinnerung an linke Traditionen sollte ausgelöscht werden. Nun hieß im Pauligemeindebezirk die Karl Marxstraße Voigts-Rhetsstraße, die Bebelstraße Husarenstraße, die Lassallestraße Marienstraße, die Liebknechtastraße Rosenstraße, die Friedrich Engelsstraße Herzogin Elisabethstraße.
Die Braunschweiger Stadtkirchen ließen sich tief in die Begeisterung hineinziehen. Mit zahlreichen anderen braunschweiger Pfarrern trat auch Pastor Schwarze im Mai 1933 in die NSDAP ein, nicht gezwungen, wie er nach dem Kriege dazu anmerkte. Er beteiligte sich nach eigenen Angaben bis zum Jahre 1937 anfangs auch aktiv an der Parteiarbeit der NSDAP Ortsgruppe. „In der Ortsgruppe Stadtpark der NSDAP übte ich vom 1.10.1933 – 20.5.1937 das Amt eines Politischen Leiters – Blockleiters – aus.“ Schwarze wird für diese Parteiarbeit nicht viel Zeit gehabt haben, aber „die Bewegung“ übte besonders zu Beginn eine starke Anziehung aus.

Die Deutschen Christen
Schwarze trat auch der Gruppe der Deutschen Christen bei, die 1933 vom Katharinenpfarrer Johannes Schlott nach dem Vorbild aus der Reichshauptstadt Berlin gegründet worden war. Die Deutschen Christen erstrebten eine Erneuerung der evangelischen Kirche durch engste Anlehnung an die NSDAP und die nationalsozialistische Staatsführung und eine undiskutierbare Identifizierung mit deren Programmatik und Politik.
Diese Politisierung der Pfarrerschaft wirkte sich auch auf das Pauli-Gemeindeleben aus. Als im Sommer 1933 erstmalig ein Reichsbischof für die Deutsche Ev. Kirche gewählt werden sollte, wurde zunächst der volkstümliche Leiter der Betheler Anstalten, Pastor Friedrich v. Bodelschwingh, für diesen Posten vorgeschlagen. Die Deutschen Christen dagegen wollten den Militärpfarrer Ludwig Müller durchsetzen und starteten eine Kampagne gegen Bodelschwingh. Lagershausen und Goetze luden zu einem Bodelschwingh-Abend in den Magnigemeindesaal ein, Schwarze war gezwungen, für Müller einzutreten, weil ein anderes Votum seinen Ausschluß aus den Deutschen Christen bedeutet hätte.
Bodelschwingh gab bald dem Druck der Deutschen Christen nach und zog sich nach Bethel zurück.

Die Deutschen Christen erobern den Pauli-Kirchenvorstand
Sehr viel deutlicher wurde die Spaltung bei den Kirchenwahlen zum Landeskirchentag und zum Kirchengemeinderat am 23. Juli 1933. Sie sind ein Stimmungsbarometer, wie es damals kirchenpolitisch in der Pauligemeinde aussah. Es kandidierten in der Landeskirche zwei kirchliche Gruppen gegeneinander: die Deutschen Christen und die Gruppe „Evangelium und Kirche“, in der sich überwiegend die konservativen Lutheraner zusammenfanden und eine Politisierung der Kirche ablehnten, aber keinesfalls die Regierung Hitler. Für die Wahlen zum Kirchengemeinderat wurden nach dem Braunschweiger Wahlgesetz in der Regel Einheitslisten erstrebt und nur so viel Kandidaten aufgestellt, wie auch gewählt werden sollten. Dann konnte der Wahlvorgang entfallen. Vor dem Wahltermin trafen sich Pfarrer Lagershausen, Pfarrer Goetze und Pfarrer Schwarze, um eine solche Einheitsliste aufzustellen. Nach einem zweistündigen Gespräch konnte jedoch keine Einigung erzielt werden, weil Schwarze auf einer 80 prozentigen Zusammensetzung des neuen Kirchenvorstandes zugunsten der Deutschen Christen bestand. Auch in der Sitzung des Kirchenvorstandes am 18. Juli 1933 scheiterte an derselben Forderung ein erneuter Versuch, doch noch eine Einheitsliste zustande zu bekommen. Das war deshalb auffällig, weil es in der Paulikirchengemeinde keine eigene Ortsgruppe der Deutschen Christen gab wie in anderen Kirchengemeinden. Ganz offensichtlich war die Einmischung der regionalen NSDAP Ortsgruppenführungen bereits außerordentlich dominierend. Die Kirchengemeinderäte sollten mit der Wahl erobert und gleichgeschaltet werden. An die Mitglieder des Kirchenvorstandes schrieben daher die Pfarrer Lagershausen und Goetze, außerdem die Kirchenvorstandsmitglieder Generalstaatsanwalt i.R. Holland und Dr. Bode: „Wir lehnen im voraus die Verantwortung für alle Folgen ab, die sich aus der Politisierung des kirchlichen Gemeindelebens ergeben könnten.“ Sie verzichteten aber auch, eine eigene Liste aufzustellen, „um nicht die in unserem Kreise entstandene Meinungsverschiedenheit sich in der Gemeinde unheilvoll auswirken zu lassen.“
Das sollte sich bald als eine vergebliche Hoffnung herausstellen. So gab es für die Wahl zum Kirchengemeinderat nur eine Liste mit den deutsch-christlichen Kandidaten und eine Wahl entfiel.
Pastor Schwarze hatte als Mitglied der Deutschen Christen einen Wahlvorschlag mit den Namen der neuen Kandidaten vorgelegt, offenbar ohne genauer über die Namen nachzudenken. Er gab später an, die Liste von den beiden Leitern der örtlichen NSDAP Ortsgruppen erhalten zu haben.

In der Paulikirchengemeinde war der Wechsel drastisch. Es wurden vom vorhergehenden Kirchenvorstand nur Emil Grosse, Ferdinand Rieche und Hermann Streif erneut aufgestellt.
Dem neuen Paulikirchengemeinderat gehörten folgende 18 Mitglieder und fünf Ersatzkirchenverordnete an: Berufsberater Hans Adler, Karl oder August Arend, Bankkassierer Hans Ball, Heinrich Brackhahn, Kaufmann Eduard Engelhardt, Reichsbahnlokomotivführer Karl Frühling, kaufm. Angestellter Kurt Geffers, Kaufmann Emil Grosse, Bücherrevisor Ludwig Hauswaldt, Ernst Helbig, Rudolf Hossfeld, Bruno oder Paul Kern, Ministerialrat Rudolf Kiehne, Prof. Willi Kükelhahn, Kaufmann Reinhold Piepenbrinck, Klempner Ferdinand Rieche, Studienrat Walter Rohwedder, Obersteuerinspektor Robert Röttger, städtischer Gelderheber Hermann Streif, Kriminalassistent Gustav Urban, Wolter, Versorgungsanwärter Wilhelm Wulf.

Aber die Gemeindemitglieder mußten doch an die Wahlurne, um ihre Stimme für den zu wählenden Landeskirchentag abzugeben. 5.213 Stimmen erhielten die Deutschen Christen, 1.058 die Liste „Evangelium und Kirche“, also ein haushoher Sieg für die neue junge Bewegung, wie sie sich verstanden. Im Vergleich mit den anderen Stadtgemeinden fiel Pauli keineswegs aus dem Rahmen.
Das Ergebnis muß unter der unverschämten Einmischung Hitlers gewürdigt werden, der in einer mitternächtlichen Rundfunkrede vor dem Wahltag derart unverblümt Partei für die Deutschen Christen ergriffen hatte, daß Dompropst Karl v. Schwartz die Liste I „Evangelium und Kirche“ am Morgen des Wahltages zurückzog, jedoch so spät, daß in den meisten Kirchengemeinden doch gewählt wurde. Es gab in der Landeskirche trotzdem immerhin 18 Kirchengemeinden vor allem auf dem Lande, in denen auch die Liste I eine Mehrheit erhalten hatte. Und es bleibt ein Unikum, daß nach Abschaffung aller Parteien doch so etwas wie eine demokratische Wahl im Juli 1933 in der evangelischen Kirche stattfand.
In der Stadt Braunschweig war die Stimmung trotz Einmischung der ns. Partei ganz deutlich für die Deutschen Christen. Man wollte einen Wechsel in der Landeskirche und offenbar auch in den Kirchengemeinden.

Das neue Gemeindehaus wird eingeweiht
Nachdem der neue Kirchenvorstand am 6. August von Pastor Lagershausen in sein Amt eingeführt worden war, trafen sich der alte und neue Kirchenvorstand am 20. August 1933 gemeinsam zur Einweihung eines neuen Gemeindehauses. Damit war ein jahrzehntelanger Wunsch in Erfüllung gegangen. Der längst fällige Bau eines Gemeindehauses, der im Zusammenhang mit dem Kirchbau versäumt worden war, war immer wieder hinausgeschoben worden. Im Frühjahr 1933 hatte die Kirchengemeinde das geräumige Vereinshaus des Druidenordens Kasernenstraße 7 Ecke Fasanenstraße mit Saal und mehreren Wohnungen, sämtlichem Mobiliar und Geschirr käuflich erwerben können. Pastor Lagershausen hielt die Festansprache, der Gemeindejugendchor sang, Stadtkirchenrat Runte überbrachte die Glückwünsche des Stadtkirchenausschusses, Kirchenvorstandsmitglied Adler, der die inzwischen gegründete deutsch-christliche Ortsgruppe der Kirchengemeinde leitete, dankte und wünschte, „daß das Gemeindehaus eine Stätte echt christlichen Glaubens und echt deutschen Volkstums sein und bleiben möge.“ (Sonntagsgruß 1933/ S. 278). Eine der Wohnungen belegte der Küster Ahrens, im Saal fanden Frauenhilfsversammlungen und Männerabende, Kirchenvorstandssitzungen und Jugendkreise statt. Der Saal wurde auch anderweitig, z.B. für Proben der Niederdeutschen Volksbühne vermietet. Bei einem Luftangriff 1944 wurde das Gemeindehaus vollständig zerstört.

Lagerhausens Kritik an der neuen Entwicklung
Die Genugtuung, die Pastor Lagershausen bei der Einweihung des von ihm immer wieder angemahnten Gemeindehausbaues empfand, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die neue Besetzung für ihn eine schwere Kränkung bedeuten mußte, da die meisten seiner bewährten Mitarbeiter im Kirchenvorstand an die Luft gesetzt worden waren. Als Lagerhausen am 29. Oktober 1933 seine Abschiedspredigt hielt, bekannte er zwar offen seine Sympathie für die neue nationale Erhebung im Gegensatz zur Zeit der Weimarer Republik, aber unüberhörbar warnte er vor der Gefahr, daß „die Kirche allmählich als eine Unterabteilung des Staates betrachtet“ würde, „die von ihm oder von der gerade herrschenden Partei aus politische Direktiven für ihr Predigen und Handeln zu empfangen habe.“ Das konnten die Beteiligten als einen unüberhörbaren Hinweis auf das Zustandeskommen der Liste der Deutschen Christen und der Zusammensetzung des neuen Kirchenvorstandes verstehen. Und die Bemerkung von der „gerade“ herrschenden Partei war eine Ohrfeige für das strotzende Selbstbewußtsein der NSDAP im Oktober 1933. Lagershausen fügte eine weitere, ebenfalls klare Warnung an. Er hielt die aufkommende neue germanische Religion „von Männern wie Rosenberg, Wirth, Reventlow, Bergmann, Frau Ludendorff“ für eine weitere Gefahr. „Laßt euch nicht verführen durch die Schlagworte „deutsch, deutsche Religion, deutsche Kirche!“. Eine scharfe Scheidung zwischen germanischem Heldentum und deutschen Christentum wäre unvermeidlich. Die Abwehr, ja der Kampf gegen diese Gefahr wäre die besondere Aufgabe der „deutschen Christen“. Der später gedruckte Predigttext ließ offen, ob Lagershausen damit die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ meinte oder alle deutschen Christen, also alle Gemeindemitglieder der zuhörenden Pauligemeinde. Die unter der Kanzel sitzenden neuen Kirchenvorstandsmitglieder mußten diese Predigtpassage als Affront gegen ihre Parteiideologie verstehen, denn wenn auch Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ kein parteiamtliches Buch war, so gehörte es doch zu ersten Garnitur der nationalsozialistischen Literatur. (Sonntagsgruß 5.11.33 S. 353 ff, auch Sonntagsgruß 29.10.1933 S. 350 St. Pauli)

Lagershausen machte seinem Unmut über die kirchenpolitische Entwicklung auch noch einen Monat später Luft. Er nahm wie die gesamte Braunschweiger Pfarrerschaft an einer vom deutsch-christlichen Bischof Beye einberufenen Pfarrversammlung am 30. November 1933 in Dannes Hotel teil. Dort kam es nach einem Vortrag des Bischofs zu einem Eklat, weil dem Pfarrer Lachmund brüsk das Wort entzogen worden war und daraufhin 43 Pfarrer den Saal verließen und im Flottenvereinsraum des Börsenhotels weiter berieten, was zu tun wäre. Unter den 43 waren auch Pfarrer Lagershausen und Pfarrer Goetze. Das war ein deutlicher Affront gegen die deutsch-christliche Kirchenleitung. Die meisten der 43 fanden sich zum Pfarrernotbund zusammen, darunter auch Goetze, der von Anfang an als Mitglied des Pfarrernotbundes geführt wurde. Damit war der Riß zwischen den drei Paulipfarrern offenbar geworden: P. Schwarze gehörte den Deutschen Christen an, P. Goetze dem Pfarrernotbund und P. Lagershausen war die Gruppenbildung in der Landeskirche zuwider. Entscheidend würde nun sein, wen der Paulikirchenvorstand als Nachfolger von P. Lagershausen wählen würde.

Otto Henneberger wird nach Braunschweig geholt
Der Braunschweiger Kirchenrat Runte war im August 1933 abgelöst worden. Sein Nachfolger, der vom Landesbischof Beye eingesetzte, aus Thüringen stammende Pfarrrer an Ulrici Alfred Wagner, kannte den dort weithin bekannten Pfarrer Otto Henneberger aus Jena. Beide empfahlen dem Kirchenvorstand, Henneberger nach Braunschweig zu holen. Von ihm konnten sie sich Unterstützung für die deutsch-christliche Sache erhoffen.
Henneberger, Jahrgang 1892, war 42 Jahre alt, als er am 3.12.1933 vom Kirchenvorstand als Pfarrer gewählt wurde und am 1. Februar 1934 sein Pfarramt antrat. Er war Pfarrer in einigen thüringer Dorfgemeinden gewesen und zum Schluß in einem übergemeindlichen apologetischen Pfarramt in Jena. Henneberger hatte sich für diesen Posten durch eine Schrift „Kirche und Freidenkertum“ empfohlen, die 1931 von der Apologetischen Zentrale in Berlin Spandau verlegt worden war. Henneberger billigte zwar der Freidenkerbewegung einen „Wahrheitskern“ zu, der jedoch unter der offenen Leugnung Gottes tief verborgen wäre.. „Das Freidenkertum lebt von dem Nein wider Kirche und Gott. Sein erster Kampfruf lautet: Zertrümmert die Kirche! Sein letztes Kampfziel heißt: Selbstherrliche gottlose Welt!“ So hatte auch Alfred Goetze seinen Kampf gegen die linken Schulreformen im Braunschweigischen geführt und konnte in Henneberger einen Kampfgefährten sehen. Schon im Oktober 1934 wurde Henneberger vom Kirchenkommissar Dr. Johnsen, dem künftigen Landesbischof zum Gauobmann der Deutschen Christen berufen. Darin stand er dem Kollegen Schwarze näher.
Nach dem Krieg gab Henneberger im Entnazifizierungsverfahren an, er hätte die Thüringer Landeskirche in Ablehnung der Thüringer Deutschen Christen, einer besonders radikalen Form der Deutschen Christen, verlassen. Das erweckte indes den irrigen Eindruck, als ob er sich auch von den gemäßigten Deutschen Christen getrennt hatte.

Zum Einführungsgottesdienst am 17. Februar 1934 durch Kreispfarrer Wagner waren die meisten Kirchenvorsteher im Braunhemd erschienen. Henneberger predigte über das Wort aus dem Timotheusbrief „Das ist je gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen.“ Der „Sonntagsgruß“, das evangelische Wochenblatt für Stadt und Land Braunschweig, widmete dem Ereignis am 25.2.34 einen langen Bericht. Die Predigt vermied deutsch-christliche Phrasen und rechtfertigte die Konzentration des Pfarramtes auf das Predigtamt. „Die weihevolle und packende Predigt hinterließ einen tiefen Eindruck“, stellte der Berichterstatter fest.

Der kirchliche Aufschwung 1933/34 in Zahlen
Die Gemeindemitglieder hatten den Wechsel von Enthusiasmus und Terror, der sich in den vergangenen Monaten auf offener Straße abgespielt hatte, miterlebt, aber sie spürten vor allem einen kirchlichen Aufschwung, der sich auch in der Tabelle der Amtshandlungen der Paulikirche von damals widerspiegelt.

Jahr

Taufen

  Trauungen

Konfirmanden

1931

121

83

185

1932

112

100

186

1933

127

139

149

1934

233

181

305

1935

257

159

332


Die Zahlen, die den Eintragungen in den Kirchenbüchern entnommen sind, zeigen im Vergleich zu den beiden Vorjahren den ungewöhnlichen Anstieg aller Amtshandlungen seit 1933. Der Anstieg der Taufziffer ist keineswegs nur mit geburtenstarken Jahrgängen zu erklären, (leider fehlen die Vergleichszahlen zu den Geburten in diesem Quartier), sondern Taufhandlungen waren begehrt und wurden auch „nachgeholt“. Von den 127 Taufen des Jahres 1933 gehörten 47 Täuflinge den Geburtsjahrgängen 1886-1929 an. Drei Täuflinge waren über 20 Jahre, sechzehn zwischen 10 und 20 Jahre und dreiundzwanzig zwischen 5 und 9 Jahren alt. So erklärt sich, daß in der Landeskirche die Zahl der Taufen 1933 die Zahl der Geburten überstieg. Das konnte als ein eindrucksvolles Argument für die „Wiederkehr des Religiösen“ verstanden werden. Von den 233 Taufen im Jahre 1934 waren noch 37 Täuflinge zwischen drei und zwanzig Jahre alt und 1935 35 Täuflinge zwischen drei und fünfzehn Jahre alt.
Die Anzahl der Trauungen erreichte in der deutsch-christlichen Phase 1933/35 eine besondere Höhe. Kirchliche Trauungen galten als parteikonform, am liebsten in brauner Uniform. Die Trauungen häuften sich öfters an einem Tag. Ob es dabei auch zu gemeinsamen Trauungen gekommen ist, ist nicht festzustellen. Wie schon bei den Taufen wurden auch Trauungen aus den früheren Jahren nachgeholt.

Ein starker Eintrittsboom
Am stärksten aber spiegelte sich der kirchliche Aufschwung in den Eintrittszahlen. Die Landeskirche erlebte einen einmaligen Ansturm von Wiedereintritten von 5.334 (1933), 1.974 (1934) und 992 (1935), die die Austrittszahlen weit übertrafen 478 (1933), 245 (1934), 705 (1935). Leider läßt sich diese Bewegung infolge des Aktenchaos auf allen Verwaltungsebenen nicht für die einzelnen Propsteien und Kirchengemeinden verfolgen. Einige Eintrittszahlen waren in den Kirchenbüchern im Konfirmationsregister vermerkt. 1933 traten in der Pauligemeinde bis zum 24. März 26 Dissidenten, dazu befindet sich im Konfirmandenregister unter 1933 die Notiz: „325 Dissidenten sind zurückgetreten“. 1935 kehrten 55 Personen wieder in die evangelische Kirche zurück. Unter den Braunschweiger Pfarrern gab es sehr unterschiedliche Aufnahmeformen: mal nach einer Besinnungszeit oder gleich bei der Anmeldung, nach einem Gottesdienst vor dem Altar oder im Amtszimmer im Pfarrhaus, mit und ohne Kirchenvorstandsmitglieder, mit Abendmahlsbeteiligung oder nur mit Handschlag. Pastor Goetze teilte am 30.3.1934 dem Landeskirchenamt bündig mit: „Die Aufnahme von Ausgetretenen in die Kirche erfolgt in allen drei Bezirken nur in der Weise, daß ein Protokoll in der Wohnung des zuständigen Pfarrers aufgenommen wird.“ Das war die schlichteste Form, wie sie auch vom Nachbarpfarrer an Johannis Otto Jürgens gewählt wurde. Pastor Schwarze berichtete noch etwas ausführlicher, daß es zu einer „sehr erfreulichen Aussprache“ mit dem Wiedereintretenden käme und er würde „ermahnt, sich in Zukunft am Besuch der Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen fleißig zu beteiligen“. (LKA 322) Das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich die drei Paulipfarrer mit dem Kircheneintritt doch sehr einfach gemacht und ihn zu einem bloßen Verwaltungsakt herabgewürdigt hatten. Die Eintritte hörten daher in Pauli auch nicht auf. Möglicherweise hatte es sich in Braunschweig herumgesprochen, daß an Pauli der Eintritt am flottesten zu haben war.

Deutsche Christen gegen Deutsche Glaubensbewegung
Henneberger wurde bereits einen Monat nach seinem Einführungsgottesdienst in der Paulikirche stadtbekannt. Die Deutsche Glaubensbewegung hatte am 8. März 1934 mit ihrer Führergestalt Reventlow in Braunschweig eine große Veranstaltung unter dem Thema „Der deutsche Weg zu Gott“ abgehalten. Die Deutsche Glaubensbewegung unter der Führung von Hauer und Reventlow hatte sich seit 1933 heftige Unterstützung für die von ihr propagierten deutsch-germanischen Religion durch Teile der führenden Nationalsozialisten erhofft, worauf Hitler nicht einging, aber die unteren Parteiränge in ihrer kirchenfeindlichen Agitation gewährend ließ. Anfang 1934 hatte die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung offen zum Kirchenaustritt aufgerufen.
Die Braunschweiger Großveranstaltung wurde eine Woche später von den Deutschen Christen mit einer Gegenveranstaltung beantwortet wurde. Henneberger, gerade frisch in Braunschweig, war ihr Hauptredner. Unter dem polemischen Titel „Stimme des Blutes oder Wort Gottes?“ hatte Henneberger bereits um die Jahreswende 1933/34 in einem handlichen Heft für die Gemeinden die Argumente gegen das Deutschchristentum (Niedlich, Dinther, Wirth) und die zersplitterten religiösen völkischen Gruppen (Tannebergbund, Ludendorff u.a.) aufgelistet und gefolgert, das Volk dürfe nicht zum Herrn der Kirche und die Stimme des Blutes nicht zu ihrem Inhalt gemacht werden. Das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und der Kirche würde nicht theoretisch sondern durch lebendige Beziehung geklärt, nämlich – und nun erfrischend offen – „dadurch, daß die Kirche einerseits Hitler und seiner Bewegung ihrem Auftrag gemäß das Evangelium lauter und rein verkündigt und andrerseits Hitler und seine Bewegung sich diese Verkündigung gefallen läßt. Auch ihm ist die Kirche das Evangelium schuldig.“ Gefahr wäre im Verzuge, wenn sich der Nationalsozialismus als verkappte Religion darstellte. „Mit religiöser Verehrung wird dann der Führer als göttlicher Held gepriesen und mit schwärmerischer Glut das Dritte Reich als Reich des Heils, als Reich Gottes erwartet. Möge die Gefahr solchen Schwärmertums, das ja nur die eigentliche Gottesferne verhüllt, gebannt werden.“

Auf der Gegenkundgebung am 14. März 1934 sparte Henneberger nicht mit polemischen Attacken. Die Deutsche Glaubensbewegung wäre ein „Bekenntnis zum Heidentum“, Ludendorf ein von der Synagoge ausgeschickter Erzpriester und die Kirche des Herrn Reventlow eine germanische Abart der Synagoge. Damit hatte Henneberger aber auch bei den regionalen Nationalsozialisten ins Fettnäpfchen getreten. Der nationalsozialistische Kreisnachrichtenleiter meldete in seinem internen Tätigkeitsbericht für den Monat April, es wären in der letzten Zeit in kirchlichen Kreisen Schriften erschienen, die Alfred Rosenberg angriffen, z.B. eine Schrift des Pfarrer Henneberger. Am 7. April erhielt Ministerpräsident Klagges einen Bericht über die deutsch-christliche Versammlung, in dem es abschließend hieß: „Störung der Volksgemeinschaft... geeignet, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören... Gefahr, daß Zweifel bei denjenigen Volksgenossen geweckt werden, die noch nicht fest in unserer Bewegung stehen.“
Henneberger schrieb noch im selben Monat ein Heft „Die religiöse Gestalt der deutschen Nation“ und datierte es auf 20. April 1934, „dem 45. Geburtstag des Führers“ wie er am Ende der Arbeit bedeutungsvoll vermerkte. Henneberger, der gerne in großen Zusammenhängen dachte, sah „die Idee der deutschen Revolution“ vom Januar 1933 im scharfen Gegensatz zur französischen Revolution: dort die Verkündigung der Menschenrechte und des Individuums, hier der totale Staat, „der alles Besondere aufruft zu gehorsamer, dem Ganzen mit seinen Gaben und Kräften dienender Einordnung“. (S. 11). Der Nationalsozialismus bedeute nach einer Periode der Verweltlichung und Gottlosigkeit in Deutschland eine Rückkehr des Religiösen zum deutschen Menschen. Diese Sehnsucht würde durch Hitler erfüllt. „Der neue Staat will Religion. Der Führer hat es unmißverständlich ausgesprochen, daß das Reich auf religiösen Fundamenten ruht, die der Wesensart der Nation entsprechen, und daß es im besonderen auf der Grundlage eines positiven Christentums sich erbaut. Es ist von höchster Gefährlichkeit für den Bestand des Reiches, an dieser grundlegenden Bestimmung des Führers zu rütteln.“ (S. 7) Henneberger nahm Bezug auf die Regierungserklärung Hitlers vom März 1933, in der Hitler tatsächlich die beiden christlichen Kirchen als Säulen seiner künftigen Politik bezeichnet hatte. Der vieldeutige Begriff eines positiven Christentums stammte aus dem nationalsozialistischen Parteiprogramm und wurde von den Gutwilligen so gedeutet, daß die NSDAP sich im Unterschied zu KPD und SPD als eine christliche Partei verstand. Henneberger interpretierte den Parteiparagraphen vom positiven Christentum als lutherisches Christentum. Der nationalsozialistische Staat mit dem Parteiprogramm des positiven Christentums war demnach für die evangelische Kirche der ideale Partner, um im Volk Gehör zu finden für das Wort Gottes und die Volkskirche zu erhalten.
Das Amt der Volkskirche dagegen wäre es, Dom der Nation zu sein. In diesem Dom der Nation waren Luther und Hitler, lutherisches Bekenntnis und nationalsozialistische Politik zwar beide für sich und doch je nach Gelegenheit mal enger, mal distanzierter aufeinander bezogen. Gegenüber dem Nationalsozialismus hätte die Kirche eine pädagogische Aufgabe, nämlich den nationalsozialistischen Staat vor der Versuchung der Unkirchlichkeit oder eines Religionsersatzes zu bewahren, wie es die Deutsche Glaubensbewegung in Anspruch nahm.

Das war das in vielen Variationen und weiteren populären Schriften für die Hand der Gemeinde vorgetragene Denkmodell Hennebergers. Die Doppelgesichtigkeit von außerordentlicher Nähe zum nationalsozialistischen System und Staat und die polemische Distanz zur Deutschen Glaubensbewegung und der damit liebäugelnden nationalsozialistischen Parteigruppierung gaben der Position Hennebergers den typischen, von Fall zu Fall je nach Gelegenheit changierenden Charakter. Das erklärt auch, daß sich Henneberger nach dem Krieg von dieser Schrift nie unmißverständlich distanziert hat.
Im Erscheinungsjahr 1934 charakterisierte diese Schrift Henneberger als gemäßigten Deutschen Christen und gab ihm im Kirchenvorstand eine gefestigte Position, obwohl er im Gegensatz zu P. Schwarze kein NSDAP Mitglied gewesen war.

Der Antisemitismus Hennebergers
Wie unmenschlich nah sich dieses Nebeneinander von lutherischem Christentum und Nationalsozialismus entwickeln konnte, veranschaulicht das Kapitel „Wider Juda“, in dem Henneberger das Altes Testament als ein „völkisches Buch“ mißverstand, und das jahrzehntelange Klischee einer Verbindung von Marx, Lenin und dem Judentum bediente. Nur von der evangelischen Kirche aus könne der „Freiheitskampf gegen den ewigen Juden siegreich geführt, der zersetzende Einfluß Judas abgedämmt werden.“ Sprachlich und gedanklich verwendete Henneberger die ordinären antisemitischen Phrasen, die die evangelischen Christen gegenüber der Judenverfolgung nicht nur widerstandslos machten, sondern geradezu eine theologische Begründung für ihre Beseitigung aus „dem deutschen Volkskörper“ lieferten.
Hinter den Parteikulissen war das Urteil über die Schrift Hennebergers widersprüchlich. Im Brief vom 9. Juni 1934 an Goebbels hielt der Braunschweiger Innenminister Jeckeln ein Verbot der Schrift für erforderlich, „da die Ausführungen die NSDAP und ihren Führer verächtlich machten.“ Im Berliner Innenministerium war man dagegen anderer Ansicht und Staatsekretär Daluege entschied, ergebenst von der Einziehung der Druckschrift abzusehen, da ihr Inhalt im wesentlichen unbedenklich wäre.

Goetzes Nähe zum Pfarrernotbund
Die Spannungen zwischen den Paulipfarrern wurden gelegentlich auch in Predigten deutlich. Aus Protest gegen die kirchenpolitische Entwicklung und die Deutschen Christen war der Präsident des Evangelischen Kirchentages Pechmann aus der evangelischen Kirche ausgetreten, was seinerzeit großes Aufsehen in der kirchlichen Öffentlichkeit erregt hatte. Goetze nahm den Kirchenaustritt in der Predigt am 22. April 1934 zum Anlaß, um vor einem Irrtum der Kirche zu warnen. Der Irrtum bestünde darin, daß die Kirche 1933 zu sehr auf den schnellen, äußeren Erfolg geblickt hätte. „Sie glaubte, unser Volk hätte mit seiner nationalen Revolution zugleich eine religiöse Revolution erlebt; das deutsche Volk sei zu einem Volk Gottes geworden, die deutsche Art verbürge an sich schon den Sieg der christlichen Wahrheit“. Das war eine deutliche Anspielung auf die deutsch-christlichen Phrasen. Wenig vorher hatte Pfarrer Grüner von der Martinikirche in seinem Gemeindebrief geschrieben: „In Hitler ist die Zeit erfüllt für das deutsche Volk. Denn durch Hitler ist Christus, Gott der Helfer und Erlöser, unter uns mächtig geworden. Hitler ist jetzt der Weg des Geistes und des Willens Gottes zur Christuskirche deutscher Nation.“ Diese schauerliche Verwechslung von Kirche und Politik, das Ineinander von Christus und Hitler, von nationaler und religiöser Erweckung nahm Goetze aufs Korn. Er warnte davor, den Nationalsozialismus als selbstverständliche, automatische Wiederkehr des Religiösen zu feiern. Das Landeskirchenamt forderte Goetze auf, den Wortlaut der Predigt einzureichen. Über den Begleitbrief Goetze schrieb Oberkirchenrat Schlott in blauer, breiter Schrift: „Folgt Pechmanns Beispiel und tretet aus der Kirche aus!!“ und legte ihn zu den Personalakten. Dadurch ist die Predigt bis heute erhalten. OKR Lambrecht schrieb Goetze sechs Wochen später, das Landeskirchenamt könne nicht umhin, „Ihnen Vorsicht auf der Kanzel zu empfehlen“.
Vorsicht war indes nicht die Sache Goetzes. Als im Frühjahr 1934 Kirchenrat Palmer und Domprediger v. Schwartz zwangsbeurlaubt wurden, Pfarrer Lachmund mit einem Dienststrafverfahren aus der Blankenburger Gemeinde entfernt und zwei dem Pfarrernotbund angehörenden Vikaren im April 1934 die Anstellung verweigert wurde, protestierte der Pfarrernotbund in einem öffentlichen Schreiben, das er an alle Pfarrer verschickte: „Wir stehen nach wie vor in vorbehaltlosem Vertrauen zu unserem Amtsbruder Pfarrer Lachmund, Blankenburg. Die Durchführung des Dienststrafverfahrens und die Verurteilung des Pfarrer Lachmund dienen in keiner Weise dem Aufbau, sondern nur der Zerstörung wahrhaft kirchlichen Lebens..“ Zu den 31 Unterzeichnern gehörte auch Goetze. Der Protest war vier Tage nach der Predigt in Pauli abgefaßt.

Der Versuch des deutsch-christlichen Kirchenvorstandes, Pfarrer Goetze abzusetzen
Wie würde sich der Konflikt, der zunächst vor allem unter den drei Paulipfarrern stattfand, auf der Kirchenvorstandsebene auswirken? Die Zusammensetzung des deutsch-christlichen Paulikirchenvorstandes währte nicht lange. Der Wahlvorschlag war von vornherein anfechtbar und die Zusammensetzung bröckelte von Anfang an, sodaß bereits nach einem Jahr zehn Mitglieder wieder ausgeschieden waren. Kern konnte die Wahl nicht annehmen, weil er katholisch war, Wolter hatte von seiner Kandidatur auf der Straße erfahren, wo ihm die Zeitungsnotiz vorgehalten wurde. Helbig nahm die Wahl nicht an, weil er parteiamtlich zu stark beansprucht war, Rohwedder legte sein Amt nach drei Wochen im August 1933 aus beruflichen Gründen nieder, Arend, Hossfeld, Kühne, Wolter, Wulf verzogen aus der Gemeinde. Die Liste war offensichtlich rasch und oberflächlich zusammengestellt. Hauswaldt legte im August 1934 sein Amt als Kirchenvorsteher und Provisor nieder, weil ihm seine Mitgliedschaft in der NSDAP aberkannt wurde. Das Mitglied Brackhahn verstarb. Der Kirchenvorstand war auf 13 Mitglieder zusammengeschrumpft, von denen dann einige überhaupt nicht zur Sitzung erschienen. Das mochte auch in der Natur der Sache liegen. Tatsächlich war der Kirchengemeinderat ein Organ aus republikanischer Zeit und wurde von seinem Vorsitzenden Goetze auch so geführt. Während alle anderen Organe und Vereine entweder aufgelöst oder gleichgeschaltet waren, wurde im Kirchengemeinderat von Pauli so gearbeitet, als ob es kein Führerprinzip gäbe. Es wurde diskutiert und abgestimmt.

Pastor Goetze schlug nun dem kommissarischen Kirchenführer und späteren Landesbischof Johnsen im August 1934 vor, im Einvernehmen mit den beiden anderen Pfarrern neue, zusätzliche Mitglieder zu ernennen. Die neu vorgeschlagenen empfahlen sich nach Aussagen von Pastor Goetze durch starke Gemeindebindungen und gehörten teilweise auch der NSDAP an, konnten also als „politisch zuverlässig“ gelten. Es waren Landgerichtsrat Karl Höse, Kaufmann Wilhelm Strübing, Werkmeister Karl Preer, Schulrat Wilhelm Staats und Studienrat Willi Hesse zum sofortigen Eintritt in den Kirchenvorstand und als Ersatzmänner: Baurat Prof. Karl Kellner, Kaufmann Feodor Peters, Generaloberveterinär a. D. Dr. Friedrich Klotz, Studienrat Dr. Franz Klingenspor und Mittelschuldirektor Hermann Schellbach.

Nachdem das Einverständnis der Kandidaten eingeholt war, ernannte Johnsen Karl Kellner, Friedrich Klotz, Franz Klingspor, Feodor Peters, Willi Hesse als Ersatzkandidaten. Diesem Vorgehen fehlte zwar eine Rechtsgrundlage, aber sie entsprach dem Führerprinzip und half dem Notstand zügig ab. Am 21. Oktober wurden die neuen Kirchenvorsteher im Gottesdienst in ihr Amt eingeführt. Goetze hatte das Vorgehen mit dem amtierenden Kirchenvorstand nicht abgesprochen und zu einer ersten Sitzung mit dem neugebildeten Kirchenvorstand drei Tage nach dessen Einführung zum 24. Oktober eingeladen. Die Ernennung der neuen Mitglieder stieß in der Sitzung auf massiven Widerstand der deutsch-christlichen Mitglieder des Kirchenvorstandes. Die beiden Ortsgruppenleiter Geffers und Engelhardt, die sich im Kirchenvorstand als „Vertreter des Staates“ fühlten und sich auch so bezeichneten, polterten gegen die neuen Mitglieder los: „Das ist ja allerhand, schließlich müssen wir uns noch ganz rote Brüder hier vorsetzen lassen,“ schrie Engelhardt und hämmerte mit der Faust auf den Tisch. „Was haben Sie uns hier für Leute verpaßt?“, blaffte Geffers Pastor Goetze an. Er hätte die HJ Jungen im Konfirmandenunterricht nach hinten gesetzt, den Ministerialrat Kiehne zur Aufgabe des Mandats gedrängt, Schwarzarbeit an seinem Pfarrhaus geduldet, im Gottesdienst am 30. Oktober 1933 die Judenrasse verherrlicht. Es wäre ja fraglich, ob Goetze unter diesen Bedingungen überhaupt noch den Vorsitz führen könne. Das sollte mal der Bischof „unter Bezugnahme auf die Akte der geheimen Staatspolizei“ prüfen“. Goetze solle am besten sein Amt niederlegen und verschwinden, hätte dazu aber wohl nicht den Mut. Es war eine geplante, pöbelhafte Aktion, die aber nur halbwegs ihren Zwecke erfüllte. Da Goetze von seinen Kollegen Schwarze und Henneberger allerdings nicht unterstützt wurde, gab er notgedrungen den Vorsitz ab, zeigte sich aber, abgehärtet durch die kirchenpolitischen Kämpfe um die christliche Schule in den zwanziger Jahren, widerstandsfähig und blieb im Pfarramt. Den Vorsitz übernahm nunmehr Pfarrer, Parteigenosse, Deutscher Christ und „Bruder“ Schwarze. Der Kirchenvorstand wählte nun seinerseits andere Ersatzkandidaten und bestand auf seinem Vorschlagsecht. Das widersprach zwar völlig dem nationalsozialistischen Führerprinzip und berief sich auf ein demokratisches Vorschlagsrecht, aber das Führerprinzip war für Nationalsozialisten nur insofern handhabbar, als sie es selber benutzen konnten.
Die Zurückgesetzten protestierten beim Landesbischof. „Wir sehen in dem Vorgehen des Kirchenvorstandes einen der politischen Eingriffe in das kirchliche Leben, die vom Führer wiederholt mißbilligt und von seinem Stellvertreter ausdrücklich verboten sind.“ Auch der emeritierte Pfarrer Lagershausen sowie Prof. Dr. Lippelt, Generalstaatsanwalt i.R. Holland und Archivdirektor Macke baten den Bischof, an seinem Vorschlag festzuhalten. Dieser Kirchenvorstand stünde „unter dem Terror zweier politischer Ortsgruppenleiter“, zu denen seine beiden Kollegen übergelaufen wären, stellte Goetze in einem Bericht an das Landeskirchenamt fest.

Der Graben zwischen den drei Pfarrern vertiefte sich, als Goetze im Adventsgottesdienst am 9. Dezember 1934 einen Vortragesabend der Bekennenden Kirche in der Stadt abkündigte und einen vom damaligen Reichsvorsitzenden der Bekennenden Kirche, Landesbischof Marahrens, unterzeichneten Aufruf in der Bibelstunde verteilte. Damit schwappte der besonders in den preußischen Landeskirchen tobende Kirchenkampf auch in die Paulikirchengemeinde über und der Bischof versuchte in einem gemeinsamen Gespräch, das zerbrochene Verhältnis zwischen den drei Paulipfarrern wiederherzustellen. Goetze möge dauerhaft auf den Vorsitz verzichten und die Beleidigungen sollten von den nazistischen Kirchenvorstandsmitgliedern zurückgenommen werden. Die deutsch-christlichen Kirchenvorsteher und zugleich Ortsgruppenleiter indes bestanden auf einem persönlichen Gespräch mit dem Landesbischof, das am 15. Januar 1935 in der Hagenschänke stattfand, aber ergebnislos verlief. Goetze wäre ein „reaktionärer Staatsfeind.“

Eine Woche später nahm das Landeskirchenamt überraschend alle Berufungen wegen ihrer offenen Rechtsungültigkeit zurück. Das kam groteskerweise den das Kirchenrecht verspottenden Nationalsozialisten zu gute, aber nur für einige Monate. Diese erstrebten eine Beendigung des Kirchenvorstandes als Organ der Kirchengemeinde, blockierten die Arbeit und erschienen das Jahr 1935 nicht mehr zu den Sitzungen. Da sie auch sonst am kirchlichen Leben nicht teilnahmen, war nun auch Pastor Schwarze von einer Neubildung überzeugt.
Nach dem Krieg schrieb P. Schwarze in die Kirchenchronik: „Durch den von der NSDAP aufgestellten Kirchenvorstand wurde das Gemeindeleben nicht gestört“. Das war mehr als Schönfärberei, denn der Kirchenvorstand war zwar auf einen Vorschlag der NSDAP zustande gekommen, aber der Vorschlag wurde von Schwarze selber als Deutscher Christ eingereicht.
Und von der „fehlenden Störung“ konnte nun wirklich keine Rede sein.

Die Neubildung des Kirchenvorstandes
Um die durch den Kirchenvorstand verursachte „Störung“ zu beheben, ergriff wieder Pfr. Goetze die Initiative. Er schilderte dem Landesbischof ausführlich die Situation und dieser beantragte Anfang Dezember 1935 bei der Kirchenregierung die Auflösung des gesamten Kirchenvorstandes mit Hilfe des § 23 der Kirchengemeindeordnung vom 21.7.1922 im Umlaufverfahren und berief im Einvernehmen mit den drei Pfarrern einen neuen Kirchenvorstand. Dazu war inzwischen auch eine gesetzliche Grundlage geschaffen worden. Im Gottesdienst am 1. Januar 1936 wurde der neuberufenen Kirchenvorstand feierlich in sein Amt eingeführt. Ihm gehörten nunmehr an:
Der Prokurist Hans Ball, Bankbeamter Paul Danneberg, Versicherungsbeamter Paul Engeland, Kaufmann Emil Grosse, Studienrat Willi Hesse, Landgerichtsrat Karl Höse, Kriminalsekretär Friedrich Jorns, Prof. und Baurat i.R. Karl Kellner, Oberingenieur Franz Kirchberg, Studienrat Dr. Franz Klingenspor, Lehrerin Anna Löhnefinke, Ehefrau Helene Lüddeckens, Archivdirektor i.R. Prof. Heinrich Mack, Kohlenhändler Karl Meier, Werkmeister Karl Preer, Juwelier Ernst Ring, Witwe Johanne Tetzlaff, Polizeibetriebsassistent Gustav Urban.
Vom ehemaligen Kirchenvorstand des Jahres 1933 waren Ball, Grosse, Urban übriggeblieben. Vom 1933 geschaßten Kirchenvorstand aus dem Jahre 1929 kehrten erneut in den Kirchenvorstand Fr. Löhnefinke, E. Grosse, K. Kellner, F. Klingenspor, K. Preer, R. Ring zurück. Karl Kellner und Emil Grosse übernahmen als Provisoren die Aufsicht über die Gemeindekassen.
Der neue Kirchenvorstand zeigte einige typische Veränderungen. Der deutschchristliche Vorstand war nur mit Männern besetzt, jetzt waren wieder wie vor 1933 drei Frauen berufen Der prominenteste Ausgeschiedene war Ministerialrat Kiehne. Vor allem gehörten die beiden Ortsgruppenleiter Geffers und Engelhardt nicht mehr dem Kirchenvorstand an. Auch wenn bei dem neuen Kirchenvorstand auf Parteizugehörigkeit und „nationale Zuverlässigkeit“ geachtet wurde, bedeutete die Neubildung das Ende der deutsch-christlichen Phase in der Geschichte des Paulikirchenvorstandes.

Die Politische Polizei interessiert sich für Pauli
Wie sehr der beseitigte deutsch-christliche Kirchenvorstand parteipolitisch verknüpft war, veranschaulicht folgendes Nachspiel: Plötzlich interessierte sich die Politische Polizei für die Veränderungen im Paulikirchenvorstand und fragte im Landeskirchenamt nach den Gründen der Veränderung. OKR Röpke erwiderte einen Monat später knapp, der Kirchenvorstand wäre arbeitsunfähig gewesen. Holste von der Politischen Polizei hakte nach, warum der Kirchenvorstand denn arbeitsunfähig gewesen wäre. Nun antwortete Röpke rascher, der Kirchenvorstand hätte sich „der Erfüllung der pflichtgemäßen Aufgaben eines Kirchenvorstandes nicht mehr gewidmet“, und um weitere Nachfragen zu beenden, fügte Röpke hinzu, der neue Kirchenvorstand wäre „bereits ernannt und im Amt.“ Noch im selben Monat machte Holste einen dritten Versuch. Inwiefern sich der Kirchenvorstand der Erfüllung pflichtgemäßer Aufgaben nicht mehr gewidmet hätte. Röpke erwidert ungerührt, die Mehrzahl der Mitglieder hätten die Sitzungen nicht besucht. „Ein solcher Kirchenvorstand ist arbeitsunfähig. Die Kirchenregierung hat daher seiner Zeit seine Auflösung beschlossen. Röpke.“ Die bei amtlichen Schreiben übliche Schlußfloskel „Heil Hitler“ ließ Röpke weg. Der Briefwechsel zeigt, daß die Behörden 1935/36 durchaus Spielraum hatten, nicht bei jeder politischen Anfrage nachzugeben sondern die Parteibehörde dienstliche Distanz spüren zu lassen.

Die Neubildung des Paulikirchenvorstandes war kein Einzelfall, sondern entsprach der Entwicklung in der Landeskirche. Auch in der Kirchenleitung hatte 1933/34 unter Bischof Beye und OKR Schlott ein krasser deutsch-christlicher Stil vorgeherrscht. Aber die deutsch-christliche Front verlor sowohl in der Evangelischen Kirche und auch in der Landeskirche seine Vormachtstellung, Bischof Beye verlor nach einem Verfahren vor dem Braunschweiger Landgericht im März 1934 sein Amt und verließ die Landeskirche, OKR Schlott wurde abgesetzt und Pfarrer in Lehndorf, der neue Landesbischof Helmuth Johnsen und OKR Röpke traten 1935 aus der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ aus und verfolgten eine Kirchenpolitik der gruppenfreien Mitte, die eine Nazifizierung der Kirche ablehnte und ein geregeltes Nebeneinander von nationalsozialistischem Staat und lutherischer Kirche erstrebte. Sie kamen damit der großen Mehrheit der Kirchengemeindemitglieder entgegen, die nicht etwa in den Widerstand zur Hitlerregierung geführt werden, sondern gesagt und verkündigt bekommen wollte, wie man als evangelischer Christ im aufstrebenden Dritten Reich leben und glauben konnte.

Zum Teil 3: Die kooperative Phase der kirchlichen Mitte 1936 - 1945




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