Kirche von unten: Home - Archiv - Geschichte - Vorträge, Beiträge - Cyty - Glaube

[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Die Geschichte der Pauligemeinde von 1930 - 1960

von Dietrich Kuessner

(Download des gesamten Textes als pdf hier)


Die Nachkriegszeit 1945 - 1949


Mit der Blitzniederlage der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1945 fand auch das Konzept des geordneten Nebeneinanders von nationalsozialistischem Staat und lutherischer Kirche sein furchtbares Ende. Deutschland und Braunschweig waren nicht wiederzuerkennen. Das lange anhaltende Bild der Zerstörung der Innenstadtkirchen und ihrer Umgebung hatte keine Parallele in der Vergangenheit. Der Turm der Paulikirche war auf das Gewölbe gestürzt, aber Gewölbe und Mauern der Paulikirche waren anders als bei der Magnikirche stehen geblieben. Das Gemeindehaus war völlig zerstört. Pastor Schwarze mußte seine Pfarrwohnung Bernerstr. 3 für die britischen Besatzungstruppen räumen und zog mit seiner Familie vom Mai – Oktober 1945 in die Wohnung der beiden Gemeindeschwestern in die Olfermannstraße. Das gesamte Fliegerviertel wurde mit Stacheldrahtrollen abgeriegelt und die Bewohner für die englische Besatzung ausquartiert. Die Ausquartierung dauerte unterschiedlich bis 1951. Im Stadtparkrestaurant hatten die britischern Offiziere ein Casino eingerichtet.
Die deutsche Bevölkerung stand vor einer vollständigen Neuorientierung, denn bis zu Hitlers Tod gab es politisch für die übergroße Mehrheit keine Alternative. Sie wünschte keine Rückkehr zur Demokratie. Ihr war seit 1918 eingehämmert worden, daß Demokratie Inflation, Arbeitslosigkeit, Parteiengezänk, Unsittlichkeit bedeuteten. Demokratie war unerwünscht. Wenn sie sich etwas für die Zukunft hätte wünschen können, dann wäre es ein autoritärer Staat ohne Krieg gewesen. Nun wurde ihr die Demokratie von den Siegern aufgedrückt. Es wurde nach einem Schlagwort von Henneberger wieder abgestimmt und weniger übereingestimmt. Die Niederlage bedeutete für sehr viele Arbeitslosigkeit und vor allem im Winter 46/47 Mangelernährung und Hunger, was sie unter Hitler/Klagges nicht kennengelernt hatten.
Auch die Kirche stand vor einer Neuorientierung. Zu grundlegenden Überlegungen fühlten sich indes die Gemeindemitglieder und ihre Pfarrer nicht frei genug Diese überließ man den Kirchenleitenden, die sich sehr rasch auf das apologetische und entlastende aber historisch unzutreffende Zauberwort „Widerstand“ verständigten. Es wurde das Nächstliegende angepackt. Der Kirchenraum der Paulikirche wurde freigeräumt und es wurden trotz der zerstörten Fenster von Pfingsten bis Totensonntag 1945 Gottesdienste gehalten. Für die Gottesdienste im Winter wurden die Wände der beiden Konfirmandensäle und der dazwischen liegenden Sakristei eingerissen, sodaß ein großer Raum entstanden war.
Die evakuierten Gemeindemitglieder kehrten in ihre teils zerstörten Häuser zurück, Flüchtlinge aus dem Osten strömten in die Stadt, ein Jahr später folgten die Vertriebenen, aber merkwürdigerweise wird in der Kirchenchronik von diesem dramatischen Bevölkerungswandel nichts erwähnt. Erst bei der Visitation 1957 beantwortete Pastor Wedekind die Frage nach dem Verhältnis der Flüchtlinge zur Kirchengemeinde als gut, und fügte hinzu: „besser als umgekehrt“.
Fünf Mitglieder des Kirchenvorstandes waren 1945/46 ausgeschieden ( Danneberg, Hesse, Lüddeckens, Mack und Globig). Im Dezember 1945 übernahm Pastor Henneberger den Vorsitz. Das war bei den nachlesbaren antisemitischen und pronazistischen Äußerungen Hennebergers eigentlich problematisch, aber Schwarze war wegen seiner NSDAP Parteimitgliedschaft noch weniger nach außen repräsentabel. Bitter war der langjährige Berufverlust für das verdienstvolle Mitglied Höse, weil er zeitweise Vorsitzender des Braunschweiger Sondergerichtes gewesen war. Tatsächlich hatte Höse diesen Posten auf Druck der Partei 1941 wegen zu milder Urteile wieder verloren. Zu den milden Urteilen gehörte auch der Freispruch für Pastor Buttler 1939. Höse hatte die Verhandlung außerordentlich geschickt geführt und den Freispruch gegen den wütenden Protest der Gestapo und auch des kirchlichen Finanzbevollmächtigten Hoffmeister in Wolfenbüttel durchgesetzt. Letzterer erstrebte die Beseitigung Buttlers aus dem Pfarramt. Es war zutreffend, daß in den landeskirchlichen Entnazifizierungsverfahren Schwarze und Henneberger in die Kategorie IV der Mitläufer und Höse in die Kategorie der Entlasteten eingestuft wurde. Der Staat anerkannte allerdings Höses Kategorisierung aus formalen Gründen nicht an. Höse fand vorübergehend Beschäftigung im Stadtkirchenamt und wurde zu Recht für den Landeskirchentag 1946 nominiert. Auch Propst Leistikow, der klassische Vertreter eines Nebeneinanders von nationalsozialistischem Staat und lutherischer Landeskirche räumte „aus Gesundheitsgründen“ seinen Platz. Sein Nachfolger wurde der Johannispfarrer Otto Jürgens. Weitere personelle Veränderungen ergaben sich bei der Aufstellung der Einheitsliste anläßlich der Kirchenvorstandswahl 1948. Drei Mitglieder waren ausgeschieden (Meyer, Ring, Tetzlaff) und Kaufmann Günther, Angestellter Kysser, Dr. Lohoff, Kaufmann Wagner und erneut Frau Lüddeckens als Vertreter des Männerwerks, der Frauenhilfe, der Gemeindejugend und der Flüchtlinge in den Kirchenvorstand „gewählt“. wurde Der verdiente langjährige Provisor und Kirchenvorsteher Emil Grosse wurde am 28. November 1949 begraben. Sein Nachfolger als Provisor wurde Karl Höse.

Die Volkskirche geht ab 1945 unverändert weiter
Daß zunächst im kirchlichen Alltag alles wie bisher weiterging, lag an der jahrhundertealten Kasualpraxis der Kirche, denn es wurden nach wie vor Taufen, Konfirmationen und Trauungen begehrt. Die Anzahl der Taufen stieg ganz erheblich an. Die 149 Taufen im Jahre 1945 teilen sich in 12 Taufen in den ersten drei Monaten bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen in Braunschweig und 137 in den folgenden neun Monaten. Immerhin lag die Zahl noch weit unter den Taufen während der Kriegsjahre, vermutlich weil auch die Geburtsrate noch niedrig war. 1946 erreichte die Taufziffer bereits den Vorkriegsstand und steigerte sich noch einmal auf 323 Taufen im Jahr 1948. Die Taufen boten besonderen Anlaß zu vermehrter Seelsorge. Von den 300 Taufen des Jahres 1949 waren allein 59 Kinder und Jugendliche, die vor 1945 geboren worden waren. Der Anlaß war unterschiedlich. Die Taufe war verblieben, weil der Vater gefallen war. Nun ließ eine Mutter ihre vier Kinder im Alter von 9 – 15 Jahren taufen. Im September wurden auf einmal acht Kinder getauft, davon drei mit 7 und acht Jahren, deren Vater tot war. Der Verwaltungsdirektor des Großen Waisenhauses brachte 9 Jungen und drei Mädchen vom Geburtsjahrgang 1934 und 1935 zur Taufe und stellte selber bei allen den Paten. Was bedeuteten diese Taufen für die vorangehende und nachfolgende Seelsorge?

Jahr

Taufen

Trauungen

Konfirmationen

1944

48

31

51

1945

149

39

45

1946

261

69

124

1947

293

115

138

1948

323

111

136

1949

300

98

191

1950

223

94

267


Noch schwieriger war die seelsorgerliche Situation bei den Konfirmanden. Die 138 Konfirmanden, die am 30. März 1947 im Dom konfirmiert wurden, gehörten fünf Geburtsjahrgängen an: zwei waren 19 Jahre, je drei 18 und 17 Jahre, dreißig 16 Jahre, fünfundsiebzig 15 Jahre und vierundzwanzig 14 Jahre alt. Schon das unterschiedliche Alter ergab eine schwierige Unterrichtssituation. Alle waren zwischen 1938 und 1944 zur HJ (Hitlerjungend) oder zum BDM (Bund Deutscher Mädel) gekommen und werden größtenteils die dort herrschende Begeisterung, die schmissigen Lieder, Kommandoton und Führerjargon der in der Regel jugendlichen Führer in sich aufgesogen haben. Welche Chancen hatten da der 50 jährige Pastor Schwarze und der 53 jährige Pastor Henneberger mit Katechismusstoff und Chorälepauken? Der Stadtjugendwart Hermann Kolb berichtete im Oktober 1945 Propst Leistikow über die Verfassung dieser Jugend: die zwischen Vierzehn- und Neunzehnjährigen wären vollständig resigniert und teilnahmslos und suchten einen Ausweg in „Oberflächlichkeit und Sinnenlust“.

Von den 39 Trauungen hatten sechs bis zum April 1945 stattgefunden, die letzte am 29. März und die erste „Friedenstrauung“ am 23.5.1945. Erstmalig in der Geschichte der Pauligemeinde meldeten sich konfessionsgemischte Ehepaare zur kirchlichen Trauung an: 1947 war von 18 Paaren ein Partner katholisch, meistenteils aus den in die Kirchengemeinde verschlagenen Flüchtlingen aus den Ostgebieten. Eine Frau stammte aus der Ukraine und war orthodox. Sie gehörte wohl zu den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen. Zwei Männer stammten aus England. Es waren Angehörige von der im Fliegerviertel einquartierten 5. Division. Sie waren anglikanisch.

Viele meldeten sich in die Kirche zurück. Vom 10. Mai 1945 bis Ende des Jahres traten 56 Personen wieder in die Paulikirchengemeinde ein. Es wurden 1946: 31; 1947: 46; 1948: 69; 1949: 39; 1950: 37 Übertritte gemeldet. Ob der Vorgang formlos oder nach einem Gespräch oder gar nach einer Art Kurzunterricht vorgenommen wurde und ob er im Amtszimmer oder in der Sakristei oder im Gottesdienst erfolgte, ist nicht berichtet. In der Braunschweiger Pfarrerschaft war das Vorgehen uneinheitlich, sodaß das Landeskirchenamt schließlich empfahl, eine wenigstens kurze Besinnungspause zwischen dem Begehren und dem Vollzug des Wiedereintritts einzulegen. Aber warum sollten die Pfarrer an Pauli diesen Fall anders behandeln als 1934, nämlich formlos?
Dieser Anstieg der Ziffern für die Taufen, Trauungen und Konfirmanden und die Wiedereintritte konnten wieder als eine Rückkehr des echten Religiösen interpretiert werden.
Aus der Trümmerlandschaft sammelten sich im Herbst 1945 bei Frau Nikolmann die konfirmierten Mädchen und Frau Vestner begann mit Kinderarbeit. Im Frühjahr 1946 fand in der Wohnung von Pastor Schwarze nachmittags Jugendarbeit statt. Später kümmerten sich um die Jungen die älteren Schüler der Gaußschule und des Wilhelmgymnasiums Horst Probst, Rolf Dieter und Walter Gerhardt, Wolfram Froeb und Ulrich Trinks und um die Mädchen Frau Irene Pleus -Volkmann und Frl. E. Müller.
Frau Ilse Martin, die die Ausbildung als Gemeindehelferin an der sog. Ev. Akademie durchlaufen hatte, war seit 1948 in der Gemeinde tätig. Schwester Erna Nitsche, seit 1933 zusammen mit der Diakonisse Maria in der pflegerischen Arbeit tätig, wirkte prägend im Kindergottesdienst mit.

Der kirchliche Wiederaufbau ohne Konzept
Zum Hauptthema des kirchlichen Handelns war von Propst Otto Jürgens schon 1946 der Wiederaufbau der Innnenstadtkirchen gemacht worden. Dabei wurde nicht nach der kommenden zahlenmäßigen Größe der Gemeinde und ihrem theologischen Profil gefragt oder der groteske Zuschnitt der Gemeindebezirke der Innenstadtkirchen revidiert. Es wurde auch nicht diskutiert, ob auf einem derart engen Raum wie in der Braunschweiger Innenstadt so viele geräumige Kirchen in Zukunft nötig wären. Es sollte einfach alles möglichst wieder so werden, wie es gewesen war. Das erschien eher als eine Trotzreaktion und war vor allem eine kirchenpolitische und theologische Gedankenlosigkeit. Diese entsprach indes der großen Linie in der Evangelischen Kirche in Deutschland, für die der neue Bischof von Berlin, Otto Dibelius, die problematische Parole ausgegeben hatte: „Wir fangen da an, wo wir 1933 aufgehört haben“.

Eigentlich aber erschien nichts dringlicher als die Überlegung: ist es Gottes Wille, daß die beispiellose Zerstörung der Innenstadtkirchen wieder rückgängig gemacht werden soll? War das volkskirchliche Modell auch ein Modell für die Zukunft? Das Motto des Wiederaufbaus ersparte einen bußfertigen Rückblick, setzte aber Energien für die kommende Kirche frei. In den Köpfen der Sammelbegeisterten und Opferwilligen schien die Frage nach einer anderen Kirche als jene, die zerstört worden war, nicht an der Tagesordnung. In allen Kirchengemeinden der Stadt wurde für den Wiederaufbau gesammelt, in Pauli kamen 28.000,-- RM allein im Jahr 1946 zusammen, aber die zu Lasten der breiten Masse verordnete Währungsreform vom Sommer 1948 ließ die Ersparnisse auf 10 Prozent zusammenschmelzen. Bei einem erneuten Anlauf kamen 8.000 DM zusammen, umgerechnet 80.000 RM, und damit konnten die nötigsten Reparaturarbeiten begonnen werden.

Der Wiederaufbau zog sich in allen Kirchengemeinden sehr lange hin und ging in Etappen vor sich. In der Pauligemeinde wurde am Palmsonntag 1949 ein erster Gottesdienst zusammen mit der Konfirmation in der notdürftig wiederhergestellten und verglasten Kirche gehalten, im August 1949 notdürftig die dreimanualige, pneumatische Orgel und im Winter die Heizung in Betrieb genommen. Aber die Reparaturen erwiesen sich nicht als dauerhaft, die Kirche mußte erneut von Karfreitag 1950 bis zum 4. Advent 1951 geschlossen werden. Die Gottesdienste wurden wieder im Konfirmandensaal abgehalten. Nachdem 1951 ein Kirchendach über das gesicherte Gewölbe gesetzt war, wurde am 23. 12. 1951 eine erneute Wiedereinweihung der immer noch höchst provisorischen Kirche gefeiert.

Zum Teil 8: Der volkskirchliche Aufschwung und Fragen in den 50iger Jahren




[Zurück] [Glaube] [Helfen]
Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Pogromnacht/Pauli_1930-1960.htm, Stand: Dezember 2006, dk