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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Die Geschichte der Pauligemeinde von 1930 - 1960

von Dietrich Kuessner

(Download des gesamten Textes als pdf hier)


Anfragen durch Pastor Wilhelm Wedekind


Bewegung und neues Nachdenken kam durch den dritten Pfarrer an Pauli Wilhelm Wedekind in das Gemeindeleben. Der Kirchenvorstand hatte ihn auf die seit 1942 verwaiste Pfarrstelle II gewählt. Der 46 jährige Pastor Wedekind war neben Henneberger und Schwarze nun der jüngste.
Dem Kirchenvorstand gehörten 1950 unter anderen an: Prof. Kellner (seit 1936), Landgerichtsdirektor z.W. Höse (seit 1935), Oberstudienrat a.D. Dr. Bock (seit 1941), Dr. med. Hanke (seit 1941), Walter Kaysser (seit 1949), Stadtsekretär i.R. Urban (seit 1936), Kurt Wagner (seit 1949), Frau Helene Lüddeckens (seit 1929), Frau Ilse Vestner (seit 1941), Walter Köhler (seit 1941).

Am 17. September 1950 hielt Wedekind anläßlich seiner Einführung die erste Predigt in Pauli. Wedekind war seit 1934 Pfarrer in Gr. Döhren gewesen, das bis 1941 zur Hannoverschen Landeskirche gehört hatte. In jenem Jahr wurde das Gebiet um Goslar und Salzgitter gegen das von Holzminden eingetauscht und kam zur Braunschweiger Landeskirche. Im Nachruf zum Tode Wedekinds im Jahre 2000 schrieb Frau OLKRÄtin Müller, Wedekind hätte im Nationalsozialismus Widerstand geleistet. Das mochte sich u.a. darauf beziehen, daß Wedekind 1938 den Treueid auf Adolf Hitler verweigert hatte. Die Eidesverweigerung war in der Pfarrerschaft sehr selten. Henneberger und Schwarze hatten mit allen anderen Braunschweiger Pfarrern am 20. April 1938 den Treueid nach einem feierlichen Gottesdienst in der Martinikirche geleistet. Wedekind vertrat also offenkundig nicht den Kurs der Mitte, der in der Braunschweiger Landeskirche der übliche und offiziöse gewesen war. Das unterschied ihn von seinen künftigen Kollegen an Pauli.

Fragen zur Taufe
Es traten in den folgenden Jahren gravierende, auch die Kirchengemeinde berührende Unterschiede hervor. Wedekind hatte während seines Studiums in Göttingen den reformierten Professor Karl Barth gehört und war von der kleinen Schrift Barths „Die kirchliche Lehre von der Taufe“ aus dem Jahre 1947 angetan. Darin forderte Barth die Abschaffung der Säuglingstaufe, weil sie unbiblisch wäre und weil das Bekenntnis des Täuflings ein grundlegender Bestandteil der Taufe wäre. Ein solches Bekenntnis war nur als Erwachsener möglich. Die Schrift Barths löste in allen Landeskirchen eine große Debatte aus, weil damit der volkskirchliche Charakter der evangelischen Kirche stark gefährdet war. Das hatte Karl Barth auch beabsichtigt. Es war der Versuch zu einer Kirche, die nicht weitermachte, als ob nichts geschehen wäre. Auch die Braunschweiger Landessynode beschäftigte sich mit diesem Thema und verabschiedete den ersten Abschnitt einer Lebensordnung über die Taufe. Wedekind machte aus seiner theologischen Ansicht keinen Hehl und stieß auf Widerspruch beim Kirchenvorsteher Kurt Wagner. Wagner schrieb ans Landeskirchenamt, daß die Bekenntnislage Wedekinds unklar wäre. Ob er reformierte Neigungen hätte? Wagner hielt sich persönlich zur Brüderngemeinde und gab den Brüdernrundbrief heraus. Die Brüderngemeinde hatte sich unter Pfarrer Witte, der sich 1937 vergeblich um die Pfarrstelle an Pauli beworben hatte, in der Nachkriegszeit zu einer lutherisch orthodoxen Hochburg entwickelt. Der Vikar Wittes, Helmut Lieberg, warf sämtlichen Braunschweiger Stadtpfarrern Ungläubigkeit und Bekenntniswidrigkeit vor und verweigerte die Abendmahlsgemeinschaft mit ihnen.. Die Hinwendung zur lutherischen Orthodoxie konnte als eine andere Antwort der Landeskirche auf den Nationalsozialismus gedeutet werden. Vor 1945 hätte die Landeskirche das Bekenntnis verraten, nun müßte es besonders gepflegt werden. Die Brüderngemeinde fühlte sich daher als Nachfolgerin des Pfarrernotbundes. Zur Brüderngemeinde hielt sich auch Pastor Schwarze, der dort regelmäßig Predigtvertretung machte.
Nun drohte der nur mühsam gezähmte Konflikt zwischen Propstei Braunschweig und der Brüdernkirche in die Pauligemeinde überzuschwappen und zwar an der Frage der Taufe. An Pauli waren „Massentaufen von acht Kindern“, wie der Organist Pleus spöttisch vermerkte, durchaus üblich. Wedekind hielt schon damals anders als viele Braunschweiger Stadtpfarrer gründliche Taufgespräche mit den Eltern und Paten seelsorgerlich für nötig. Er ließ den Taufeltern vor dem Taufgespräch ein Schreiben mit drei Fragen zukommen, darunter: „Was mag Sie dazu bewegen, Ihr Kind taufen zu lassen?“ oder: „Mit Recht heißt es: Das getaufte Kind bedarf einer Heimat, in der Gebet und Gottes Wort Raum hat. Ob dafür bei Ihnen gesorgt ist?“ Wedekind stieß mit diesen seelsorgerlich gemeinten Fragen in eine schwärende Wunde der Volkskirche, die gedankenlos die Taufe bei allen vornahm, die sie begehrten.
Bei der nach 1946 und 1948 dritten Nachkriegskirchenvisitation im September 1953 durch Propst Otto Jürgens kam diese Frage im Kirchenvorstand auf die Tagesordnung. Wedekind wäre ganz offensichtlich Calvinist. Wagner hätte „nicht klar erkannt, was Herr Wedekind bekennt“. Henneberger bezeichnete in der Sitzung die theologische Divergenz als „sehr ernst“. Wedekind fühlte sich vom Kirchenvorstand teilweise im Stich gelassen und schrieb daher in den Visitationsbogen, daß die Mitarbeit der Kirchenvorsteher wohl nicht bei allen gleichmäßig in Erscheinung träte und „dementsprechend auch die Unterstützung,“ um die einige Mitglieder tatkräftig bemüht wären.
Dem Kirchenvorstand war eine gewisse „Dreigleisigkeit“ der theologische Richtungen der drei Paulipfarrer nicht verborgen geblieben. Im verkürzten Gemeindejargon galt P. Schwarze als frommer Rechter, P. Wedekind als frommer Linker und P. Henneberger galt als weltoffener liberaler Lutheraner.

Das Brüderngesetz
Die offene Frage nach einer Einordnung der Brüderngemeinde in die mild lutherisch-volkskirchlich gesonnenen Innenstadtgemeinden führte nach einer sechsjährigen Auseinandersetzung in der Landessynode 1954 zum sog. Brüderngesetz, in dem die Landessynode den Gebrauch der Ewigen Lampe und anderer liturgischer Besonderheiten der Brüderngemeinde untersagte. Wedekind fand eine gesetzliche Regelung dieser geistlichen Frage falsch und hielt im Sommer 1954 zwei sehr gut besuchte Gemeindeabende unter dem Thema „Ein bedenkliches Kirchengesetz“ ab. „Diese Abende brachten nicht nur zahlreiche Besucher zusammen, sondern auch (was leider nur ganz selten vorkommt!) die 3 Pfarrer zu einer gemeinsamen Besinnung, bei der wir uns auch ein wenig auseinandersetzten“, vermerkte Wedekind hintersinnig in der Kirchenchronik.

Fragen zur Konfirmation
Wedekind fand auch das sog. Gelübde bei der Konfirmation für „subjektiv eine unmögliche Zumutung und objektiv eine unmögliche Forderung“. Dieser Mißstand wurde bereits in den lutherischen Kirchen heftig diskutiert. Henneberger hatte schon 1936 die Fragen an die Konfirmanden selbständig umformuliert. Wedekind hatte auf das Gelübde ganz verzichtet, was auch in der Visitation 1953 berichtet worden war. Vor allem wollte Wedekind die Eltern mit in die geistliche Verantwortung einbeziehen, lud für einen Kurs bis zu sechs Elternabenden ein und trennte schließlich die Konfirmation am Sonntag als Abschluß der Unterrichtszeit vom Bekenntnis der Konfirmanden mit gemeinsamen Abendmahl einige Tage später. Das zerstörte die traditionellen Vorstellungen der Eltern von Konfirmation und da Wedekind das schriftliche Einverständnis der Eltern zu diesem Vorgehen erbat oder die Abmeldung der Konfirmanden verlangte, meldete die Mehrheit der Eltern ihre Kinder von der Konfirmation 1957 bei Wedekind ab und bei P. Henneberger oder P. Schwarze an. Schwarze konfirmierte am 24. März 233 Konfirmanden, Henneberger am 31. März 181 Konfirmanden und Wedekind ebenfalls am 31. März 18 Konfirmanden. Wedekind fragte im Landeskirchenamt an, wie er es im Jahre 1958 halten sollte. Diese Frage wurde auf die Tagesordnung des Kirchenvorstandes im Dezember 1957 gesetzt, aber die Aussprache verlief unergiebig. Wedekind hatte den Eindruck, die Aussprache wäre „reichlich anstößig“ verlaufen. OLKR H.E. Seebaß hatte noch im März 1957 schriftlich auf der Durchführung der Konfirmationsordnung aus dem Jahre 1926 bestanden, wozu sich Wedekind nicht im Stande sah. Diese Unruhe führte zu einer Visitation im Januar 1958 durch Propst Jürgens, der auf Ausgleich der drei Pfarrer bedacht war. Landesbischof Erdmann und Propst Jürgens luden die drei Paulipfarrer zu einer Aussprache im Februar 1958 ein, darin erklärte sich Wedekind bereit, in Zukunft die von der VELKD bereits verabschiedete, völlig überarbeitete Konfirmationsordnung zu verwenden. Wedekind war in seinem theologischen Denken den anderen Gesprächspartnern weit voraus, wie schon damals 1938. Aber auch im Jahr 1958 änderte sich nichts an der Unverhältnismäßigkeit der Konfirmandenzahl. P. Schwarze konfirmierte am 16. März 1958 214 Konfirmanden, Henneberger am 30. März 209 Konfirmanden und Wedekind am 23. März 48 Konfirmanden. Wedekind mochte es als einen Fortschritt empfinden, daß sich zur Konfirmation 1959 bereits 53 stark vom persönlichen Nachfolgegedanken geprägte Konfirmanden bei ihm einfanden. Dieser interessante Reformversuch hatte nur als gemeinsames Projekt aller drei Paulipfarrer eine Chance. So endete dieses kirchlich gesehen verheißungsvolle, aber ungeschickt eingefädelte Projekt mit dem körperlichen Zusammenbruch Wedekinds, von dem sich Wedekind ab Herbst 1958 erst nach einem Vierteljahr erholte. Im Oktober 1958 verabschiedete endlich die Landessynode eine völlig neue Konfirmationsordnung.

Der Linksverdacht
Zu diesen gravierenden, theologischen Unterschieden, die sich weit in das Leben der Pauligemeinde erstreckten, kam ein weiterer schwerwiegender Unterschied. Auf Wedekind traf unausgesprochen ein heftiger theologischer und kirchenpolitischer Linksverdacht. Dieser war auch dadurch begründet, daß sich Wedekind 1954 um ein Pfarramt in einer der unierten Landeskirchen in der „Ostzone“ beworben hatte. Der Wechsel vom Westen nach Osten war damals durchaus möglich und die Ostkirchen hatten um Hilfe und personelle Unterstützung gebeten. Wedekind hatte an eine zeitlich begrenzte Beurlaubung gedacht. Aber das Landeskirchenamt reagierte verständnislos. Wenn er wollte, könnte er nach Blankenburg gehen. Die Pfarrstelle an Pauli ginge allerdings in der Zwischenzeit verloren. Darauf wollte sich Wedekind begreiflicherweise nicht einlassen.
Im Juli 1954 besuchte eine Gemeindegruppe mit P. Wedekind den Leipziger Kirchentag und berichtete nach der Rückkehr begeistert. Für die Brüderngemeinde hingegen war die ganze Kirchentagsbewegung ein Greuel an heiliger Stätte.
Der Linksverdacht wurde öffentlich, als Wedekind im Morgengottesdienst des 21. September 1958 eine Erklärung der Prager Friedenskonferenz von der Paulikanzel abkündigte. Die Prager Friedenskonferenz galt in der Bundesrepublik der 50iger Jahre als kommunistisch verseucht und unterwandert. In der Botschaft der Konferenz, die vom 1.-3. Juni 1958 in Prag getagt hatte, wurde jedes Spielen mit dem Gedanken eines Atomkrieges und das Vorbereiten solchen Krieges als Aufruhr gegen Gott und Verschulden am Leben der Menschheit bezeichnet. „Durch IHN sind wir nüchtern gemacht. Darum laßt uns nicht durch Unterschätzung und Verkleinerung der atomaren Gefahr verführt und betrogen werden. Laßt uns einander warnen, daß wir auch nicht durch Gleichgültigkeit schuldig werden oder gar durch Unachtsamkeit dem Verbrechen unsere Hand bieten. Laßt uns nicht von dem Wahn verführen lassen, daß die großen Weltprobleme durch Gewalt oder Druck oder Kalten Krieg gelöst werden können.“ Der Bundestag hatte im März die atomare Bewaffnung der Bundeswehr beschlossen, SPD und Gewerkschaften hatten eine Kampagne „Gegen den Atomtod“ gestartet und die EKD-Synode in Berlin wäre im April 1958 über dieser Frage fast zerbrochen. So konnte die Botschaft der Prager Friedenskonferenz als einseitige Stellungnahme interpretiert werden. Auch das Sonntagsblatt hatte ausführlich von der Prager Friedenskonferenz berichtet. Wedekind hing den vollständigen Text der Botschaft in den Schaukasten. Die Angelegenheit wurde am 2. Oktober 1958 von der Kirchenregierung behandelt und die Darstellung Wedekinds und des Sonntagsblattes als einseitig kritisiert.

Fragen zur Wiederaufrüstung
Inzwischen war Braunschweig im Zuge der Wiederaufrüstung wieder Garnisonstadt geworden. Es sollte auch eine Garnisongemeinde entstehen. In Pauli war eine vierte Pfarrstelle eingerichtet worden, in die der 52 Jahre alte Pfarrer Otto Gravenhorst am 2. Februar 1958 eingeführt worden war. Gravenhorst, Jahrgang 1905, war seit 1927 Offizier im damaligen Heer, seit 1936 Berufoffizier und hatte den Krieg als Regimentskommandeur verwundet im Rang eines Oberst beendet. Nach dem Krieg wandte er sich der Theologie zu. Nach sechs Semestern förderte ihn die Braunschweiger Kirchenleitung, der das ritterliche Auftreten des Ehepaares besonders imponierte, durch die theologischen Examen und verschuf ihm die Pfarrstelle in Lauingen. Das dortige Leben auf dem Lande bei den einfachen Verhältnissen und Ansprüchen genügte Gravenhorst nach wenigen Jahren nicht und so kam er nach Pauli im Nebenamt mit dem Auftrag eines Garnisonpfarrers versehen. Auf seinem Briefkopfe firmierte er gelegentlich als „Pastor an St. Pauli, Oberst a.D.“ Das ließ eine einseitige Reflektion seiner Militärzeit erkennen. Als sich sein Kollege Wedekind in einer Gemeindeveranstaltung seines Bezirkes am 14.1.1959 unter dem Thema „Christ und Krieg“ kritisch zu dem aktuellen militärischen Kurs der Adenauerregierung äußerte, empörte sich Major Meyer und Pastor Gravenhorst gab diese Empörung an das Landeskirchenamt weiter. Wedekind wäre das „störrische Schaf“ und habe so gut wie keinen Anhang, nur bei den Friedensleuten von Dr. Wenzel und seinen SPD-Parteigenossen. Die anderen Amtsbrüder wären „in dieser Hinsicht durchaus auf gesundem Kurs“, so daß eine Schädigung der Bundeswehr, wenn sie nicht gerade zu W’s Veranstaltungen gingen, kaum zu erwarten stünde. Im Februar 1959 bewarb sich Wedekind auf die Pfarrstelle Steterburg, wo er ab Sommer 1959 bis zu seinem Ruhestand das Pfarramt versah.

Zum Teil 10: Abschluß eines Geschichtsabschnittes




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