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[Kirche von unten]

Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Die mitlesende Gemeinde

Das Hören, Mitbeten und Singen war die Jahrhunderte lang überkommene Art der Mitwirkung der Gottesdienstgemeinde. Ein "Mitlesen" war völlig neu und eine besonders schöne Frucht aufgeklärter Frömmigkeit. Das war erst möglich, als die Perikopentexte vollständig im Gesangbuch abgedruckt waren. Im Anhang der ersten Gesangbuchgeneration von 1698 waren zwar die Bibelstellen genannt, aber erst in der zweiten Gesangbuchgeneration ab ca 1800 waren die Perikopentexte in großen Buchstaben vollständig abgedruckt. Die Gesangbücher waren entsprechend umfangreich geraten, was die Kirchenfremden in Stadt und Land zu geschmacklosen abfälligen Witzen reizte. Über das Mitlesen der Perikopen gibt es eine Fülle von Anmerkungen.

Aus Braunlage berichtete Pfarrer Timmler, dass "das Nachlesen derselben während des Verlesens von der Kanzel noch bei den meisten Kirchenbesuchern Sitte und gewiß eine löbliche Sitte ist."
Viele Gemeindeglieder in Badenhausen lasen den Text der Altarvorlesung und der Predigt gerne nachlesen" Pfarrer Huhle). Dasselbe lesen wir aus Flechtorf, Schöningen, Scheppau Superintendent Anton Keunecke berichtet, dass seine Wolsdorfer Gemeindemitglieder mehr oder weniger vorbereitet zur Kirche. kämen, wenn über die alten Perikopen gepredigt werde. "Manche lesen auch vorher die gewöhnlichen Perikopen und was darüber in ihren Erbauungsbüchern gesagt ist, und sind begierig zu hören, wie der Prediger dies oder jenes zur Sprache bringen werde."

Pfarrer Wilhelm Haars, der bereits zwei Jahre über Texte der 2. Reihe gepredigt hatte ("bringt mehr Mannigfaltigkeit in die Vorträge"), empfahl, die zweite Reihe "schnell" den Gottesdienstbesuchern in die Hand zu geben. "damit die gute Sitte schon vor Beginn des Gottesdienstes an die biblischen Abschnitte zu denken auch während des Gottesdienstes dieselben darin aufzulesen".
In Sölligen bemerkte Pfarrer Ferdinand Vogler Unzufriedenheit bei den Gottesdienstbesuchern, wenn er über einen freien Text predigt, den die Gemeinde nicht mitlesen könne.

Pfarrer Adolf Spieß berichtete von seinen mitlesenden Gottesdienstbesuchern in Twieflingen folgendes: "Um aber die so vortrefflichen neuen Perikopen den Gemeinden recht lieb und werth zu machen, ist es durchaus wünschenswerth, sie in Form eines Anhangs zum Gesangbuche und zwar als 2ten Jahrgang hinter den ersten zu setzen und ist mir dieser Wunsch von vielen eifrigen Kirchengliedern meiner Gemeinde ausgesprochen worden und hätten sie bei den neuen Texten, die ihnen ganz vorzüglich zusagten, nur dieses Eine auszusetzen, dass sie dieselben nicht wie die alten in ihren Gesangbüchern vorher u. zugleich mit beim Vorlesen einsehen könnten."

Manche Schilderungen von Pfarrern klingen so, als ob sie eher ihrem Wunschbild vom Sonnabend in einer christlichen Familie entsprechen. Ludwig Gravenhorst,79 Jahre, Pastor in Delligsen, entwarf folgendes Bild von der bäuerlichen Andacht:
"Wird am Ende der Woche der Sonntag eingeläutet, so bestimmt (der Hausvater) noch die Personen, welche von den Seinigen morgen in die Kirche gehen sollen, er ergreift seinen Hauskalender...., sieht nach, welches Evangelium wir haben, erinnert nicht (sich) selten, was der Pastor darüber im vergangenen Jahre gepredigt hat und ist gespannt, was er ferner darüber predigen werde ...und kommt der Prediger an die Vorlesung der Epistel und des Evangeliums, so lieset er die Worte denselben eifrig nach." Die neuen Perikopen müssten "in die Hände der Zuhörer gelegt werden, damit diese gehörig nachgelesen werden können., denn das ist ein ganz besonderes Stück der bäuerlichen Andacht."
Ein anderer Pfarrer kam der zuhörenden Gemeinde entgegen, bat sie, zur Predigt die Bibel mitzubringen und verlas zweimal langsam von der Kanzel zu Beginn den Predigttext der neuen Reihe. Das sei ausgesprochen dankbar aufgenommen worden.

Es gab auch Gegenteiliges: von seiner Gemeinde In Dobbeln berichtete Pfarrer Erich Langheld, die Gemeinde habe die Texte nicht mehr mitgelesen, weil ihnen diese so "überflüssig" bekannt gewesen seien.

Sonderwünsche
Eine Fülle von eigenständigen Vorschlägen zeigt das große Interesse an dem Thema und die Sorgfalt, mit der damals von großen Teilen der Pfarrerschaft die Lesungen des Gottesdienstes beachtet worden sind. Und zwar zu einer Zeit der viel verlästerten angeblich nur auf die Predigt ausgerichteten Gottesdienste.
Als Sonderwünsche wurden vorgeschlagen: ein Gedenktag des Apostel Paulus (Rudeloff), einen Reformationstag (Querner, Huhle), ein Gedenktag der Toten am Ende des Kirchenjahres (Querner, Rose).

Der Vorschlag zur Perikopenrevision hatte offenkundig eine Schleuse geöffnet. Die Pfarrer fühlten sich an einem zentralen Punkt ihrer Amtstätigkeit angesprochen, und es sprudelte aus ihnen heraus, welche Texte sie bisher im Gottesdienst vermisst hatten, wie sie sich auf die neuen Texte einstellten und wie es ihnen damit erging.
Der Vorschlag bot auch die Gelegenheit, ganz andere Themen einmal ausführlicher auszusprechen.
Der Braunschweiger Superintendent Sachtleben fügte seinem Sachstandbericht noch eine persönliche Bemerkung an, in der er sich gegen zu viel Konsonanz bei den biblischen Texten wandte.
"Der protestantische Gottesdienst leidet an Zweierlei. a) an fürchterlicher deutscher Gründlichkeit, und das gilt namentlich von der Predigt in dem Maße, dass sich die Zuhörer notwendig langweilen müssen. Die Predigttexte sollten der Art sein, dass sie sich zu Homilien eignen, welche Gattung von Predigten am liebsten gehört wird. b) an trauriger Monotonie. Ein Hauptgedanke der Predigt, ein Gesang, der zu ihr passt, eine Epistel, die wieder zum Hauptgedanken des Evangelium gehört, wohl gar eine Collekte, die gleichfalls auf das Predigtthema Bezug hat! Wie einseitig!! Deshalb ist für die Auswahl der Episteln ( mit wie großen Fleiß sie in der neuen Sammlung ausgesucht sind) ein ganz anderer Grundsatz zu wünschen als der ist, sie mit der evangelischen Perikope in Einklang zu bringen. Disparate Epistel, etwa historische aus dem Alten Testamente, in kurzer Vorlesung erläutert, das wäre das richtige Princip!" Die vorgeschlagenen Änderungen in der klassischen Perikopenreihe ging ihm nicht weit genug. Auszumerzen seien die doppelte Speisungsgeschichte, der doppelte Einzug in Jerusalem, noch einige Wunderheilungen, weil Jesus selbst gegen Wunderglauben (soll heißen Wundersucht) eifert und einige fast unverständliche und überlange Episteln, z.B. am Feste Michaelis.

Sachtlebens Bemerkung fügt dem Bemühen um ein einheitliches Gesicht des Sonntags eine wichtige Beobachtung hinzu. So wie ein glattes faltenloses Gesicht auf die Dauer langweilig sein kann, so kann eine Konsonanz, die den Widerspruch und einen gegenläufigen Text nicht zulässt, Langeweile erzeugen.

Die Gelegenheit, ein völlig anderes Thema loszuwerden, das ihn beschäftigte, ergriff Pfarrer Christian Hörstel, 53 Jahre, in Köchingen seit 1841. Er ging gar nicht auf die gestellten Fragen ein, sondern beschäftigte sich nur mit dem Gesang und wünschte sich ein neues Gesangbuch in zwei Teilen, für die kirchliche und die häusliche Erbauung. Zu seinem Predigten fehlten ihm passende Lieder "Die zu langen Gesänge ermüden, sie halten den Gottesdienst nutzlos auf, viele Verse könnten so recht wegfallen. Die Erregung des Gemüths wird gestört und in wenigen Versen könnte der Grundton niedergelegt werden."
Vielen herrlichen Gesängen seien Melodien unterlegt, die der Lehrer nicht singen könne. Die vom Prediger gewählten Gesänge würden vom Lehrer verworfen, viele neue Lieder seien entstanden.
"Mag immerhin der religiöse Sinn jetzt geringer sein...".

Besser Warten auf eine reichseinheitliche Regelung
Ein weiterer Weg, die Reform zu verschieben, bedeutete der Vorschlag, zunächst einmal eine reichseinheitliche Regelung abzuwarten. So schlug es Superintendent Heinrich Hummel vor und verwies auf die Eisenacher Konferenz. Superintendent Anton Keunecke zitierte eine Entschließung des Elberfelder Kirchentages.
Die Perikopenreform von 1852 hätte mit dem Neudruck des Gesangbuches im Jahre 1866 enden können. Denn der Abdruck in einem Gesangbuch war der größte allgemeine Wunsch der Pfarrerschaft gewesen. Aber es blieb bei dem bisherigen Gesangbuchabdruck mit den unrevidierten Perikopen, auch ohne die vorsichtigen Änderungen des Konsistoriums bei Episteln und Evangelien. Offenbar hatte der harsche Proteste der orthodoxen Lutheraner Eindruck gemacht.

Theologisches Profil durch Verbindung nach Halle?
Auf die Frage, ob ein theologisches Profil erkennbar sei, verwies mich Klaus Jürgens auf die Studienorte der damaligen Braunschweiger Pfarrerschaft und insbesondere auf die theologische Fakultät der Universität Halle. Ich bin diesem Hinweis nachgegangen: Von den 109 Lebensjahrgängen 1805-1823, also den im Jahre 1852 29 - 47 Jährigen haben 72 die Universität Göttingen besucht, die traditionelle Hochschule der Braunschweiger Pfarrerschaft, aber 51 Pfarrer die Universität Halle. Von diesen 51 haben 13 ausschließlich in Halle Theologie studiert. 26 haben in Göttingen angefangen und sind dann nach Halle gegangen, vier haben umgekehrt ihr Studium in Halle anfangend in Göttingen beendet, und acht weitere haben außer in Halle noch in Berlin, Jena. Heidelberg und Erlangen studiert. Halle war seinerzeit sehr bekannt, weil dort der junge August Tholuck (1799 - 1877) eine Professur innehatte. Er war durch die Schrift "Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner oder die wahre Weihe des Zweifels", die er mit 24 Jahren verfasste, über Deutschland bekannt geworden. Das Buch erlebte sieben Auflagen und wurde in fünf Sprachen (englisch, holländisch, französisch, dänische, schwedisch) übersetzt. In Form eines Briefwechsels zwischen zwei jungen Theologiestudenten Guido und Julius im Sturm- und Drangalter ("nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis macht die Himmelfahrt der Gottes-Erkenntnis möglich") behandelte Tholuck durchaus anspruchsvoll einige religiöse Grundfragen. Tholuck war hochbegabt, sprach mit 18 Jahren bereits 19 Fremdsprachen, interessierte sich insbesondere für das Judentum, war eng befreundet mit einem zum evangelischen Glauben konvertierten israelitischen Offizier ("sein geliebter Erstling" (Kähler), und las in Halle Neues Testament, veröffentlichte mit 25 Jahren einen Kommentar zum Römerbrief, der bis 1856 fünf Auflagen erlebte, mit 28 Jahren einen Kommentar zum Johannesevangelium, der bis 1857 sieben Auflagen erlebte, und weitere Kommentare zur Bergpredigt und zum Hebräerbrief, kurz, ein interessanter junger Mann, um den sich gerne die fast gleichaltrigen Theologiestudenten scharten. Tholuck, so schreibt sein Zeitgenosse und Schüler Martin Kähler, sei nicht leicht einzuordnen, aber Tholuck habe es nicht abgelehnt, zu den Vermittlungstheologen zu zählen. Gunter Wenz nennt ihn einen "klassischen Repräsentanten der Erweckungsbewegung". Im Rahmen dieser Skizze will ich es bei dieser interessanten Schneise belassen, die andere vielleicht fortsetzen.

Die erste Landesssynode beschließt 1872 eine Perikopenrevision
Ein Ende der Braunschweiger Perikopenrevision wurde erst auf der ersten Landessynode erreicht. 1869 trat eine konstituierende Synode, 1872 eine erste ordentliche Synode am 24. Oktober im landschaftlichen Hause in Braunschweig für 19 Sitzungen zusammen. Auf der Tagesordnung standen ein ausführlicher Bericht des Konsistoriums über die Situation der Landeskirche sowie die Beschlussfassung über die Einrichtung einer Inspektionssynode und einer Kirchenvisitationsordnung. Außerdem lagen ein Entwurf für eine Ordnung des Hauptgottesdienstes vor, zu dessen Bearbeitung eine Kommission gewählt wurde, und der Entwurf eines zweiten Jahrganges kirchlicher Perikopen. War das nötig? Offenbar lag dem Konsistorium an einer ausdrücklichen breite Mehrheit, also an einer Zustimmung auch der Gegner einer Perikopenreform. Der Entwurf, durch eine synodale Kommission durchberaten, wurde vom Domprediger Thiele dem Plenum am letzten Beratungstag vorgelegt und ohne Diskussion angenommen. Das war auffällig, denn im Plenum saß der entschiedene Gegner Ludwig Wolff, früher Kirchbrak, inzwischen Superintendent in Halle. Wolff meldete sich nicht zu Wort, denn ím Entwurf waren sämtliche vorsichtigen Änderungen an der klassischen ersten Perikopenreihe, die das Konsistorium vorgeschlagen hatte, wieder rückgängig gemacht worden. Das Konsistorium sprach nun in den Erläuterungen zu der Vorlage von "achtbaren Stimmen" gegen eine Änderung der alten Perikopenreihe und nannte die Stichhaltigkeit der gegenteiligen Stimmen "problematisch." Domprediger Thiele hingegen rühmte den ersten Jahrgang "als uraltes Vermächtnis der Kirche", empfahl zwar auch die zweite Jahrgangsreihe, die neben der alten eingeführt werden sollte, konnte sich aber den Schlenker nicht verkneifen, "dass, da die Predigt eine volkstümliche Ansprache an die Gemeinden sein sollte, in dieser Beziehung die ältere für geeigneter zu halten sei." Die Synode beschloss auch den Abdruck beider Reihen im Gesangbuch.

Der Synodenbeschluss stellte einen Kompromiss dar: die strengen Lutheraner hatten ihre bisherige traditionelle erste Perikopenreihe unverändert zurückerhalten, andrerseits war mit der zweiten Reihe der Bann des Alleinvertretungsanspruches der ersten Reihe gebrochen. Sie konnte für zwei Jahre von der Kanzel ungehört und unausgelegt bleiben. Wer sich bereits seit zwei Jahrzehnten in die zweite Perikopenreihe hineingepredigt hatte, konnte nun fortfahren wie bisher. Die zweite Reihe war nunmehr offiziös etabliert.

Abdruck der neuen Perikopenreihe im Gesangbuch 1874
1874 geriet nun endlich im alten Gesangbuch von 1866 ein Anhang mit dem Abdruck von beiden Perikopenjahrgängen in die Hände der Gottesdienstbesucher. Konsistorialrat Abt Hille informierte die Pfarrerschaft über die Veränderungen und Verzögerung und ordnete an, vom neuen Kirchenjahr 1874 über den zweiten Perikopenjahrgang zu predigen.
Damit war die 1848 begonnene Perikopenrevision nach 26 Jahren zum Abschluss gekommen.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk