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[Kirche von unten]

Die Geschichte der Revision der biblischen Lesungen (Perikopen)

im Gottesdienst der Braunschweigischen Landeskirche
in den Jahren 1852 - 1950

Die radikalen Reformbefürworter

So wie auf der rechten Seite die bestehende Perikopenordnung kompromisslos verteidigt und nicht gefragt wurde, ob diese nicht auch zur Kirchenfremdheit des Kirchenvolkes beigetragen habe, so deutlich artikulierte sich die Gegenseite für eine Abschaffung der traditionellen Perikopenreihe. Diese Gegensätze stießen in der Kirchengemeinde Seesen hart aufeinander.

Gegensätze an der Andreaskirche in Seesen
Pfarrer Theodor Schulz, 48 Jahre alt und seit 12 Jahren in Seesen tätig, hatte sich noch im November 1851 an die Arbeit gemacht und auf zehn Seiten begründet, warum er keine neue Perikopen wünschte, jedoch neben der alten Reihe für freie Textwahl plädierte.
Eine schroffe Gegenmeinung vertrat sein Superintendent Friedrich Wilhelm Schönemarck in Seesen an derselben Kirche St. Andreas tätig, 51 Jahre alt. Er wünschte die Beibehaltung nur einer zweiten Reihe und die alternativlose Abschaffung der klassischen, bisherigen Perikopenreihe. Diese stamme aus katholischer Zeit, schon Calvin habe sie vor 300 Jahren abgelehnt, Luther habe sie nur mittelmäßig und ungenügend befunden und nur für den Augenblick unverändert gelassen. Er kritisierte den fast kanonischen Charakter der klassischen Perikopenreihe und polemisierte gegen Doppelungen und gegen zu viele Wundergeschichten. Eine wirkliche Erbauung der Kirchenmitglieder könne nicht entstehen. Deswegen sollte nur die zweite Reihe eingeführt werden.

Vorzüge und Nachteile
Die anderen Landeskirchen hätten die herkömmliche Perikopenreihe "längst" abgeschafft, sie sei zur Gewohnheit geworden, fördere die Gleichgültigkeit und vermindere die innere Teilnahme, schrieb Carl Schultz, Pfarrer coll. in Lehre.
Genüsslich zählte Pfarrer Gustav Henne aus Gardessen die Vorzüge der neuen Reihe auf, nämlich jene Geschichten, die er bisher so vermisst hatte: die Geschichte vom verlorenen Sohn, das Gleichnis von der köstlichen Perle und vom unfruchtbaren Feigenbaum.

Eine sanftere Form der Zurücksetzung der klassischen Perikopen war die Forderung nach weiteren Lese- und Predigtreihen.
Pfarrer Carl Schüddekopf und Pfarrer Ludwig Sattler in Süpplingen plädierten wie in dem Weimarer Vorschlag für eine dritte und vierte Reihe.
Pfarrer Friedrich Nicolai hatte in seiner Kirchengemeinde Wenden bereits zweimal über die zweite Reihe gepredigt, was die Gemeinde mit Interesse aufgenommen habe. Er würde eine dritte Reihe durchaus begrüßen. Nebenbei plädierte er für die Abschaffung der Altarlesungen. "Ich möche überhaupt wünschen, dass die sonntäglichen Vorlesungen als etwas, wie ich glaube, ganz Nutzloses entfallen".
Pfarrer Georg Goldmann schlug dagegen eine fortlaufende Lesung am Altar aus dem Römerbrief vor.

Pfarrer Theodor Huhle hatte seit 1849 über die neuen Texte gepredigt, die in seiner Badenhausener Gemeinde "bei den nicht ganz ungebildeten Mitgliedern der hiesigen Gemeine" Anklang gefunden hätten. Er schlug eine dritte Reihe mit Texten aus der Apostelgeschichte vor. Die bisherige Reihe kannte nur vier Texte aus der Apostelgeschichte, darunter die zu Himmelfahrt und Pfingsten, die neue Reihe fügte vier Texte hinzu: die Fortsetzung der Pfingstgeschichte in Apg 23-47 und als Alternativer zum 2. Weihnachtstag die Steinigung des Stephanus aus Apg Kap. 6 und 7.

Superintendent Friedrich Pfeifer aus Querum empfahl neben den vorhandenen zwei Jahrgängen einen dritten Jahrgang und zwar als eine Evangelinereihe, der für die Trinitatiszeit nur Texte aus der Apostelgeschichte vorsah. Er zählte in seiner Arbeit sämtliche Bibelstellen nämlich von Kap. 4 bis Kap 28 der Apostelgeschichte vor. Für die Ostersonntage empfahl er Texte aus dem Johannesevangelium ( Joh. 15,17,16), auch sonst noch sechs Johannestexte.

Auch Ferdinand Faber, seit 22 Jahren in der Gemeinde Gehrenrode, entfaltete auf sieben Seiten drei Jahrgänge und machte dafür Textvorschläge, die Rücksicht auf die Arbeitsvorgänge auf dem Lande nahmen, nämlich 18 Texte aus dem Alten Testament für die Zeit vor der Aussaat und 17 Texte aus dem Alten Testament für die Zeit bis zum Erntefest. Welche liebevolle Verbindung des Pfarrers mit seiner arbeitenden Dorfbevölkerung.

Die Reformvorschläge gingen auch in Einzelheiten:
Das Evangelium am 12. S. n.Tr. enthalte eine von vielen Exgeten angezweifelte Stelle. Sie rufe im Prediger beim Verlesen "ein erdrückendes Gefühl" hervor, so Pfarrer Huhle Badenhausen.
Um einen Zusammenhang "des Sakramentes der Juden und der Christen" zu verdeutlichen, sollten die Texte von der Beschneidung Jesu am Neujahrstag und der der Taufe Jesu einen Sonntag später in der zeitlichen Reihenfolge erhalten bleiben.
Pfarrer Bieling, Ingeleben, wünschte sich mehr Texte zu Ehe, Eheschließung und christliches Familienleben.
Die Marienfeste sollten ganz wegfallen, er könne die Texte seiner Gemeinde in Völkenrode und den darunter befindlichen Jugendlichen nicht ohne inneres Erröten vortragen, schrieb Pfarrer Dr. Bente.
Auch Pfarrer Hessenmüller nannte die Texte zu den Marienfeste "doch wirklich anstößig." Sie wörtlich vorzulesen sei für den Prediger "eine Pein."
Aus der Predigtpraxis in seiner 30jährigen Amtszeit nannte Pfarrer Jeremias Hestner in Lesse solche "Anstößigkeiten" städtische Verbildungen. "Auf dem Lande wenigstens, erregen manche Ausdrücke durchaus keinen Anstoß, da die Landbewohner noch keineswegs so ästhetisch verbildet sind wie viele Städter, und es ist immer bedenklich, Worte zu umgehen, die nun einmal in der Bibel sich befinden und dadurch "sanctionirt" sind."
Pfarrer Ernst Teichmann 62 Jahre, seit 1837 in Ahlshausen, bat darum, mit den Texten mehr Rücksicht auf die Ernte zu nehmen. Das Speisungswunder aus Joh Kap. 6,1-15 sollte vom 15. Sonntag n.Tr. auf den 7. oder 8, Sonntag n.?Tr. vorgelegt werden "An diesem Sonntag kurz vor der Ernte teilen manche Hausväter die Sorge "Wo kaufen wir Brot?" Spiegelt sich in dieser Äußerung die Hungersnot des Jahres 1848 wider?

Viele Pfarrer unter den Befürwortern der neuen Reihe verbanden ihr Votum mit persönlichen Erlebnissen:
"Ich habe die erfreuliche Erfahrung gemacht," berichtete Pfarrer Ludwig Steinmann aus seiner Kirchengemeinde Fümmelse, "dass in meiner Meditation gleichsam eine neue Aera begonnen hat, besonders in noch treuerer Textbenutzung". "Wie sehr auch sonst wohl Landgemeinden der Einführung der Neuen widerstreben, so habe ich davon in meiner Parochie...im Gegentheil gefunden, dass sie Anklang fand."

Pfarrer Carl Jenner aus Herrhausen gestand, "wie weit schwieriger es ist,, über einen unbekannten Text zu predigen, als über einen Text, von welchem jedes Wort in dem Bewusstsein der Gemeinde lebt und in eines jeglichen Erinnerung wieder klingt."
August Schröter, der schon knapp 50 Jahre in seiner Gemeinde in Oelsburg amtierte, mußte sich gegen Kritik aus den nahe benachbarten Hannöverschen Gemeinden wehren: "Ihr werdet wohl auch bald den alten Glauben verwerfen, wie ihr schon die alten Rechte verworfen habt", zitierte er die Warnung. Er habe am letzten Sonntag im Kirchenjahr der Gemeinde angekündigt, dass er in Zukunft über eine neue Reihe predigen werde. Dazu hielt er am Nachmittag einen einführenden Vortrag. Am nächsten Sonntag sei die Predigt "mit Beifall" aufgenommen. Er wurde gefragt, wo denn die neuen Evangelien zu haben seien, damit man sie auch mitlesen könne.


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Impressum, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Perikopen/, Stand: Dezember 2016, dk