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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Die Pogromnacht im Land Braunschweig

von Dietrich Kuessner

(Download des gesamten Textes als pdf hier)


2. Die Täter

Über die Initialzündung zum Judenpogrom im November 1938 gibt es in der gegenwärtigen Diskussion zwei Versionen. Hermann Graml bezeichnet die Rede von Goebbels am 9. November 1938 beim Kameradschaftsabend im Münchner Alten Rathaussaal um 22 Uhr vor den SA- und Parteiführern als das aus-lösende Moment. Hitler sei um 21 Uhr durch einen Boten der Tod des Botschaftssekretärs v. Rath in Paris überbracht worden und er habe sich nach einem kurzen, leisen Gespräch mit Goebbels in seine Wohnung zurückgezogen. Goebbels hält eine wüste antisemitische Rede. Danach beauftragen die Gau- und Gaupropagandaleiter ihre lokalen Dienststellen per Telefon mit der Durchführung des Judenpogroms. — Rita Thalmann dagegen sieht die Wende in der Judenpolitik bereits Anfang des Jahres 1938, als Hitler sein Kabinett von deutschnationalen Resten, nämlich v. Neurath, dem Außenminister, Schacht, dem Wirtschaftsminister und v. Blomberg, dem Kriegsminister, säubert, und jetzt erst alle Hebel zur Macht in der Hand hält. Zur weiteren „Entjudung” des Deutschen Reiches wird den jüdischen Synagogen die Körperschaft öffentlichen Rechts entzogen, die Polizei stellt Listen von den in ihren Vierteln wohnenden Juden auf, nach dem deutschen Überfall auf Österreich erleben die österreichischen Juden im März 1938 und den folgenden Monaten eine grausame Verfolgung, die Generalprobe für den Pogrom an den deutschen Juden. Das Ausland erweckt den Eindruck, daß es Maßnahmen gegen die Juden als eine innenpolitische Aktion ansehen werde, in die es sich nicht störend einmischen werde. Das Blatt der SS „Das Schwarze Korps” schließlich wartet mit Ungeduld auf einen Schlag gegen die Juden. Ein längst vorbereiteter Plan wird am 9. November endlich in Gang gesetzt — in Hitlers Augen, würde ich hinzufügen, vermutlich viel zu spät. Denn Hitler wollte schon 1938 in den Krieg eintreten, und dann lag es nahe, die Juden als inneren Feind vorher „auszuschalten”. — Der Unterschied zwischen beiden Versionen ist deutlich: Einmal sind SA- und NSDAP-Gruppen die eigentlichen Täter des Pogrom, angestoßen durch die Rede Goebbels. Die Aktion kommt überraschend. Die SS spielt eine untergeordnete Rolle. Das andere Mal wird der von langer Hand geplante Pogrom unter wesentlicher Vorbereitung der SS endlich in die Tat umgesetzt.

Für den Beginn der Pogromnacht im Braunschweiger Land gibt es einen Zeugen, der es wissen muß, weil er zum engeren Täterkreis gehört. Es ist der 32jährige Wolfenbüttler Paul Szustak, seit 1928 Parteimitglied, Gelegenheitsarbeiter, seit 1931 bei der SS in Braunschweig, wo er am Petritorwall 18 das Gebäude des Stabes sichert, er bekommt dafür Verpflegung und 50 Pfennig pro Tag. Er wird Vertrauter des SS-Obergruppenführers Friedrich Jeckeln und ist ab 1934 Kriminal-angestellter bei der Gestapo. Szustak verwaltet bis Ende 1937 das Dezernat für kirchliche Angelegenheiten und ist seit dem 1. Januar 1938 als SS-Untersturmführer hauptamtlich für 250,— RM beim Stab des SS-Oberabschnittes Mitte im ehemaligen Landtagsgebäude tätig, wo er ein Dienstzimmer hat. Am 26. Juli 1948 berichtet Paul Szustak folgendermaßen: „Am Tage vor der Aktion fand eine Besprechung mit dem damaligen SS-Obergruppenführer Jeckeln und mir in dem Dienstgebäude des SS-Oberabschnittes Mitte in meinem Dienstzimmer statt. Dieser Unterhaltung hat keine 3. Person beigewohnt. M. E. fand die Unterhaltung zwischen uns beiden in den Vormittagsstunden statt ... Ich meine mich nicht zu irren, daß der Auftrag zur Festnahme der Juden Jeckein gegeben hat.”

Demnach fand am 9. November vormittags — also lange vor der Goebbelsrede — ein Gespräch in der Braunschweiger SS-Führung u. a. zwischen Jeckeln und Szustak statt, bei dem Einzelheiten der kommenden Nacht besprochen wurden. Szustak übernimmt den Auftrag, die Synagoge in Peine anzustecken, die wenigen Juden festzunehmen und jeden Widerstand sofort rigoros zu brechen. Szustak erledigt den Auftrag mit einigen SS-Männern aus Braunschweig, zündet eigenhändig die Peiner Synagoge an und erschießt den einzigen unerwünschten Augenzeugen dafür, den erst 16 Jahre alten Hans Marburger. Jeckeln selber fährt am Nachmittag des 9. November nach Hannover, leitet dort den SS-Einsatz bei der Brandstiftung der Hannoveraner Synagoge und fährt in der Nacht wieder nach Braunschweig zurück. Die Hannoveraner Vorgänge und die tragende Rolle von Jeckeln und der SS sind bereits anläßlich der 40. Wiederkehr der Reichspogromnacht Gegenstand einer gründlichen Ausstellung im Historischen Museum in Hannover mit einem ausgezeichneten Katalog 1978 gewesen.

Noch vor Mitternacht des 9./10. November geht bei allen Gestapostellen und auch bei der Braunschweiger ein Fernschreiben des Chefs der Berliner Gestapo-Zentrale, H. Müller, ein, in dem es u. a. heißt: „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden ... Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20.000 bis 30.000 Juden im Reich ... Zu den Gesamtaktionen können herangezogen werden Verfügungsgruppen der SS sowie allgemeine SS ... Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, daß Plünderungen ... unterbunden werden können.” Für die Polizei ist im Braunschweiger Land Jeckeln zuständig. Er leitet das Referat III des Br. Innenministeriums. Bei ihm laufen die Fäden nicht nur, der SS sondern auch der Polizei und Gestapo zusammen. Dieses Fernschreiben um Mitternacht kommt für Jeckeln schon zu spät. In Hannover hat er bereits auf eigene Faust gehandelt. Aber ein weiteres Fernschreiben, diesmal von Heydrich, 1 1/2 Stunden später um halb zwei Uhr nachts ordnet die sofortige Koordinierung der Aktion mit den jeweiligen Kreisleitungen an. Bei einer Besprechung, zu der auch die Ordnungspolizei beizuziehen sei, solle die Zerstörung von jüdischen Geschäften vereinbart werden. Vor der Zerstörung der Synagogen sei historisch wertvolles Material sicherzustellen. Es seien so viele Juden zu verhaften, als in den vorhandenen Hafträumen unter-gebracht werden können.

Die Umsetzung dieser Anweisung auf Landesebene ist die Aufgabe von Jeckelns Stellvertreter im Referat III des Braunschweigischen Innenministeriums, der Polizeiabteilung, Dr. Diederichs. Dr. jur. Otto Diederichs, Jahrgang 1904 ist seit April 1937 Oberregierungsrat und seit 1934, also mit 30 Jahren, stellvertretender Leiter der politischen Polizei im Land Braunschweig, seit 1. November 1933 freiwillig Mitglied der SS. Er bearbeitet für Ministerpräsident Klagges „alle Angelegenheiten der politischen Polizei”. In der Pogromnacht hält er sich zunächst im früheren Landtagsgebäude, also im Oberabschnitt der SS, auf und erfährt von der ,Judenaktion" und von der Mitwirkung der SS. Er ordnet nach Absprache mit Klagges an, daß vor jedes Geschäft mehrere Schupobeamte postiert werden sollen. Auf diese Weise erkennen die herumfahrenden Parteiterroristen, wo sie ihre „Arbeit” zu leisten haben. Später begründet Diederichs seine Maßnahme, „damit den Juden persönlich nichts geschehe”, und noch später will er sich erinnern, daß er doch nicht in das Landtagsgebäude gegangen sei.

Diederichs ist in dieser Nacht im Staatsministerium der Verbindungsmann zu den Kreisbehörden. An einen Anruf aus dem Staatsministerium in jener Nacht erinnert sich der Kreisdirektor und Kreisleiter Knop in Holzminden. Es ist anzunehmen, daß Diederichs vom Staatsministerium aus die Kreisdirektoren über die notwendige zurückhaltende Rolle der Polizei bei dieser „Judenaktion” instruiert hat. Wie diese Instruktion näher aus-gesehen hat, erfahren wir von der Kreisdirektion Wolfenbüttel. Dort erhält Dr. Sartorius am 10. November eine geheime Anordnung aus dem Staatsministerium, die er u. a. dem 27jährigen Assessor Ferdinand Vollmer bei der Stadt Wolfenbüttel weitergibt. Sie enthält die polizeilichen Richtlinien, nach denen die „Demonstrationen und Aktionen” zu überwachen seien.

  1. "Die Befehlsstellen der Ordnungspolizei setzen sich sofort ins Benehmen mit den zuständigen Sicherheitsorganen und in Verständigung mit den zuständigen Polizeiverwaltungsstellen mit den Parteidienststellen in Verbindung, um genau darüber unterrichtet zu sein, wo solche Demonstrationen und Aktionen stattfinden.
  2. Die Ordnungspolizei begleitet solche Demonstrationen und Aktionen nur mit schwachen Kräften in Zivil, um evtl. Plünderungen zu verhindern. Uniformierte Ordnungspolizei wird nur im äußersten Notfall eingesetzt. Verhaftungen nimmt nur die Sicherheitspolizei vor.
  3. Die Polizeidienststellen haben sich sofort mit den Parteidienststellen in Verbindung zu setzen und dafür Sorge zu tragen, daß Plünderungen unter allen Umständen unterbleiben.
  4. Zerstörte offene Läden, Wohnungen, Synagogen und Geschäfte von Juden sind zu versiegeln, zu bewachen, vor Plünderungen zu schützen.
  5. Polizeiliche Verstärkungen sind, soweit notwendig, von der allgemeinen und aktiven SS gern. Befehl des Reichsführers der SS anzufordern.
  6. Größere Demonstrationen und Aktionen sind sofort an mich zu melden.
    geschlossen gez. Vollmer, Assessor"

Dieser wichtige Vermerk zeigt die enge Kooperation von Jeckeln und Diederichs, von Polizei und SS, von Polizeiverwaltungsstellen und Parteidienststellen, zeigt die geplante Tarnung der Aktion durch Vermeidung von Uniformen, und wie die Polizei durch Zurückhaltung für die Aktion der SS den nötigen Freiraum schaffen soll, damit sie sich nicht gegenseitig in die Quere kommen.

Der Apparat funktioniert. Vollmer meldet an die Kreisdirektion z. Hd. von Regierungsrat Seeliger von der abgebrannten Synagoge in Wolfenbüttel und daß der Zugang verschlossen worden sei, von der Versiegelung der Wohnung des Viehhändlers Nathan Schloss, Halchterstr. 6 und daß die übrigen Wohnungen nicht versiegelt worden seien, weil dort noch andere Leute wohnen und von der Verhaftung 13 männlicher Juden. „Sie befinden sich bei der Gestapo in Braunschweig”.

Der Täterkreis hat verschiedene Ebenen: die Befehlsebene im alten Landtagsgebäude, die Befehlsempfänger auf der mittleren, der Kreisebene und 3. die Vollzugsebene. Zur Durchführung der weit verzweigten Aktion stehen Jeckeln die jeweils örtlichen SS-Verbände und auch die Lehrgangsteilnehmer der SS-Junkerschule im ehemaligen Braunschweiger Residenzschloß zur Verfügung. Ministerpräsident Klagges hatte mit hohem finanziellen Aufwand in nur 4 Monaten im Braunschweiger Schloß 8 Hörsäle, einen Vortragssaal, Verwaltungs-, Eß- und Wohnräume einbauen lassen. Im Juli 1935 war die Junkerschule von Himmler eröffnet worden. Im Schloß findet seit dem 1.4.1938 der 4. Lehrgang statt. Daran nehmen in der Regel ca. 250 SS-Junkeranwärter teil. Jeckeln hatte den Einsatz ursprünglich so organisiert, daß die SS-Männer nicht in Uniform auftreten, sondern sich mit Zivil tarnen sollen. So hatte man schon im März 1933 zusammen mit Friedrich Alpers einige jüdische Geschäfte in der Braunschweiger Innenstadt gestürmt und nachher als Täter die Kommunisten angeprangert. Außerdem sollen möglichst jeweils ortsfremde Mannschaften eingesetzt werden, also die Wolfenbüttler in Peine, die Gandersheimer SS in Seesen, Braunschweiger in Bad Harzburg. Überwiegend jedoch tragen die SS-Mannschaften Uniform, denn am 9. November abends finden in allen größeren Orten des Landes die Vereidigungen der politischen Leiter und auch von SS-Mannschaften statt.

Im Laufe des Abends geht hier und da die Parole um: „Zusammenbleiben — es gibt eine Judenaktion”.

Die Befehlsstränge aus der Zentrale erreichen auch die kleinsten Orte, sogar dort, wo die Feier längst vorbei ist.

Zum Beispiel: Der stellvertretende Kreisgeschäftsführer August Laue ruft um 3 Uhr nachts von Holzminden aus Theodor Kreibaum im Dorf Hehlen an. Kreibaum ist Bürgermeister und Ortsgruppenleiter dieses Dörfchens mit ca. 1000 Einwohnern im westlichen Zipfel des Landes Braunschweig. Kreibaum solle die Juden des Ortes festnehmen und innerhalb einer Stunde nach Holzminden die Vollzugsmeldung durchgeben. Kreibaum, der eine Sattlerwerkstatt führt, weckt seinen Gesellen Anton und schickt ihn zu einigen SA-Leuten. Kreibaum selber ruft zwischen 3 und 4 Uhr den anderen Sattlermeister am Ort, Friedrich Helmer, an, der auch Rottenführer der SA ist und beauftragt ihn, den stellvertretenden Bürgermeister und Stellmachermeister Karl Reese und zwei andere zu wecken. Sie sollten zu ihm kommen. Vor und in der Wohnung von Kreibaum treffen sich nachts 9 Leute, der Sattlermeister, der Stellmachermeister, der Forstaufseher, der Eisenbahnassistent, der kaufm. Angestellte, der Gärtner, der Hauptlehrer und ein Arbeiter. Sie sind alle aus Hehlen, kennen sich gut und auch die jüdische Familie Bach. Sie repräsentieren den gutsituierten Mittel- und Bürgerstand, bekannt für gediegene handwerkliche Arbeit. Allerdings sind einige auch dafür bekannt, daß sie stramm zur Partei stehen. Lehrer Stapel gibt einen streng auf Parteilinie liegenden Schulunterricht. Bürgermeister Kreibaum ist durch seine schroffe antisemitische Haltung der Polizei aufgefallen. Alle 9 sind meist im mittleren Alter, Kreibaum der Rädelsführer ist 43 Jahre, die andern in den 30ern. Sie gehen gemeinsam los, um die beiden jüdischen Familien mit ihren Angestellten zu verhaften und die Geschäfte zu stürmen. 10 m vor dem Haus wird der kaufm. Angestellte Fischer postiert und soll verhindern, daß die Bachs weglaufen. Vor dem Haus angekommen, ruft Kreibaum, Bachs sollten aufmachen. Frau Bach öffnet auch das Fenster, ruft aber die Polizei um Hilfe, und schließt es rasch wieder. Sie machen natürlich nicht auf. Der Forstaufseher gibt mit seinem mitgebrachten Jagdgewehr einen Schreckschuß auf das Fenster ab. Der Versuch mit einer Spitzhacke die Tür aufzubrechen, scheitert. Da schlägt Kreibaum mit einem Brett das Fenster ein und steigt mit anderen durch die Auslagen des Ladens in die Wohnung. Der Gärtner Hoffmeister wird als Wache vor der Ladentür eingeteilt.

Dann erfolgt die widerrechtliche Verhaftung und Festsetzung im Feuerwehrhaus, wie ich das oben schon geschildert habe, der Abtransport durch die SS nach Holzminden und von dort nach Wolfenbüttel und Braunschweig.

In Braunschweig übernimmt die Gestapo die Weiterleitung der Transporte. Der bei der Braunschweiger Gestapo beschäftigte Beamte Hans Scharfe berichtet davon aus eigener Erfahrung: „Bei der Judenaktion im Jahre 1938 war ich insofern als Beamter kommandiert, als ich die in Braunschweig festgenommenen Juden, die auf der Stapo-Stelle gesammelt und registriert worden waren, mit anderen Beamten nach Buchenwald bringen mußte. Es fuhr ein Transportzug von Hannover über Braunschweig und in diesem Zug, der von Juden besetzt war, wurden auch die in Braunschweig festgenommenen Juden transportiert. Ich meine, die Juden hatten Handgepäck bei sich. Die Juden waren natürlich sehr bedrückt. Daß sie geschlagen worden waren, habe ich nicht festgestellt. Dieser Transport war für mich ein unangenehmer Auftrag. Ich hatte Mitgefühl, zumal unter den Juden ein Arzt war, den ich kannte und der meine Schwiegermutter behandelt hatte. In Weimar auf dem Bahnhof haben wir die Juden an ein Kommando von Buchenwald abgeliefert. Später haben wir uns bei der Lagerverwaltung Buchenwald die Ablieferung der Juden bescheinigen lassen. Ins Lager sind wir nicht gekommen, obwohl wir den Wunsch hatten, das Lager zu besichtigen.”

Zum Teil 3: Die Zerstörung der Synagogen




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