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[Kirche von Unten]

Alternatives aus der/ für die
Braunschweiger Landeskirche

Die Pogromnacht im Land Braunschweig

von Dietrich Kuessner

(Download des gesamten Textes als pdf hier)


4. Vernichtung durch Verwaltung

Zum Terror der Pogromnacht gehört die Ausplünderung der jüdischen Mitbürger. Dabei bedienen sich zunächst ungeniert Täter und im reichlichen Maße auch die Zuschauer. Viele sind auf den Beinen. Gerade in den Dörfern. Die Männer sind nachts geweckt worden, nun wollen die Frauen und Kinder wissen, was los ist, und stauen sich im Schutz der Dunkelheit vor den zerstörten, aber erleuchteten Geschäften. Der SS-Mann Wilhelm Jünke wird am 10. November von Bodenwerder ins nahe Dörfchen Hehlen bestellt. Jünke hat das Dorf noch nicht erreicht, da kommen ihm die Bewohner schon mit Paketen und Stoffballen aus dem geplünderten Textilgeschäft Bach entgegen. Man deckt sich ein. In Holzminden fährt am 10. November nachmittags die Frauenschaft ungeniert zu den Geschäften und holt heraus, was noch übrig ist. Vor dem Schuhgeschäft Lichtenstein in Stadtoldendorf bildet sich eine Menschenkette, und man nimmt, was da ist, lädt es auf Autos und fährt es in die Kreisstadt zur Sammelstelle der ns. Volkswohlfahrt (NSV).

Das wilde Plündern zerstört jedoch den Schein des Rechts, den sich die Regierenden nicht nehmen lassen wollen. Deshalb treten bereits am 10. November nun der Bürgermeister, der Ortsgruppenleiter, Büro- und Wirtschaftsleiter in Aktion und erfassen wochenlang säuberlich den vorhandenen Besitz. In Stadtoldendorf schwärmen sogar einige Parteigenossen aus, und holen aus den Häusern ihrer Kameraden, was diese sich angeeignet haben. Nun werden die Beutestücke sorgfältig taxiert und zum Weiterverkauf angeboten. Noch 10 Jahre später, 1948, erinnert sich der Kaufmann Hermann Christ, wie er die im Sturmbannbüro der Gandersheimer SS eingelagerten Sachen mit zwei anderen Herren taxiert, Waren im taxierten Wert von 1000,— RM zum Weiterverkauf annimmt und an die „Gestapokasse in Braunschweig”, bezahlt. Vom Wolfenbütteler Finanzamt existiert eine mehrseitige Liste, in der von der Feile bis zum Eierlöffel alles zum Weiterverkauf verzeichnet ist, und für Ausverkaufspreise geht das Kleinmaterial laufend weg. Bei Textilien gibt es später Beanstandungen und Rangelei wegen der Höhe des Preises, weil die Sachen im Dreck gelegen hätten und nicht mehr einwandfrei seien.

Für die Juden ist es nichts weiter als eine Ausplünderung auf dem Verwaltungswege. Dazu treffen sich am 12. Dezember 1938 im Staatsministerium unter dem Vorsitz des Ref. J VI die Kreisdirektoren des Landes, außerdem Vertreter der Industrie- und Handelskammer und der Partei, um über die weitere Verwendung des jüdischen Besitzes zu verhandeln. Die Juden hatten ihren Besitz bereits im Frühjahr 1938 anmelden müssen. In der Stadt Braunschweig war von 110 Juden ein Vermögen von 5,5 Millionen RM angemeldet worden, im Lande Braunschweig von 106 Juden ein Vermögen von ca. 5,1 Millionen RM. Bei der Besprechung geht es um die Verteilung der Vermögensmasse, denn daß den Juden der Besitz zu einem wesentlich niedrigeren Preis vollständig genommen werden soll, darüber herrscht in der Runde Einvernehmen.

Zahlreiche Geschäftsleute erwerben nun zu ganz unter-schiedlichen Bedingungen Grundstücke und Geschäfte ehemaliger jüdischer Inhaber. Die Geschäfte werden „arisiert” sagt man, was man der Ware aber nicht ansieht.

Die Stadt Braunschweig erwirbt von den Juden Bremer, Lipmann, Schmandt und Grünewald die Grundstücke Friedrich Wilhelmstr. 4, Wilhelmitorwall 35, Am Kohlmarkt, Wabestraße 13 und Damm 1 im Wert von fast einer halben Million RM. Für den Oberbürgermeister ersteht die Stadt von Cohn das Grundstück Wilhelm Bodestr. 10 im Wert von 39.000,—RM; für den Finanzminister ersteht das Land das Grundstück Am Theaterwall 16 im Wert von 66.000 RM. Hermann Vick von Else Mangold das Grundstück Friedrich-Wilhelm-Str. 36 im Wert von 118.000,— RM, Cloppenburg von Felix Hamburger das Grundstück Damm 40 ohne Wertangabe bereits vor 1938, Carl Langerfeld von Sophie Cohn das Grundstück Sack 21/22 im Wert von 100.600,— RM, Flebbe das Grundstück Hohe Torwall 9 im Wert von 53.000,— RM, Richard Borek will das Grundstück Schützenstr. 37 im Wert von 154.500,— RM erwerben, Carlson erwirbt von Frank das Grundstück Hutfiltern 4 im Wert von 55.000,— RM.

Auf dieser Arisierungsliste findet sich manchmal der Vermerk „versagt”; dann haben Partei, Stadt oder Staat von ihrem Einspruchsrecht Gebrauch gemacht, meistens um eigene Interessen durchzusetzen.

Die drei großen und beliebten Geschäfte in Schöningen von Lauterstein, Probst und Hirsch im Gesamtwert von 150.000,—RM erwerben Malermeister Riehl, der Kaufmann August Vespermann und die Gebr. Dobberkau.

In Wolfenbüttel erwirbt der Kaufmann Willi Sparmann von Hermann Daniel das Grundstück Lange Herzogstraße 35 im Wert von 35.000,— RM, den Besitz von Max Pohly in der Bahnhofsstraße und Leibnizstraße teilen sich der Wolfenbütteler Kreisgemeindeverband und Karl Lorenz; das berühmte Hotel „Ernst-August” in Bad Harzburg im Wert von 88.000 RM erwirbt von Ohrenstein Albert Heroldt; er hat aber kein Glück, denn der Krieg ist dem Hotelgeschäft nicht günstig, und die Investitionen kommen nicht wieder ein. Das Grundstück der Synagoge von Wolfenbüttel in der Lessingstr. erwirbt die Baufirma Friedrich Schwarze.

Alle genannten Eigentümer und Erwerber sind auf einer 1939 aufgestellten Liste verzeichnet. Die Kaufsumme wird darin nicht genannt und auch nicht, wo diese geblieben ist. Ab November 1938 kommt sie meist auf Sperrkonten, über die die jüdischen Verkäufer nicht verfügen. Es sind alles Firmen, die, wie die Braunschweiger Zeitung am 2. November 1988 von einer berichtet, die Hand „am Puls der Zeit” haben und nun unverfroren die Geschäftseröffnung vor 50 Jahren annoncieren, in diesem Fall das Schmuck- und Silberwarengeschäft Bungenstock.

Aber nicht erst der Terror in der Pogromnacht durch Partei und Staat führte zu den Zwangsverkäufen, sondern ebenso der Geschäftsboykott in den vorhergehenden Jahren, an dem sich die ganze Braunschweiger Bevölkerung in Städten und auf dem Land beteiligte. „Wir mußten verkaufen”, erzählt mir Frau Friehe, eine Mitarbeiterin der Firma Gross in Bad Harzburg. „Wir waren durch den Boykott regelrecht pleite” und im gegenüberliegenden Haus saßen Schreiberlinge der Geschäftskonkurrenz und notierten sich die noch wenigen Einkäufer. Gegenüber dem Geschäft des Schöninger Juden Lauterstein „wird ein braunes Haus” eingerichtet. Vor Ostern, Pfingsten, Martini und Weihnachten wurden Wachtposten aufgestellt. „Die Wachtposten haben die Kunden derart belästigt, daß sich keiner wagte, während der Bewachung mein Geschäft zu betreten”, erinnert sich Abraham Lauterstein. Lehrer auf dem Lande weisen die schulentlassenen Kinder darauf hin, anläßlich der Konfirmation nicht bei Juden zu kaufen. „In den von der Partei einberufenen Versammlungen werde in Schöningen dar-auf hingewiesen, daß, wer bei Juden kauft, kommt unter den an der Ecke Niedernstraße/Bismarckstraße aufgestellten Galgen”, also an den Pranger zur Abschreckung.

Wer wirklich noch bei Juden kauft, wird vom Nachrichtendienst der Partei erfaßt, der monatlich einen Tätigkeitsbericht über die „Staatsfeinde” erstellt, und zwar unter Punkt 8) die ,;Juden". Schon im April 1934 heißt es im Tätigkeitsbericht: „Es ist immer noch festzustellen, daß besonders die Arbeiterkreise in jüdischen Geschäften kaufen.” Im Mai 1934: „Es wird Klage geführt, daß Parteigenossen noch bei Juden kaufen. Ein Parteigenosse, der in einem hiesigen jüdischen Geschäft kaufte, werde von uns dem Kreisgericht gemeldet.” Im Juni 1934: „Die Ortsgruppe Veltenhof meldet, daß der dortige Ortsbauernführer mit jüdischen Viehhändlern handelt.” Und zur Unterstützung druckt die Partei 1935/36 eine Boykottliste in der Aufmachung eines Stürmerheftchens, die die Namen und Adressen von 61 verschiedenartigen Geschäften, sieben Ärzten und vier Rechtsanwälten in Braunschweig, enthält; von elf Geschäftsleuten in Wolfenbüttel und einem praktizierenden Arzt, drei Geschäften in Helmstedt. Die Boykottliste dieser jüdischen Bewohner ist mit dem Zitat geschmückt: „Die Juden sind die gefährlichsten, denn sie schädigen den Handel der Christen und sind für den Staat nicht zu gebrauchen (Friedrich der Große)". Und aus Hitlers „Mein Kampf”: „So glaube ich heute, im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln. Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.”

Freiwilliger und erpreßter Boykott durch weite Bevölkerungsteile waren die Voraussetzung für die Vernichtung der jüdischen Geschäftswelt durch Verwaltung.

Zum Teil 5: Die Rückkehr und einige Nachkriegsprozesse




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Impressum und Datenschutzerklärung  http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/gesch/Pogromnacht/Pogromnacht4.htm, Stand: August 2006, dk